Tag Archives: Rostock

justament.de, 14.7.2025: Rock gegen rechts am Ostseestrand

Tocotronic live auf der “Warnemünder Woche”

Thomas Claer

Diese Vorrede muss jetzt leider sein: In der Rostocker Straßenbahn unterhalten sich letzte Woche zwei junge Damen, vermutlich Studentinnen, ausführlich über ihre Allergien und Laktoseintoleranzen. Und dann erzählt die eine auch noch, dass sie ärgerlicherweise vor kurzem ihr Armband verloren habe. Das hätte sie sich mal gemeinsam mit ihrer Freundin gekauft, mit der Aufschrift “Gegen rechts”. Immer wenn sie ihre Freundin in der kleinen Stadt, in der sie wohnt, besucht habe, dann hätten sie sich beide sehr gefürchtet, wegen ihrer Armbänder eine Faust ins Gesicht zu bekommen. Aber wenigstens müsse sie nun, da sie das Armband verloren habe, davor keine Angst mehr haben… Es sind also offensichtlich nicht nur Zuschreibungen von westdeutscher Seite: Im kleinstädtischen und ländlichen  Raum herrscht in weiten Teilen Ostdeutschlands ein Klima der Intoleranz und Einschüchterung gegenüber Andersdenkenden, und es besteht dort mittlerweile eine massive kulturelle Dominanz des militanten Rechtsextremismus.

Umso erfreulicher und ermutigender ist es, dass es natürlich auch das andere Gesicht des Ostens gibt, das sich etwa am vergangenen Donnerstag während der “Warnemünder Woche” vor romantischer abendlicher Sonnenuntergangskulisse am Ostseestrand gezeigt hat. Die zu zwei Dritteln in Ehren ergrauten Berufsjugendlichen der Ex-Hamburger-Schule-Band Tocotronic ließen es bei freiem Eintritt so richtig krachen und versorgten ihre zahlreich erschienenen Fans neben zahlreichen Hits aus 30 Jahren Bandgeschichte auch mit einschlägigen politischen Botschaften. Songs wie “Denn sie wissen, was sie tun” und “Aber hier leben, nein danke” verfehlten ihre Wirkung beim lokalen Publikum nicht. Besonders enthusiastisch wurden aber selbstredend die alten Klassiker der Band wie “Digital ist besser”, “Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen” oder “Let there be Rock” gefeiert. Den berührenden Song “Ich tauche auf” präsentierte Dir v. Lowtzow fast im Alleingang auf der Akustikgitarre. Erst nach mehreren Zugaben und über anderthalb Stunden kam der Schlusspunkt mit dem Lied “Freiburg”, der Hymne aller misanthropischen Individualisten, bei dem aus tausenden Kehlen die Verse “Ich bin alleine und ich weiß es / Und ich find’ es sogar cool” ertönten. Eins ist sicher: Die Neunzigerjahre werden niemals enden.

justament.de, 17.2.2025: Der grollende Osten (2)

“Lütten Klein” von Steffen Mau ist eins der wichtigsten Bücher über die Transformation in der Ex-DDR

Thomas Claer

Wer das jüngst an dieser Stelle hinreichend gewürdigte “Ungleich vereint” gelesen hat, ist selbstverständlich auch neugierig auf Steffen Maus bereits 2019 erschienenes Vorgängerbuch “Lütten Klein”. Dieses ebenfalls vieldiskutierte Werk nimmt den großen Umbruch im Osten am Beispiel des titelgebenden Rostocker Plattenbauviertels unter die Lupe, in welchem der Verfasser zu DDR-Zeiten aufgewachsen ist. Und “Lütten Klein” ist noch weitaus detaillierter und tiefschürfender als sein Nachfolger, vor allem aber – obwohl schon vor sechs Jahren geschrieben – gerade wieder bestürzend aktuell. Seinerzeit war noch nicht abzusehen, dass die weitgehend rechtsextreme AfD in mehreren östlichen Bundesländern zur stärksten oder beinahe stärksten politischen Kraft werden würde und diese Länder – auch durch die Erfolge des rechtslinkspopulistischen BSW – an den Rand der Unregierbarkeit gebracht werden könnten. Wer aber die Analysen von Steffen Mau studiert hat, den können diese verhängnisvollen politischen Entwicklungen keineswegs überraschen…

Aus westlicher Sicht sind die Bewohner des Ostens vor allem undankbar. Unzählige Millionen aus sauer verdienten westlichen Steuergeldern wurden in den Osten gepumpt, um dort vernünftige Strukturen aufzubauen und die nicht wettbewerbsfähigen Neubürger zu alimentieren. So weich wie in den neuen Bundesländern in die nun gesamtdeutschen Sozialsysteme ist wohl niemand im früheren Ostblock gefallen. Doch statt dafür auch nur einmal danke zu sagen, maulen und nörgeln diese Ossis in einem fort, beschweren sich über die Arroganz der “Besserwessis” und wählen nun sogar extremistische Parteien.

