justament.de, 29.1.2024: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr
75 Jahre Grundgesetz und Ausblick auf ein Schicksalsjahr
Thomas Claer
Rückblickend betrachtet sind die 75 Jahre Grundgesetz in Westdeutschland und immerhin auch schon 34 Jahre Grundgesetz in Gesamtdeutschland, die wir in diesem Jahr feiern können, eine enorme Erfolgsgeschichte. Vor allem auch, wenn man bedenkt, zu welch märchenhaftem Wohlstand es die Deutschen in dieser Zeit gebracht haben. Selbst den Ärmsten geht es hierzulande – rein materiell gesehen – weit besser als jemals zuvor und so gut wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Die ungebrochene Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland legt hiervon ebenfalls Zeugnis ab. Insbesondere hat auch die deutsche Einheit, also die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, in den zurückliegenden dreieinhalb Jahrzehnten letztlich eine sehr positive Entwicklung genommen. Wenn auch die Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer noch immer hinter der im Westen zurückbleibt, so ist doch die massenhafte Abwanderung überwiegend junger Menschen aus dem Osten, die noch bis in die Zehnerjahre hinein zu beklagen war, nicht nur längst zum Stillstand gekommen, sondern hat sich mancherorts schon beinahe umgekehrt. Zuletzt haben sich sogar vermehrt bedeutende internationale Unternehmen für den Auf- und Ausbau von Standorten in Ostdeutschland entschieden. Selbst die heftigen Krisen der letzten drei Jahre, zuerst Corona, dann Ukraine-Krieg und vorübergehender Energiemangel, haben den Big Player in der Mitte Europas keineswegs aus der Bahn geworfen. Das aktuell leichte Schwächeln der Konjunktur geschieht auf kaum vermindert hohem Niveau. Soweit die Fakten.
Nun sollte dies alles doch eigentlich Anlass sein zu einem selbstbewussten und zuversichtlichen Blick nach vorn, aber das ist es leider ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Die Stimmung ist offenbar so miserabel wie noch nie. Unsere Bundesregierung, die das Land in vielerlei Hinsicht mit Bravour durch die besagten schweren Krisen geführt, die in kürzester Frist die Energieversorgung radikal umgestellt und dennoch erfolgreich gesichert, die mit dem 49-Euro-Ticket breiten Bevölkerungsschichten zu unkomplizierter, kostengünstiger und umweltverträglicher Mobilität verholfen hat, ist nach der Hälfte der Legislaturperiode so unbeliebt wie keine ihrer Vorgängerregierungen. Doch auch die demokratischen Oppositionskräfte stehen keineswegs blendend da. Stattdessen liegt eine laut Verfassungsschutz in zumindest drei Landesverbänden “gesichert rechtsextremistische” Partei, die u.a. Millionen Zugewanderte zwangsweise “remigrieren” sowie unser Land aus der Europäischen Union hinausführen (und diese zerstören) will, in gleich drei ostdeutschen Bundesländern, wo in diesem Herbst Landtagswahlen anstehen, mit weitem Abstand vorne. So wie sie auch in den beiden anderen östlichen Ländern an erster Stelle und bundesweit stabil mit mehr als 20 Prozent auf Platz zwei liegt. Noch vor wenigen Jahren hätte man eine solche Situation für vollkommen unvorstellbar gehalten. Also was ist da los?
Nun gut, teilweise hat unsere Regierung etwas unglücklich und ungeschickt operiert wie etwa beim neuen Heizungsgesetz, das aber im Grunde genommen schon vor spätestens einem Jahrzehnt überfällig gewesen wäre (und dessen Äquivalente etwa in skandinavischen Ländern schon vor dreißig Jahren auf den Weg gebracht wurden, im überparteilichen Konsens wohlgemerkt), nur dass die Vorgängerregierungen sich fortwährend davor gedrückt haben und nun scheinheilig der Ampel den Schwarzen Peter dafür zuschieben. Die begreiflicherweise wenig populären aktuellen Sparmaßnahmen infolge des unglückseligen BVerfG-Urteils sind letztlich auch nur eine Spätfolge der krisenbedingten Zahlenakrobatik bereits der vorherigen Regierung, die aber damit beim höchsten Gericht noch durchgekommen ist…
Doch ist die Wahrnehmung offenbar in nicht unbeträchtlichen Teilen der Bevölkerung eine andere. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem Umfeld die folgende, anscheinend weit verbreitete Haltung beobachtet: “Eigentlich ist unser Dörfchen okay – und dann kommt der Staat und setzt uns ein Flüchtlingsheim hin. Und dann will die Regierung an die Heizung ran. Es reicht ihr also offenbar nicht, dass sie ins Dorf eindringt, sie will in mein Haus. Und mit der Impfung dringt sie sogar in meinen Körper vor. Und mein Denken will sie auch noch beeinflussen, ich darf das N-Wort nicht mehr sagen, ich muss gendern.” (Süddeutsche Zeitung vom 26.1.2024) Das mögen die enttäuschten Stimmen derer sein, die sich von der Politik nicht gehört fühlen. Aber sollte man auf solche Stimmen hören? Doch wohl besser nicht. Es macht wirklich einigermaßen fassungslos, wenn Menschen, die mindestens neun Jahre lang in diesem Staat zur Schule gegangen sind, sich erkennbar von jeder Vernunft ab- und verschwörerischen Weltsichten zugewandt haben.
