justament.de, 15.9.2025: Die Argumente der “Putin-Versteher”
Anmerkungen zur Debatte über den Ukraine-Krieg
Thomas Claer
Es ist immer gut, sich selbst und die eigenen Ansichten kritisch zu hinterfragen, sich auf Gegenargumente zu den eigenen einzulassen, sie zu prüfen und es auch grundsätzlich für möglich zu halten, dass der Andere Recht haben könnte. Denn schließlich gehört es ja zu den großen Vorzügen einer pluralistischen Gesellschaft, dass man über beinahe alles unterschiedlicher Meinung sein darf, ohne befürchten zu müssen, dass man dann auf rätselhafte Weise spontan aus dem Fenster stürzt oder plötzlich, wenn auch nicht ganz unerwartet, von tödlichen Magenkrämpfen heimgesucht wird. Oder dass man auch nur wegen unpatriotischer Umtriebe seinen Job verliert.
Aber haben diejenigen, die sich hierzulande seit mehr als drei Jahren vehement für einen Friedensschluss in der Ukraine durch mehr Dialog mit Russland einsetzen, die das Bestehen einer Mitschuld der westlichen Länder am Kriegsausbruch wegen der fortgesetzten NATO-Osterweiterung behaupten und nun eine Ausweitung des Krieges auf das übrigen Europa verhindern wollen, die Trump zumindest in der Ukraine-Frage für einen guten US-Präsidenten und die Kiewer Maidan-Proteste 2013/14 für vom Westen beeinflusst halten, wirklich gute Argumente?
Zieht man die wichtigsten Aussagen der aktuellen Streitschrift “Krieg oder Frieden? Deutschland vor der Entscheidung” von Klaus von Dohnanyi und Erich Vad, die man beide als intellektuelle Speerspitze des “Putin-Verstehertums” bezeichnen könnte, heran (siehe nebenstehende Rezension von Matthias Wiemers), dann muss man sogleich zugeben: Sie haben einen Punkt. Vielleicht haben sie sogar mehrere.
Ja, man sollte, wenn man kriegerische Auseinandersetzungen beenden will, immer versuchen, mit der anderen Seite im Gespräch zu bleiben. Natürlich ist es auch immer hilfreich, sich in den Gegner hineinzuversetzen und die Beweggründe für sein Handeln nachzuvollziehen. Und tatsächlich hat es in der internationalen Politik wohl schon immer so etwas wie Einflusssphären von Großmächten gegeben, die man tunlichst respektieren sollte. Aber dass eine auf solche Prämissen gestützte Herangehensweise aktuell – nach allem, was bereits versucht worden ist – ein Ende der Kämpfe im Ukraine-Krieg bewirken könnte, das erscheint dann leider doch fernab der realen Gegebenheiten.
Als direkter Realitätstest für die Thesen der “Putinversteher” hat sich insbesondere das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten vor vier Wochen in Alaska erwiesen, bei dem sich vor allem eines gezeigt hat: Putin hat nicht das geringste Interesse an einem Friedensschluss, außer man schenkt ihm noch mehr Land dazu, das er noch gar nicht erobert hat, lässt seine Armee hinter den großen ukrainischen Verteidigungswall im Donbas vorrücken (von wo aus sie dann eine erstklassige Ausgangsposition für künftige weitere Eroberungen hätte) und verzichtet dazu auf Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch die Stationierung internationaler Truppen (und auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine natürlich sowieso). Das wäre im Ergebnis so, als würde die Ukraine sogleich kapitulieren und zu einem Vasallenstaat Russlands werden. Die russische Armee kommt derzeit an der Front zwar nur sehr langsam und mit immensen Verlusten, aber dafür kontunuierlich voran. Also macht Putin weiter, denn seine Waffenproduktion läuft dauerhaft auf Hochtouren, und auf die Opferzahlen unter seinen Soldaten braucht er keine Rücksicht zu nehmen, denn sollten ihm irgendwann die Soldaten aus den ländlichen russischen Regionen ausgehen, dann holt er sich halt noch mehr neue aus Nordkorea.