Aus östlicher Sicht betrachtet ergibt sich jedoch ein vollkommen anderes Bild. Eine ganze Generation wurde aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen, von heute auf morgen in die Arbeitslosigkeit entlassen und zu Bürgern zweiter Klasse im wiedervereinigten Land degradiert. Alles, was diese Menschen in ihrem bisherigen Leben gelernt und geleistet hatten, war nun nicht mehr gefragt. Nur ein kleiner Teil der Ostdeutschen, der mobil und flexibel war, konnte sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren. Viele aber wurden nun nicht mehr gebraucht und in zumeist unsinnigen Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen geparkt und ruhiggestellt, schließlich in den Vorruhestand abgeschoben. Für die Betreffenden, in deren Lebensmittelpunkt bis dahin ihre Berufstätigkeit gestanden hatte, war damit eine Welt zusammengebrochen und ihr Leben zerstört.

Natürlich musste damals angesichts der völlig überraschenden deutschen Wiedervereinigung alles ganz schnell gehen. Wichtige Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft wurden daher nach der Wende im Osten fast ausschließlich mit Westimporten neu besetzt. Dies war zweifellos viel effektiver, als erst noch umständlich Einheimische für die jeweiligen Jobs auszubilden. Im Eifer des Gefechts hatte allerdings niemand daran gedacht, was es mit den Menschen einer Region macht, wenn dort plötzlich nur noch Zugewanderte den Ton angeben, wenn beinahe sämliche Führungspositionen von Zugezogenen bekleidet und die Alteingesessenen auf die Straße gesetzt werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Osten vor der Wende eine reine Angestellten-Gesellschaft gewesen ist. Freies Unternehmertum gab es nur vereinzelt im Kleinstsegment. Fast niemand verfügte über größere Ersparnisse oder gar über Immobilien-Eigentum. (Und falls doch, dann waren es zumeist Häuser in ländlichen und zunehmend entvölkerten Regionen, die sich nach der Wende als unverkäuflich erwiesen.) Sehr drastisch schildert Steffen Mau, welcher Orkan der Zerstörung bestehender Strukturen in den Transformationsjahren über Ostdeutschland hinweggefegt ist. Die neu eingezogene Freiheit und Marktwirtschaft traf auf eine Population, die nicht im Geringsten darauf vorbereitet war und damit größtenteils überhaupt nicht umgehen konnte.

In Lütten Klein, dem einstigen Vorzeige-Wohngebiet der Ostsee-Metropole, dessen Bewohner zu DDR-Zeiten noch stolz darauf waren, eine der damals heiß begehrten Neubauwohnungen ergattert zu haben, war der Absturz sogar noch drastischer, denn nun hieß es plötzlich: “Man wohnt nicht mehr in der Platte”. Wer etwas auf sich hielt, suchte schnell das Weite, und übrig blieben dort bald nur noch die Abgehängten und Genügsamen.

Das Ergebnis aus all diesen jahrelangen Frustrationen lässt sich mittlerweile an den ostdeutschen Wahlergebnissen ablesen. Die Menschen im Osten sind bockig, missmutig, ressentimentgetrieben gegen alles Westliche. Sie behandeln migranische Neuankömmlinge so schlecht, wie sie selbst sich mehr als drei Jahrzehnte lang von den Westdeutschen behandelt fühlten. Sie flüchten sich aus der Wirklichkeit des Fachkräftemangels in Fantasiewelten nationaler Autarkie. Doch geht die Schere überall im Osten weiter auseinander zwischen den vielen Kleinstädten und ländlichen Gebieten auf der einen Seite, die abgehängt und in fremdenfeindlicher Selbstabschottung immer tiefer in den Abwärtsstrudel geraten, und den wenigen längst wieder aufstrebenden Großstädten auf der anderen Seite, die dank Ansiedlung von Migranten wieder wachsen und mit neu entstandenen Jobs und noch vergleichsweise günstigem Wohnraum mittlerweile so mancher West-Stadt den Rang ablaufen.