In der gestrigen ZDF-Nachrichtensendung erklärte ein befragter Passant in einem thüringischen Landkreis: “Die Partei der Mitte ist für mich die AfD.” Erschreckenderweise sind solche absonderlichen Auffassungen vor allem im ostdeutschen kleinstädtischen und ländlichen Raum längst keine Seltenheit mehr. Der Berliner Soziologe Steffen Mau konstatiert: “Insbesondere die Entwicklung im Osten ist beunruhigend: Die Partei ist da vielerorts im Grunde schon eine Volkspartei. Zumal Untersuchungen zeigen, dass die Leute, die dort inzwischen für die AfD eintreten oder sogar Parteifunktionäre sind, vielfach überhaupt nicht mehr vom klassischen rechtsradikalen Rand kommen, sondern Teil der Zivilgesellschaft waren und sind, also seit Jahr und Tag aktiv in Vereinen und Verbänden, lokal oder regional bekannt und vernetzt. Die viel beschworene Brandmauer und Dämonisierung im sozialen Alltag lässt sich da schwer durchhalten…” (Süddeutsche Zeitung ebd.)
Doch sind tatsächlich vor allem die Ostdeutschen verrückt geworden? Vielleicht als Spätfolge der Vereinigungsschocks und -traumata? Der Soziologe Hartmut Rosa hält dem sehr pointiert entgegen: “Mit Blick auf verblüffend ähnliche Probleme in Frankreich, Ungarn, Polen, der Schweiz oder den Niederlanden würde ich sagen, dass nicht die Situation in Ostdeutschland ein Sonderfall ist, sondern die in Westdeutschland.” (Süddeutsche Zeitung ebd.) Stimmt, denn ganz ähnlich bekloppte Einstellungen und Äußerungen wie aus sächsischen Dörfern kennen wir zur Genüge von Trump-Anhängern in den USA, von Bolsonaro-Fans in Brasilien und vielen anderen mehr. Deutschland hingegen gehört zu den wenigen Ländern, die den Rechtspopulismus bisher noch einigermaßen kleinhalten konnten. Noch funktionieren hier ganz überwiegend – und das nicht nur im “alten Westen” – die Zivilgesellschaft, die Demokratie, die rechtsstaatlichen Institutionen, wie auch die noch nicht völlig von den asozialen Fake-Netzwerken samt ihren Putin-Trollen verdrängten “alten” Medien.
In diesem Jahr wird es aber nun wirklich ernst: Europawahlen im Juni, drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst und schließlich, am wichtigsten und folgenreichsten: die US-Präsidentschaftswahl im November. Schon bei den drei Landtagswahlen steht laut Steffen Mau “die Demokratie auf der Kippe”, bei den US-Wahlen gilt gleiches für unsere Sicherheit. Man kann nur inständig hoffen, dass hinter den Kulissen – auf nationaler wie auf europäische Ebene – bereits jetzt die nötigen Vorkehrungen getroffen werden, um dem Worst Case zumindest etwas entgegensetzen zu können. Aber vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder und Michelle Obama kandidiert statt Joe Biden und besiegt Trump, und alles wird gut. Doch das wäre wohl zu schön, um wahr zu werden…
Justament Sept. 2011: Im Lichte des Grundgesetzes
Ein Jahr nach Deutschlands Abschaffung: Anmerkungen zur Integrations-Debatte
Thomas Claer
In diesen Tagen jährt sich zum ersten Mal das Erscheinen des inzwischen meistverkauften deutschen Sachbuchs seit dem zweiten Weltkrieg: Mit sage und schreibe anderthalb Millionen abgesetzten Exemplaren landete der sich auf 464 Seiten um die drohende Abschaffung Deutschlands sorgende SPD-Politiker Thilo Sarrazin einen Bestseller sondergleichen. Ein ähnlicher Publikumserfolg war hierzulande wohl zuletzt, nun ja, einem kampfeswütigen Gefreiten aus Braunau beschieden, der sein schriftstellerisches Hauptwerk seinerzeit stolze 10 Millionen Male an den deutschen Mann und an die deutsche Frau bringen konnte. Doch reicht selbst dieser Verkaufsschlager nicht an jenen gespenstischen Longseller eines rheinländischen Autorenduos heran, der seit der 1848er Erstauflage sogar 500 Millionen Male – allerdings weltweit – über die Ladentische ging. Das ist zwar seltener als die Bibel (2 bis 3 Milliarden Verkäufe), aber doch häufiger als der Koran (schlappe 200 Millionen) – womit wir wieder beim Thema wären.