Trump hat hingegen, was ihn in den besagten Kreisen auch hier populär macht, ein großes Interesse an einem Friedensschluss in der Ukraine. Allerdings vor allem deshalb, weil er erstens gerne den Friedensnobelpreis verliehen haben möchte und zweitens mit Russland wirtschaftlich wieder ins Geschäft kommen will. Letzteres wäre zwar auch im Sinne Russlands, ist aber für Putin längst nicht so wichtig wie seine Eroberungen. Das Schicksal der Ukraine dagegen ist Trump anscheinend herzlich egal. Er versucht nur bei dieser Gelegenheit, noch erpresserische Rohstoffdeals mit dem geschundenen Land für die USA herauszuschlagen. An der Verhängung verschärfter US-Sanktionen gegen Russland, die Trump vor kurzem Putin noch angedroht hatte (sogar unter Setzung eines Ultimatums, das Putin ungerührt verstreichen ließ), hat er nun offenbar das Interesse verloren.
Unter dem Strich steht der vom internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecher Putin, der bis dahin seit Kriegsausbruch von allen westlichen Politikern nur als Paria behandelt worden war, nach seinem Treffen mit Trump nun wieder glänzend rehabilitiert da, obwohl er dafür keinerlei Gegenleistung erbringen musste. Und schlimmer noch: Der angebliche “große Dealmaker” hat offenbar einen so schwachen Eindruck auf Putin gemacht, dass dieser sich seitdem sogar traut, die Ukraine noch stärker als jemals zuvor zu bombardieren, und neuerdings sogar Drohnen in größerer Zahl auf ein NATO-Land abfeuert. Offensichtlich versucht Russland damit auszutesten, inwieweit die USA überhaupt noch zu ihren Bündnisverpflichtungen in der NATO stehen.
Insofern kann man es eigentlich schon als Erfolg werten, dass der Worst Case, eine Übereinkunft zwischen Trump und Putin über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg, also eine Art Münchener Abkommen 2.0, durch die intensiven Bemühungen (und Schmeicheleien) der Europäer fürs Erste noch einmal abgewendet werden konnte. Denn würde Putin, wenn man ihm das gibt, was er haben möchte, wirklich aufhören, wie es seine hiesigen Deuter annehmen? Seine kürzlich getätigte Aussage “Wo immer der Fuß eines russischen Soldaten steht, das gehört uns”, lässt eher nicht darauf schließen. Auch die jüngst im russischen Staatsfernsehen im Hintergrund einer Besprechung von Offizieren gezeigte Landkarte, auf der Gebiete bis weit über die Stadt Odessa hinaus bis zur moldawischen Grenze als Teile Russlands eingefärbt waren, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei. Es sei ferner daran erinnert, dass Putin in seinem “Ultimatum” an die westlichern Länder im Herbst 2021 den Rückzug der NATO aus ganz Osteuropa einschließlich Polens gefordert hatte. (Und Klaus von Dohnanyi erklärte dazu ca. im Frühjahr 2022 in einer Talkshow, die westlichen Länder hätten darüber mit Putin verhandeln sollen, um so die bevorstehende russische Vollinvasion in der Ukraine vielleicht noch verhindern zu können.)
Putins historische Bezugspunkte neben Zar Peter dem Großen und Zarin Katharina der Großen, die im 17. und 18. Jahrhundert umfangreiche Territorien für Russland erobert haben, hat er übrigens mal (im Februar 2024) in einem Interview mit dem Fox-News-Moderator Tucker Carlson verraten. Da meinte er, dass die Schuld am Ausbruch des 2. Weltkriegs eigentlich Polen trage, denn das Land hätte ja auf die ihm 1939 von Hitler und Stalin gestellten Forderungen eingehen und so den Krieg vermeiden können. So wie 2022 die Ukraine und Europa. Empfiehlt sich ein solcher Akteur wirklich für aussichtsreiche Friedensverhandlungen?