Sehr lebendig und untermalt mit vielen O-Tönen aus zu Recherchezwecken selbst geführten Interviews mit den Bewohnern schildert Steffen Mau den Werdegang “seines” Viertels in Vor- und Nachwendezeit. Trotz einiger soziologischer Fachtermini ist das Buch flüssig geschrieben und liest sich durchweg unterhaltsam. Hinzu kommt eine Vielzahl an einschlägigen Zahlen und Diagrammen, die das Werk zu einer wahren Fundgrube machen. Nur eins liefert der Autor in diesem Buch leider nicht (und in seinem besagten späteren Buch “Ungleich vereint” dann auch nur ansatzweise): Rezepte für Auswege aus der beschriebenen Malaise. Und den Leser beschleicht die düstere Ahnung, dass der ostdeutschen “Generation Wiedervereinigung” wohl nicht mehr zu helfen ist. Stattdessen muss es jetzt darauf ankommen, die von den Erzählungen ihrer Eltern kontaminierten ostdeutschen Nachwendegenerationen “abzuholen” und “mitzunehmen”, was nach Erkenntnissen der soziologischen Forschung am besten durch Studienaufenthalte der jungen Ostler in Westdeutschland gelingt, aber auch durch den Kontakt mit aus dem Westen zugezogenen Studierenden an ostdeutschen Universitäten. Je mehr Austausch zwischen den jungen Generationen in Ost und West, desto besser. Und je mehr weitere trübsinnige Abschottung der östlichen Frustrations-Kollektive, desto schlimmer.

Steffen Mau
Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Suhrkamp Verlag 2019
285 Seiten; 22,00 Euro
ISBN: 978-3-518-47092-3

www.justament.de, 5.9.2016: Leider erfolglos

Jennifer Rostocks ironischer Protestsong „Dann wähl die AfD!“

Thomas Claer

Die Berliner Spaßpunk-Band „Jennifer Rostock“ gehört hierzulande schon seit Jahren zu den richtig angesagten Acts. Der kuriose Bandname verweist auf ihre charismatische Frontfrau Jennifer Weist (30) und auf deren ursprüngliche Herkunft (sowie die aller übrigen – ausschließlich männlichen – Bandmitglieder) von der Ostseeküste. Neben dem enormen kommerziellen Erfolg ist vor allem auch die immer wieder ausgestellte Haltung der Band zu allerhand gesellschaftlichen Fragen erwähnenswert. Kurzum, „Jennifer Rostock“ sind Popstars mit Leitbildfunktion für ihr überwiegend junges Publikum. Der künstlerische Wert ihrer Darbietungen liegt beständig zwischen „nicht schlecht“ und „aber auch nicht richtig gut“. Durchaus sympathisch ist dabei die unverkennbare stilistische Orientierung an der Neuen Deutschen Welle und insbesondere an der Band „Ideal“ aus den seligen Achtzigern. Auch die “Ärzte” und die “Toten Hosen” lassen grüßen, an letztere erinnern allerdings besonders die mitunter sehr abschreckenden bombastischen Refrains. Hingegen muss man an die junge Nina Hagen denken, wenn sich Sängerin Jennifer Weist – vielfach gepierct und ganzkörpertätowiert – auf der Bühne zwischen den Songs unter dem Johlen der Zuschauer genüsslich ihr Geschlecht reibt. Und schließlich gehört zu „Jennifer Rostocks“ Bühnenshow auch noch die regelmäßige Präsentation von Jennifers nackten Brüsten, verbunden mit der Aufforderung an die Mädchen im Publikum, ebenfalls ihre Möpse freizulegen. Umstritten ist, ob dies tatsächlich – wie von der Band behauptet – als feministische Demonstration für die Gleichstellung der Frau durchgehen kann, oder ob hier nicht ein bloßer geschäftstüchtiger Exhibitionismus a la Kim Kardashian am Werk ist. Doch warum soll Jennifer ihren männlichen Testosteronrock-Kollegen nicht etwas Pussy-Power entgegensetzen? Gut singen kann sie übrigens auch noch…

Nun haben „Jennifer Rostock“ also anlässlich der Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin einen Anti-AfD-Song aufgenommen, der schon nach wenigen Tagen im Netz abermillionenfach geklickt worden ist. Man kann sie dazu nur beglückwünschen, doch wissen wir seit gestern Abend, dass alle agitatorische Mühe leider nicht viel gebracht hat. Das Wahlergebnis im Nordosten hat dieser Song offensichtlich kaum beeinflussen können, dennoch können wir froh sein, dass es ihn gibt. Denn nichts spricht dagegen, die altehrwürdige Gattung des politischen Protestsongs gelegentlich – und wann war es nötiger als jetzt? – wiederzubeleben, und noch dazu, wenn dies auf so gelungene Weise geschieht. Und schließlich: Es kommt ja auch noch die Wahl in Berlin am 17. September. Also wählt dort, liebe Leser, sofern ihr dort wahlberechtigt seid, unbedingt! „Nur bitte diesen Scheiß nicht!“ Das Urteil über Jennifer Rostocks AfD-Song lautet: voll befriedigend (10 Punkte).