Die Muslime, sagt Thilo Sarrazin sinngemäß, sind Deutschlands Unglück, womit er endlich einmal ausgesprochen hat, was unzählige Deutsche sich wohl schon immer gedacht, aber nur noch nicht laut zu sagen getraut haben: “Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zum großen Teil muslimisch ist, dass dort über weite Strecken Türkisch und Arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird… Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden, auch regional nicht.” So schreibt er in “Deutschland schafft sich ab”. Das sind wohlüberlegte Sätze. Seine Frau hat alles dutzendfach Korrektur gelesen. Aber was meint er bloß mit diesem “Wir”? Und was mit dem “eigenen Land”? Gehören zum Beispiel unsere niedersächsische und unsere baden-württembergische Integrationsministerin oder unser grüner Parteivorsitzender auch zum Sarrazinschen “Wir”? Oder besteht dieses “Wir” nur aus der christlichen oder atheistischen “autochthonen” deutschen Mehrheitsbevölkerung? Schließlich bröckelt diese zusehends, denn inzwischen haben schon über 20 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen einen Migrationshintergrund. Gehört “unser Land” nun also auch ihnen? Oder doch nur seinen christlich-atheistischen Staatsbürgern bzw. Einwohnern? Unsere (unsere!) Verfassung spricht hier eine deutliche Sprache: Nach Artikel 4 Abs. 1 gilt in Deutschland die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, gem. Art. 4 Abs. 2 auch die Freiheit der Religionsausübung, und nach Art. 3 Abs. 3 darf niemand wegen seines Glaubens benachteiligt oder bevorzugt werden. (Wegen seiner Abstammung oder Sprache übrigens auch nicht.) So einfach ist das. Wer also in Deutschland die Verbreitung bestimmter Religionen verhindern möchte, steht jedenfalls ebenso wenig auf dem Boden des Grundgesetzes wie die Hassprediger in manchen Moscheen. (Kleiner Tipp für unseren Verfassungsschutz!) Vielleicht werden sich Sarrazins Enkel ja eines Tages wie der Sohn Helmut Kohls oder der baden-württembergische Wirtschaftsminister Nils Schmitt mit türkischstämmigen Frauen vermählen (oder seine Enkelinnen mit arabischstämmigen Männern). Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, denn inzwischen gibt es in Deutschland weitaus mehr deutsch-türkische Eheschließungen als solche zwischen Ost- und Westdeutschen. Dann würden Sarrazins Urenkel womöglich ganz selbstverständlich die Moschee besuchen, sobald der Muezzin ruft. Eine schreckliche Vorstellung – jedenfalls für Thilo Sarrazin.