Aber ist Putin, wie seine Versteher und Deuter meinen, denn nicht eigentlich im Recht, wenn er auf der Respektierung der russischen Einflussspäre besteht? Haben nicht letztlich die westlichen Länder selbst Russlands Einmarsch in die Ukraine provoziert, indem die NATO sich in den Jahrzehnten zuvor immer weiter nach Osten ausgedehnt und schließlich sogar die Ukraine ihren Nato-Beitritt als Staatsziel in ihre Verfassung geschrieben hat? Wenn in Mexiko, so das Beispiel von Dohnanyi und Vad, eine neue Regierung an die Macht käme, die gerne Mitglied der Eurasischen Union Putins werden und russische Militärstützpunkte und Raketenstellungen am Rio Grande errichten möchte, würden dann die USA nicht ihrerseits in Mexiko einmarschieren?
Der Unterschied ist zunächst einmal, dass ein solches Szenario in Mexiko mutmaßlich niemals eintreten würde, weil erstens die Eurasische Union (wie auch das Militärbündnis OVKS) – anders als EU und NATO im Falle Osteuropas und der Ukraine – sich in keinerlei geographischer Nähe zu Mittelamerika befinden; sich in Mexiko zweitens niemand – anders als in Osteuropa und in der Ukraine in Bezug auf Russland – vor territorialen Ansprüchen, geschweige denn Angriffen der USA fürchtet (zumindest bisher noch nicht, müsste man im Hinblick auf den jetzigen US-Präsidenten vielleicht hinzufügen), vor denen die Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis Schutz versprechen würde; und drittens Eurasische Union oder OVKS auch nicht als seit 76 jahren erprobtes reines Verteidigungsbündnis wie die NATO bekannt sind, die abgesehen vom völlig anders gelagerten Einsatz im Kosovo-Krieg 1999 noch niemals einen Angriffskrieg auf ein anderes Land und dies schon gar nicht zur Durchsetzung territorialer Ansprüche unternommen hat, sondern im Gegenteil genau dazu dient, andere von solchen Schritten abschrecken.
Noch dazu haben die westlichen Länder, als sich die Länder Osteuropas aus freien Stücken für eine NATO-Mitgliedschaft entschieden haben, Russland damit keineswegs überfahren, sondern in ständigem Dialog mit Russland umfangreiche Bemühungen unternommen, den russischen Bedenken Rechnung zu tragen, weshalb ja auch der von der Ukraine gewünschte NATO-Beitritt (nicht zuletzt auf Drängen Deutschlands) auf unbestimmte Zeit zurückgestellt wurde. Es war Russland, das schon 2014 in der Ukraine mit der gewaltsamen Verschiebung von Grenzen in Europa begonnen hat. Und es waren mit Frankreich und Deutschland zwei westliche Länder, die sich selbst dann noch weiter um einen Ausgleich mit Russland bemüht haben (vgl. Minsker Abkommen).
Hinzu kommt noch, dass die eigentliche (und tatsächlich einzige) Bedrohung Russlands – oder vielmehr die des Russischen Regimes – durch westliche Länder im westlichen Lebensstil liegt, der durch individuelle Freiheiten, wirtschaftliche Prosperität und kollektiven Wohlstand gekennzeichnet ist (insbesondere im Vergleich zu den Zuständen in Russland) und – so die große Befürchtung im Kreml – von Menschen auch in Russland als erstrebenswert angesehen werden könnte, vor allem wenn er sich im Nachbarland ausbreiten würde. Die weltweite mediale Vernetzung war bereits zur Zeit der Kiewer Maidan-Proteste (2013/14) so fortgeschritten, dass eine gezielte Beeinflussung der Menschen in der Ukraine pro Westorientierung durch westliche Geheimdienste mit Sicherheit überflüssig gewesen wäre und wohl vermutlich auch eher eine propagandistische Erfindung des Kreml sein dürfte. So wie bekanntlich die Produktion von lügnerischer Propaganda und Desinformation in staatlichem Auftrag – nach innen wie nach außen gerichtet – in Russland mittlerweile ein Niveau erreicht hat, dass man hier schon beinahe vom drittwichtigsten Wirtschaftszweig des Landes sprechen kann (nach dem Rohstoffsektor und der Waffenproduktion).
