justament.de, 20.11.2023: Aha, aha, aha
Scheiben vor Gericht Spezial: Vor 40 Jahren hatte die Neue Deutsche Welle ihren Höhepunkt
Thomas Claer
Zu meinen prägendsten kulturellen Kindheitserlebnissen gehörte zweifellos die Rezeption der Neuen Deutschen Welle, die eine grundlegende Neubestimmung aller Hörgewohnheiten in der populären Musik in Deutschland mit sich brachte. Und das längst nicht nur im Geltungsbereich der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Auch wir im Osten bekamen übers Westfernsehen und –radio im Wesentlichen alles mit, jedenfalls das von der NDW, was zum Medienhype wurde, was aber, wie ich später erfahren sollte, eigentlich nur die Spitze des Eisbergs war. Tatsächlich war die Neue Deutsche Welle, wie es z.B. in der Dokumentationsreihe zur deutschen Musikgeschichte “Pop 2000” eindrucksvoll herausgearbeitet wurde, ursprünglich ein Underground-Phänomen, als sich Ende der Siebzigerjahre plötzlich in allen Teilen der alten BRD Musikschaffende dazu aufschwangen, anarchische Rock- und Popmusik mit deutschen Texten entstehen zu lassen. Natürlich ist dann alles dort hineingeflossen, was seinerzeit ohnehin schon en vogue war: Das ganze Punk-Ding war noch nicht lange her, da kam auch schon New Wave – und solche Sachen gab es nun plötzlich auch mit deutschen Texten. Auch wenn es stilistisch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen war, was damals alles unter dem NDW-Label firmierte. Die Gemeinsamkeit war der ungestüme Dilettantismus, mit dem die Protagonisten allesamt zu Werke gingen. Und gerade dadurch waren sie so gut. Doch witterten die Puristen dieser Bewegung spätestens ab 1982/83 den großen Ausverkauf ihrer Ideale, als immer mehr NDW-Bands und –Stars in Unterhaltungssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auftraten und so zusehends um die Gunst eines Massenpublikums buhlten.
Für mich als noch nicht einmal Teenager im abgeschotteten Teil Deutschlands hinter der Mauer war aber genau diese NDW-Präsenz im westdeutschen Unterhaltungsfernsehen ein großer Glücksfall, denn wie sonst hätte ich diese aufregend bunten, schrillen und lauten Musikrevolutionäre sonst kennenlernen sollen? Trio mit “Da Da Da”, Nena mit “99 Luftballons”, Peter Schilling mit “Major Tom”, die Spider Murphy Gang mit “Peep Peep”, Geier Sturzflug mit dem Song vom Bruttosozialprodukt, Hubert Kah mit “Sternenhimmel” – sie alle wurden zu meinen Kindheitshelden, weil ich sie in der “Hitparade im ZDF” bei Dieter Thomas Heck gesehen und mit unserem Kassettenrekorder aus dem Westen aufgenommen hatte. Niemand kann sich heute mehr vorstellen, welche Wirkung eine solche Musik beim Stammpublikum dieser Schlagersendung hatte – und natürlich ebenso bei den Zuschauern am Bildschirm, zumal bei uns im Osten. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sich mein Vater über das Erscheinungsbild von Trio-Sänger Stephan Remmler aufregte. Wie könne man denn nur so rumlaufen, wenn man ins Fernsehen kommt? In solch einem abgewetzten T-Shirt auf der Bühne stehen und dabei auch noch Kaugummi kauen? Der habe ja wohl überhaupt kein Benehmen! Dabei war mein Vater gerade einmal 13 Jahre älter als der NDW-Star. Aber genau hier verlief der Riss zwischen den Generationen, zwischen der Wiederaufbau-Generation auf der einen und den Achtundsechzigern und Postachtundsechzigern auf der anderen Seite. Für meinen Vater jedenfalls war diese ganze NDW-Musik, wie er sich ausdrückte, “der letzte Husten”. Meine Mutter war da schon aufgeschlossener und erst recht unsere Nachbarin, Frau G. Sie sang sogar begeistert im Treppenhaus “Aha, aha, aha, ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht, aha, aha, da, da, da”, während mein Vater darüber nur den Kopf schüttelte…
Ungefähr 1983 erlebte die Neue Deutsche Welle mit zahlreichen Superhits ihren medialen und kommerziellen Höhepunkt. 1984 kamen dann nur noch “Engel 07” von Hubert Kah und “Terra Titanic” von Peter Schilling – dann war aber endgültig die Luft raus. Spätestens 1985 redete niemand mehr von der Neuen Deutschen Welle.