In der letzten Zeit hat er sich aber moderater geäußert, um seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Als jemand aus dem Publikum auf seiner Lesung fragt, wie man es schaffen könne, die Türken in Deutschland wieder in ihre Heimat zu schicken, damit sie den Deutschen nicht auf der Tasche lägen, antwortet Sarrazin: “Ich habe nichts gegen türkische Menschen. Wenn sie gut Deutsch sprechen, einen ordentlichen Beruf ausüben, unsere Gesetze achten und sich an unsere Sitten und Gebräuche anpassen, ist nichts gegen sie einzuwenden.” (zitiert nach SZ Mag. V. 29.7.2011, S. 10). Das heißt natürlich umgekehrt, dass er eine Menge einzuwenden hat gegen alle, die nicht gut Deutsch sprechen, keinen ordentlichen Beruf ausüben, unsere Gesetze nicht achten und sich nicht an unsere (unsere?) Sitten und Gebräuche anpassen. In der Tat sind solche Parallelgesellschaften sehr gefährlich, nicht nur die türkischen. Zum Beispiel die in einem Hochhaus in Frankfurt am Main: Da hat der Chef so einen Schweizer Akzent und stand schon öfter vor Gericht. Sein designierter Nachfolger kommt aus Indien und kann überhaupt kein Deutsch. Der Beruf, den sie ausüben, steht im Ansehen der Deutschen ganz weit unten, sogar noch unter den Politikern. Immer wieder haben Angehörige dieser Hochhaus-Clique deutsche Kommunen über den Tisch gezogen, indem sie ihnen windige Zertifikate andrehten. Auch werfen ihr Kritiker vor, mit ihrer anvisierten jährlichen Eigenkapitalrendite von 25 Prozent gegen die guten Sitten zu verstoßen. Aber eines kann man ihr nicht vorwerfen: dass sie vom Staate lebte. Das tun zwar viele andere Hochhaus-Gangs, die immer wieder mit Steuergeldern gerettet werden müssen, aber der mit dem Schweizer Akzent würde sich schämen, sagt er, wenn er Staatsgelder annehmen müsste. Der Inder mit dem Rucksack sorgt schon für das nötige Kleingeld.
Justament Dez. 2007: Ex-Philosoph legt Hand ans Grundgesetz
Indie-Legende Matthias Arfmann mit Dub’l G
Thomas Claer
Matthias Arfmann ist in der deutschen Musikszene nicht irgendjemand. Jahrelang ernteten er und seine damalige Mitstreiterin Katrin Achinger als Köpfe der Band “Kastrierte Philosophen” (1981-1996) viel Lob und Anerkennung, doch der kommerzielle Durchbruch blieb aus. Nicht zuletzt hat sich an ihnen der alte und schöne Indie-Spruch bewahrheitet: Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein guter Song in die Hitparade. Nun durchlebten die Philosophen über die Jahre einen kuriosen stilistischen Wandel, der sie vom Postpunk und Garagenrock über Hip-Hop, Trip Hop und Ethno-Pop bis hin zur Reggae-Musik führte. Charakteristisch für sie blieb aber stets das psychedelische Element in Arfmanns Gitarrenspiel. In den zurückliegenden zehn Jahren hat sich Matthias Arfmann dann mit seiner neuen Band “Turtle Bay Country Club” dem Dub verschrieben, der elektronischen Variante des jamaikanischen Reggae. Doch unternahm er zuletzt spektakuläre Ausflüge in neue Experimentierfelder: Auf Recomposed (2005) kreuzte er klassische Kompositionen von Dvorak, Wagner, Tschaikowsky und anderen mit seinen Dub-Klängen. Das Ergebnis war beeindruckend und erschütterte wieder einmal den vom hochkulturellen Dünkel getragenen Mythos einer Wesensverschiedenheit der sogenannten Genres “U” und “E”. Um so gespannter konnte man auf Arfmanns jüngsten Coup sein: den Dub-Remix einer Freejazz-Vertonung unseres Grundgesetzes, mit welcher die Musiker Thomas Bierling, Eva Weis und Peter Lehel schon seit Ende 2004 in deutschen Justizvollzugsanstalten aufgetreten waren. Die Originalaufnahmen letzterer sind dem Tonträger als Bonus-CD beigefügt und nehmen sich eher befremdlich aus. Banausen werden sich hier vermutlich an Hape Kerkelings alte Hurz-Nummer mit dem Habicht erinnert fühlen. Dagegen überführt Matthias Arfmann die Grundgesetz-Artikel souverän in Dub-Klänge und glättet mit geschmeidigen Arrangements die doch ziemlich anstrengende Wirrnis der Vorlage. Anknüpfend an die von der Freejazz-Fraktion aus dem Gesetzestext extrahierten Begriffe (“Sittengesetz”, “Eigentum”, “Gleichheit”) lässt er vielschichtige Klanglandschaften entstehen und gewinnt so dem Grundgesetz Aspekte ab, die gewiss nicht einmal seinen versiertesten Kommentatoren in den Sinn gekommen wären. Hier und da gerät das Resultat eine Spur zu poppig oder man hätte sich ein wenig mehr Stringenz wie in Arfmanns Philosophen-Tagen gewünscht. Gelungen ist das Experiment dennoch. Das Urteil lautet: befriedigend (9 Punkte).
Matthias Arfmann
Dub’l G – Das Nähere regelt ein Bundesgesetz
Yeotone / Bella Music Edition 2007, CD, 28:11 Minuten
Special Edition including original recordings
ca. EUR 15,00
ASIN: B000R57TEI