Was folgt nun aus all dem? Der erfolgversprechendste Weg, den Ukraine-Krieg zu beenden und dessen Ausweitung auf das übrige Europa zu verhindern, dürfte es wohl sein, die Ukraine in einem solchen Maße hochzurüsten, dass Russland gegen sie militärisch nicht mehr weiter vorankommt. Erst dann wird Putin zu einem Waffenstillstand bereit sein, weil es erst dann für ihn keinen Sinn mehr hat, noch weiter seine Ressourcen zu verpulvern. Ob Europa es aus eigener Kraft und ohne die Hilfe der USA schaffen kann, wird sich zeigen. Solange es geschlossen und einig agiert, kann es dem Aggressor weiter die Stirn bieten. Und genau das liegt auch im deutschen nationalen Interesse. Wer in Erwägung zieht, die Ukraine stattdessen ihrem Schicksal zu überlassen, möge auch bedenken, welche neuen Flüchtlingsströme in die Europäische Union dies zur Folge hätte. Wie es früher immer hieß: Was gut ist für Europa, ist auch gut für Deutschland.
P.S.: Nachdem ich diesen Text verfasst habe, kommt die Meldung, dass Donald Trump nun doch härtere Sanktionen gegen Russland verhängen würde, aber nur unter der Bedingung, dass sich ausnahmslos alle NATO-Länder – also z.B. auch die Türkei – dazu bereit erklären, kein russisches Öl mehr zu kaufen und hohe Strafzölle auf Importe aus China zu erheben. Man darf skeptisch sein, ob das jemals gelingen wird… Weiterhin erklärte Trump u.a. noch, dass dieser “todliche, aber lächerliche Krieg” ja schließlich “Bidens und Selenskyis Krieg” sei, so wie er auch früher schon geäußert hatte, die Ukraine hätte diesen Krieg nie beginnen dürfen. Man fragt sich, ob er als nächstes sagen wird, der 2. Weltkrieg sei ja Churchills und Roosevelts Krieg gewesen und Polen hätte ihn nie beginnen dürfen. In Trumps Welt der “alternativen Fakten” ist alles möglich.
justament.de, 4.8.2025: Der Zerrissene
Die Ausstellung “Meine Zeit. Thomas Mann und die Demokratie” in Lübeck
Thomas Claer
Da hat man es also im zweiten Anlauf doch noch in die Ausstellung über “Thomas Mann und die Demokratie” in Lübeck geschafft, die natürlich Pflichtprogramm für jeden Interessierten ist – im hundertfünfzigsten Geburts- und zugleich siebzigsten Todesjahr des Großliteraten. Zwar bleibt es auch weiterhin eine offene Frage, ob prominente Schriftsteller in Fragen der politischen Urteilskraft wirklich bewanderter sind und mehr zu sagen haben als andere Zeitgenossen. Doch da Thomas Manns zeitlebens vielfach getätigte politische Äußerungen nun einmal in der Welt sind, sie auch in zunehmendem Maße Beachtung gefunden haben und noch dazu punktuell eine bemerkenswerte Divergenz zueinander aufweisen, sind sie zweifellos ein dankbares Thema für eine klug kuratierte Ausstellung wie diese.
Auf den ersten Blick nämlich hat Thomas Mann, was sein politisches Weltbild angeht, eine spektakuläre Wandlung durchlaufen: als erzkonservativ-reaktionärer Demokratieverächter im wilhelminischen Kaiserreich gestartet und als leidenschaftlicher Kämpfer für die westliche Demokratie geendet, der in seinen letzten Lebensjahren sogar wegen angeblicher kommunistischer Umtriebe – es war die berüchtigte McCarthy-Ära – sein zur Wahlheimat gewordenenes Exil in den USA verlassen musste. Die Geschichte dieser erstaunlichen Metamorphose erzählt die Lübecker Schau in nur sechs nicht übermäßig großen Räumen, aber mit einer Menge gut aufbereitetem Bild- und Tonmaterial sowie zahlreichen erhellenden Texttafeln.