www.justament.de, 20.4.2015: Schrilles Vergnügen
Recht cineastisch, Teil 22: Oskar Roehlers Berlin-Groteske „Tod den Hippies – Es lebe der Punk!”
Thomas Claer
Die Berlinale hat diesen Film abgelehnt. Sie hätte ihn nehmen sollen, denn „Tod den Hippies – Es lebe der Punk!“ ist ein großer Spaß. Auch wenn er, wie alle Werke von Oskar Roehler, reichlich überkandidelt ist. Es beginnt in der westdeutschen Provinz in den frühen Achtzigern. Der junge Robert (Tom Schilling) hält es in Schule und Internat mit all den Friedensbewegungs- und Ökospießern nicht mehr aus. Er wird, na was schon?, Punk natürlich! Und er zieht, wohin schon? Klar, nach West-Berlin! Dort lebt sein Vater (Samuel Finzi), der frühere „Kassenwart der RAF“, als Lektor und Schriftsteller und hütet den Schatz der Terroristen, gut hunderttausend DM in Banknoten, die noch von einem Banküberfall mit Gudrun Ensslin stammen. Doch Robert, dem eine Laufbahn als Schriftsteller und Punkmusiker vorschwebt, sieht vom Vater zunächst keinen Pfennig. Stattdessen helfen ihm seine einzigen beiden Bekannten in Berlin auf die Sprünge: der Peepshow-Conférencier Schwarz (Wilson Gonzales Ochsenknecht) und der schwule Nazi und Bandleader Gries (Frederick Lau). Schwarz verschafft Robert seinen ersten Job im Erotik-Club am Bahnhof Zoo: Er muss die von den Kunden vollgespritzten Glasscheiben putzen und für die Striptease-Damen etwas zu essen herbeischaffen. Dabei macht er die intime Bekanntschaft gleich zweier blonder Sexbomben (Emilia Schüle und Anna-Maria Hirsch), die beide ungeheuer scharf auf ihn und später aufeinander eifersüchtig sind. Außerdem lässt Gries ihn noch in seiner Band Gitarre spielen. Als Wohnung dient Robert eine Art Kellerverschlag, an dessen Wand „No Future!“ gesprüht ist. Gemeinsam mit seinen Freunden stürzt er sich ins Berliner Nachtleben und begegnet dort neben anderen lebendigen Speed-Leichen den leibhaftigen Blixa Bargeld und Nick Cave, die hier als bizarre Witzfiguren auftreten. Und es passiert dann noch so viel Verrücktes, dass es hier nicht einmal ansatzweise wiedergegeben werden kann. Während man bei anderen Filmemachern mitunter einen Mangel an Ideen beklagen muss, leidet Oskar Roehler ganz eindeutig am Gegenteil davon: Über weite Strecken ist es bei ihm einfach zu viel des Guten! Doch Roehler kann nun einmal nicht anders. Bei ihm geht nur: schrill oder gar nicht. Amüsant ist das ganze aber allemal.
Tod den Hippies – Es lebe der Punk!