www.justament.de, 2.2.2015: Mal eben ein Pogrom

Recht cineastisch, Teil 20: „Wir sind jung. Wir sind stark“ von Burhan Qurbani

Thomas Claer

Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (Foto: Wikipedia)

Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (Foto: Wikipedia)

Rostock-Lichtenhagen im August 1992: Hunderte rechtsradikale jugendliche Gewalttäter werfen Brandsätze auf eine Aufnahmestelle für Asylbewerber und das benachbarte Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter. Tausende Schaulustige applaudieren ihnen dabei und rufen Parole wie: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ Im brennenden Wohnheim befinden sich noch über hundert Vietnamesen und ein Kamerateam des ZDF. Zwischenzeitlich zieht sich die Polizei völlig zurück und überlässt die im Haus Eingeschlossenen, die in Todesangst auf das Dach zu flüchten versuchen, ihrem Schicksal… Im Rückblick wirken die Ereignisse eher noch monströser und ungeheuerlicher als aus damaliger Sicht. Hinzu kommt, dass sich seinerzeit auch die deutsche Politik auf allen Ebenen, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. (Näheres hierzu unter Wikipedia.)

Der afghanischstämmige 34-jährige Filmregisseur Burhan Qurbani hat jenen dunklen 24. August 1992 in einem 128-minütigen Drama eingefangen und geht dabei implizit auch der Frage nach, wie es soweit überhaupt kommen konnte. Am Ende verlässt man das Kino tief erschüttert, aber nicht unbedingt viel klüger als zuvor. Die jugendliche Nazi-Clique, die am Abend die Brandsätze werfen wird, besteht aus zwei bis drei fanatischen Ideologen und mehreren tendenziell gleichgültigen Mitläufern, letzteres trifft vor allem auf die Mädchen in der Gruppe zu. Alle sind von den mächtigen Umwälzungen der letzten Jahre irgendwie frustriert und wissen nicht viel mit sich und der plötzlichen großen Freiheit anzufangen. Zwar hat der Filmtitel, der die jugendliche Stärke der Akteure betont, durchaus seine Berechtigung, aber genauer müsste er eigentlich heißen: „Wir sind jung. Wir sind verwirrt. Wir fühlen uns ohnmächtig und schwach, aber doch noch stark genug, um Jagd auf noch Schwächere zu machen und daraus neues Selbstbewusstsein für uns selbst zu ziehen.“ Noch viel erschreckender als die Ausschreitungen der jungen Leute (Jugend und Randale – das gibt es schließlich häufiger, und es ist Sache der Polizei, sich darum zu kümmern) ist natürlich die klatschende, antreibende und Parolen grölende Menschenmenge um sie herum. Es sind unzufriedene Menschen in einem trostlosen Plattenbaubezirk aus den Siebzigerjahren. Aber wir befinden uns immerhin in Rostock, das zu DDR-Zeiten – anders als etwa Dresden – keineswegs ein „Tal der Ahnungslosen“ gewesen ist. Rostock war immer stolz darauf, eine weltoffene Hansestadt zu sein. Sein Hafen war in der kleinen, engen DDR so etwas wie ein Tor zur großen, weiten Welt.

Was für mich besonders bedrückend ist: Ein paar Jahre zuvor bin ich im 60 km von Rostock entfernten Wismar und in einem Dorf in Nordwestmecklenburg zur Schule gegangen. Die Wende habe ich allerdings bereits im Westen erlebt. Später hörte ich, dass ehemalige Mitschüler von mir, darunter sogar ein früherer guter Freund, den ich noch Anfang 1990 von Bremen aus in Wismar besucht hatte, in die rechte Szene abgedriftet seien. Traurig, aber wahr.

Wir sind jung. Wir sind stark
Deutschland 2015
Regie: Burhan Qurbani
Drehbuch: Martin Behnke / Burhan Qurbani
Darsteller: Devid Striesow, Jonas Nay, Joel Basman, Le Hong Tran, Saskia Rosendahl, Thorsten Merten, David Schütter u.v.a.