Blickt man allerdings genauer hinter die Kulissen, so bekommt das Bild vom letztendlich grandios geläuterten Demokratiefreund dann doch einige Risse. Denn der nobelpreisdekorierte Weltliterat erweist sich über die Jahre vor allem als beständig unsicherer Kantonist. Durchzogen von leisem Zweifel, von fortwährendem Einerseits und Andererseits, waren schon seine frühen Texte, und dies blieb dann auch später so, bis zu seinen epochalen Radio-Ansprachen für die BBC: “Es fragt sich, ob der Mensch um seiner seelischen und metaphysischen Geborgenheit willen nicht lieber den Schrecken will als die Freiheit.” Genau das fragt man sich heute auch manchmal wieder…
Die Ausstellung unterteilt Thomas Manns Leben hinsichtlch seiner politischen Bekenntnisse in drei grundverschiedene aufeinanderfolgende Abschnitte: Deren erster reichte ziemlich genau bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Da war Thomas Mann bereits 43 Jahre alt, hatte gerade seine berüchtigten “Betrachtungen eines Unpolitischen” verfasst und formulierte darüber hinaus die folgenden hochproblematischen Verlautbarungen: “Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.” “Sind es nicht völlig gleichnishafte Beziehungen, welche Kunst und Krieg miteinander verbinden? Mir jedenfalls schien von jeher, dass es der schlechteste Künstler nicht sei, der sich im Bilde des Soldaten wiedererkenne.” “Wem Freiheit, umfassendes Wohlwollen, menschliches Denken und Fühlen als der eigentlich national-deutsche Gemütszustand gilt, eben der muss mit ganzer Seele hoffen, dass Deutschland siegreich sei – und im Dienste dieser Hoffnung das Seine tun.” Und, direkt am Kriegsende, in seinem Tagebuch sogar dies: “Ich bin imstande, auf die Straße zu laufen und zu schreien ‘Nieder mit der westlichen Lügendemokratie! Hoch Deutschland und Russland! Hoch der Kommunismus!'”
Doch machte Thomas Mann schon bald darauf überraschend seinen Frieden mit der Demokratie (“Die Republik ist ein Schicksal.”) und sprach nun immer öfter von “Verantwortlichkeit”. Diese zweite Phase seines politischen Wirkens bezeichnet die Ausstellung als jene seines “Vernunftrepublikanismus”, auf die Thomas Mann später mit den folgenden Worten zurückblickte: “Bloße vier Jahre nach dem Erscheinen der ‘Betrachtungen’ fand ich mich als Verteidiger der demokratischen Republik, dieses schwachen Geschöpfes der Niederlage, und als Anti-Nationalist, ohne dass ich irgendeines Bruches in meiner Existenz gewahr geworden wäre, ohne das leiseste Gefühl, dass ich irgendetwas abzuschwören gehabt hätte. Gerade der Antihumanismus der Zeit machte mir klar, dass ich nie etwas getan hatte – oder doch hatte tun wollen – als die Humanität zu verteidigen.”