Deutschland 2015
Regie: Oskar Roehler
Drehbuch: Oskar Roehler
104 Minuten, FSK: 16
Darsteller: Tom Schilling, Frederick Lau, Wilson Gonzales Ochsenknecht, Hannelore Hoger, Samuel Finzi, Emilia Schüle, Anna-Maria Hirsch, Alexander Scheer u.v.a.
www.justament.de, 19.1.2015: Noch immer Punk
Die aktuelle Vinyl-Maxi von Element Of Crime „Liebe ist kälter als der Tod“
Thomas Claer
Nachzutragen ist noch, dass Element Of Crime kurz vor Weihnachten eine weitere EP herausgebracht haben, die wiederum einen Song ihres neuen Albums „Lieblingsfarben und Tiere“ sowie drei weitere Stücke enthält. Allerdings ist daraus diesmal, um es gleich vorweg zu nehmen, eine etwas zwiespältige Sache geworden.
Einerseits hat man, sofern man zu den Glücklichen gehört, die eines der nur 250 Exemplare des streng limitierten 10“ Vinyls abbekommen haben, natürlich keinen Grund, sich zu beschweren. (Da die Scheibe lediglich in ausgewählten Schallplattenläden verkauft wurde, bin ich ihretwegen sogar extra bis nach Kreuzberg gefahren.) Und schließlich erweist sich die Platte bereits deshalb als würdige „Singleauskopplung“, wie man es früher so schön genannt hat, weil sich auf ihr mit „Liebe ist kälter als der Tod“ tatsächlich der – jedenfalls für mich – stärkste Song des ganzen Albums befindet. Positiv zu vermerken ist ferner auch das sehr gelungene Ramones-Cover „Gimme Gimme Shock Treatment“, auf dem Sven Regener eindrucksvoll beweist, dass noch immer ein Punk in ihm steckt.
Andererseits hätte man sich von den beiden restlichen Stücken aber schon etwas mehr erwartet. Dass dem Titelstück das improvisierte Duett mit Ina Müller von „Rette mich vor mir selber“ aus der Fernsehsendung „Inas Nacht“ folgt (das jeder, der es wollte, längst auf YouTube gesehen hat), kann ja vielleicht noch angehen. Und wäre es nur dieses eine Füllstück, hätte man ja auch nichts weiter dazu gesagt. Aber dass sich daran auch noch der wohlbekannte Song „Love and Happiness“ von der 1988er LP „Freedom, Love and Happiness“ anschließt, angeblich als „Grüner-Punkt-Bonus“ (was immer das heißen mag), in Wirklichkeit aber als 26 Jahre alter Original-Album-Track, das geht dann doch etwas zu weit. Oder besser gesagt: Es ist enttäuschend, dass darüber hinaus nicht noch eine weitere EOC-Cover-Version eines anderen Liedes auf der Platte ist. Ein fünftes Stück hätte den Elements nämlich gut zu Gesicht gestanden, zumal die B-Seite der EP insgesamt nur auf eine Spielzeit von gerade mal gut drei Minuten kommt. Für sich genommen ist die Anordnung von „Gimme Gimme Shock Treatment“ und „Love and Happiness“ direkt nacheinander allerdings ein durchaus gelungener Einfall, da dem Zuhörer so bewusst wird, wie punkig manches von den frühen, noch englischsprachigen EOC seinerzeit klang, und wie stark sich Sven Regeners Stimme in den knapp drei Jahrzehnten, die dazwischen lagen, verändert hat.
Bedenkt man nun aber, dass sich die vier Stücke auch schon für moderate 2,50 EUR als Download erwerben lassen, dann relativiert das den soeben indirekt erhobenen Abzocke-Vorwurf zumindest ein wenig. Und dennoch: Vinyl bleibt Vinyl. Und wenigstens darauf hätte es bei diesem Preis ein Lied mehr sein dürfen. Das Gesamturteil lautet gleichwohl: voll befriedigend (11 Punkte).
Element Of Crime
Liebe ist kälter als der Tod
10“ Vinyl (Limited Edition 250 Stück)
Vertigo Berlin (Universal Music) 2014
ca. 12,00 EUR (vergriffen)
ASIN: B00PG11YBM
(auch als Download für 2,50 EUR erhältlich)