Erst nach Hitlers Machtergreifung, die für Thomas Mann selbstredend auch eine erhebliche persönliche Gefährdung bedeutete, setzte die dritte Etappe seines politischen Lebens ein, die seines nunmehr sehr entschiedenen Einsatzes für die westliche Demokratie, wozu schließlich auch die erwähnten Radioansprachen in der BBC an das Deutsche Volk sowie Wahlkampfauftritte für den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Rosevelt gehörten. Allerdings drang auch zu dieser Zeit – siehe die oben zitierte Passage, wonach der Mensch womöglich eher den Schrecken wolle als die Freiheit – das pessimistische Menschenbild des Konservativen durch. Um von seinem irritierenden Aufsatz “Bruder Hitler”, der in der Ausstellung allerdings erstaunlicherweise ausgespart bleibt, gar nicht erst zu reden, wonach die Verbrechen des Führers sich nicht zuletzt aus seiner Künstlernatur speisten, was dann schon wieder ähnlich frivol anmutet wie die oben zitierte von ihm behauptete Nähe von Künstler- und Soldatentum während des Ersten Weltkriegs…
So bringt wohl am vollkommmensten Thomas Manns in seiner Lebsnmitte – vor gut 100 Jahren – veröffentlichter Roman “Der Zauberberg” seine politische Haltung des Sowohl als auch auf den Punkt. Als Thomas Mann einmal gefragt wurde, welcher seiner fortwährend miteinander disputierenden Romanfiguren Settembrini und Naphta er näherstünde, da antwortete er: Keinem von beiden, sondern Hans Castorp. So wie sein Romanheld, der “einfache junge Mann” Hans Castorp, um dessen Seele die beiden Philosophen sich im “Zauberberg” streiten, so war wohl auch sein Verfasser sein Leben lang hin und hergerissen von den politischen Stürmen seiner Zeit. Und so gesehen passt diese Lübecker Ausstellung auch bestens in unsere politisch wieder sehr bewegte Gegenwart.
Meine Zeit. Thomas Mann und die Demokratie
St. Annen-Museum, Lübeck
EIntritt: 12,00 Euro / Noch bis 18.1.2026
justament.de, 30.6.2025: Anspruch und Wirklichkeit
Anspruch und Wirklichkeit
Die Dauerausstellung “Alltag in der DDR” im Museum in der Kulturbrauerei
Thomas Claer
Die DDR ist bekanntlich vor 35 Jahren untergegangen, und das ist natürlich auch gut so. Doch lebt sie unzweifelhaft weiter in der bereits 2013 eingerichteten und seitdem kontinuierlich erweiterten Dauerausstellung “Alltag in der DDR” im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg. Für null Euro Eintritt kann sich hier jeder, der möchte, einen sehr lebendigen Eindruck davon verschaffen, wie sich das tägliche Leben hinter Mauern und Stacheldraht seinerzeit so angefühlt haben mag. Man steht dann also neben einem echten Trabant, läuft durch eine mit viel Liebe zum Detail nachgebaute HO-Kaufhalle, blättert in Stasi-Akten, liest Briefe von unglücklichen NVA-Soldaten und vieles andere mehr. Die Ambivalenzen des DDR-Alltags sollen hier gezielt gezeigt werden, und das gelingt auf grandiose Weise. In diesem Staat war nämlich beinahe alles ambivalent: einerseits sich großspurig fortschrittlich gebend, andererseits kleinkariert und verbiestert. Und kaum irgendwo sonst auf der Welt ist wohl jemals die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so übermächtig gewesen wie im real existierenden Sozialismus deutscher Prägung.
Es bleibt nicht aus, dass man als gelernter DDR-Bürger an diesem Ort sentimental wird, wenn plötzlich die Kulissen der eigene Kindheit und Jugend wieder vor einem auferstehen. Stundenlang könnte ich mich durch diese Räume treiben lassen und würde wohl immernoch irgendwo etwas neues Altbekanntes entdecken. Mein Lieblingsexponat in der Ausstellung ist selbstverständlich der Original-DDR-Zeitungskiosk mit lauter ostdeutschen Printprodukten aus jener Zeit – und dazu noch mit DDR-Fähnchen und einem Propaganda-Aushang zum 1.Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse. Klar, so lange, wie ich zurückdenken kann, gehörten Zeitungskioske trotz all ihrer damaligen Beschränktheit zu meinen Lieblingsorten. Und dieser hier rekonstruierte ist fürwahr wirklichkeitsgetreu gestaltet, zumindest auf den ersten Blick. Tatsächlich ist er dies dann freilich doch nicht, wenn man bedenkt, dass sicherlich an keinem Kiosk in der ganzen DDR die Bezirkszeitungen unterschiedlicher Regionen (wie hier “Schweriner Volkszeitung”, “Leipziger Volkszeitung” und noch weitere) nebeneinanderliegend offeriert worden sein dürften. Es gab jeweils nur entweder die eine oder die andere, je nachdem, wo man sich gerade befand. Und auch solche typische “Bückware” wie die qualitativ bemerkenswert hochwertige Zeitschrift “Wochenpost” habe ich seinerzeit nie an einem Zeitungskiosk ausliegen gesehen. Sie ging entweder an ihre glücklichen Abonnenten (darunter meine Großeltern) oder nur an die privilegierte Kundschaft der Kioskfrau. Überhaupt waren damals nach meiner Erinnerung eigentlich alle auch nur ansatzweise interessanten Printprodukte regelmäßig schon nach kurzer Zeit ausverkauft. Wirklich immer vorhanden waren in der Auslage im DDR-Zeitungskiosk nur langweilige Journale wie die legendäre “Sowjetfrau”, auf deren Cover immer Damen mit unfassbar altmodischen Kleidern und Frisuren prangten. Aber das sind Feinheiten, die hier kaum ins Gewicht fallen. Kurzum, das Museum in der Kulturbraurei sollte zum Pflichtprogramm eines jeden Berlin-Besuchers gehören.
justament.de, 19.5.2025: “Wir leben längst im Krieg”
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkriegsendes, Teil 2
Man sprach ja zu DDR-Zeiten vom “Tal der Ahnungslosen”. Das waren die Regionen in der DDR ohne Westfernseh-Empfang, also vor allem die Gebiete in Vorpommern und östlich von Dresden. Wirkt das “Tal der Ahnungslosen” vielleicht heute noch nach? Haben nicht diese Gegenden tendenziell einen besonders hohen AfD-Anteil bei Wahlen? Und könnte nicht insbesondere auch die zu DDR-Zeiten fehlende Empfangbarkeit von westlichen Kindersendungen, die ja sehr multikulturell und reformpädagogisch waren (wie “Sesamstraße” oder “Sendung mit der Maus”), die Menschen in diesen Gegenden viel anfälliger für Rassismus gemacht haben?
Also es war zu DDR-Zeiten so, dass insbesondere in Südost-Sachsen, wo es keinen einfachen Empfang von Westmedien gab (was allerdings so auch nicht ganz stimmte), die Ausreisewellen und -quoten höher waren als anderswo im Land. Das hat man sich damals so erklärt, dass dort eine größere Romantisierung des Westens erfolgte als dort, wo man westfernsehen konnte. Das traf aber bereits auf die Achtzigerjahre nicht mehr richtig zu, weil dann schon Gemeinschaftsantennen gebaut wurden, die irgendwann nicht mehr verhindert wurden. Es gab sogar in Zeitschriften wie “praktika”oder in nachrichtentechnischen Zeitschriften Arbeitsanleitungen, wie man solche Gemeinschaftsantennen bauen kann, und die auf dem Berg erichtet, so dass das ganze Dorf Westfernsehen schauen kann. Das hatte damals durchaus hohe Auswirkungen. Heute glaube ich an diese Art Spätfolgen diesbezogen nicht, weil: Klar, wir haben uns immer über das “Tal der Ahnungslosen” in diesen beiden von Ihnen genannten Gebieten lustig gemacht, aber so ahnungslos waren die auch nicht. Den Deutschlandfunk konnte man dort trotzdem empfangen über Mittelwelle. Das haben auch viele gemacht. Ich glaube, da wirken ganz andere Kräfte, historische Traditionen, viel stärker, gerade in Sachsen: der Abscheu gegenüber Preußen, der Abscheu gegenüber dem Zentrum in Berlin. Das sind alles viel ältere Ressentiments, die zu Ost-Zeiten weiterwirkten und danach, nach 1990, neu aufbrachen. Und so weiter und so fort, das kann man auch anhand der Weimarer Republik sehen. Deshalb diese unterschiedlichen Entwicklungen in verschiedenen Regionen. Und wenn man sich heute die Wahlen anschaut, das politische Klima, dann wird man zwischen dem Landkreis Plauen, direkt an der Grenze zu Hof gelegen, und Görlitz keinen großen Unterschied feststellen. Das gleiche gilt für Greifswald und Wismar. Da gibt es in den ländlichen Regionen auch keine großen diesbezüglichen Unterschiede mehr in den Negativentwicklungen.
Nächste Frage: War es aus Ihrer Sicht richtig, zu den Gedenkfeiern am heutigen 8. Mai keine russischen und belarussischen Vertreter einzuladen?
Aber selbstverständlich. Die Hauptlosung lautete: “Nie wieder!” Die Russländische Föderation mit Unterstützung von Belarus ist aktuell Kriegsführer. Das ist ein Vernichtungsfeldzug gegenüber der Ukraine. Diese einen Angriffskrieg führenden Parteien haben bei einer Feier zum Gedenken an ein Kriegsende nichts zu suchen. Hinzu kommt noch die kriegspolitische Offerte: Russland instrumentalisiert ja den Zweiten Weltkrieg als seinen Krieg, als ob keine anderen auf seiner Seite beteiligt gewesen seien. Die größte Opfergruppe in diesem Krieg auf Seiten der Sowjetunion waren aber die Ukrainer und die Belarussen. Das unterschlagen Putin und der Kreml geflissentlich im Geschichtsunterricht und überall. Insofern ist es selbstverständlich, dass die nicht eingeladen werden. Wir stehen, jedenfalls politisch und was viele Menschen betrifft, auf der Seite der Ukraine. Und da haben die Russen gerade bei diesen Feierlichkeiten nichts zu suchen. Sie müssen auf allen Ebenen in absoluter Gänze isoliert werden. Das gelingt auf der weltpolitischen Ebene nicht, nicht zuletzt wegen China und Indien. Aber wir als Europäer sollten das so machen. Ich finde das richtig. Wobei ich erwähnen möchte, dass ich ukrainische Vorfahren habe. Ich rede hier also gewissermaßen parteiisch und betroffen. Für mich ist das in Russland ein Verbrecherregime. Die gehören eigentlich gar nicht an den Verhandlungstisch, sondern die gehören nach Den Haag (Sitz des “Haager Tribunals”, des Internationalen Strafgerichtshofs; d. Red.).
Apropos Isolation: Denken Sie, dass sich auf mittlere und lange Sicht das Konzept der Brandmauer gegen die AfD noch aufrechterhalten lässt? Besonders in vielen ostdeutschen Regionen und Bundesländern ist es ja schon sehr schwierig geworden, das durchzuhalten, und möglicherweise wird es in Zukunft sogar noch schwieriger werden…
Man muss ja immer unterscheiden zwischen Landes-/Bundesebene und der kommunalen Ebene. Mir ist vollkommen klar, dass auf einer kommunalen Ebene, wo sich die Leute alle kennen, in den kleinen Städten, auf den Dörfern, wenn da 30, 40, 50, 60 Prozent die AfD wählen – neulich war ich in einem Dorf, da waren sogar 70 Prozent AfD-Wähler, – da kann man schlecht von Brandmauern reden, weil: die kennen sich alle. Da kann man pragmatisch rangehen und sagen: O.k., auf der Ebene einer Kleinstadt wird nicht Krieg und Frieden verhandelt, sondern da geht es um die Reparatur der Freiwilligen Feuerwehr, um den Stadtpark und den Dorfteich, und da müssen die miteinander reden. Aber das gilt halt nicht für die Landesebene und für die Bundesebene. Was passiert nun, wenn nächstes Jahr bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt die AfD die absolute Mehrheit erringen sollte? Und das droht. Das wird der Lackmus-Test nächstes Jahr. Dann wird man sehen, dann gibt es kein Halten mehr. Und insofern kann ich nur sagen: Es sind in der Vergangenheit dramatische Fehler von der Politik gemacht worden. Es ging da los, dass man ein Verbotsverfahren gegen diese faschistische Partei schon längst hätte in Gang setzen müssen. Wahrscheinlich ist es dafür jetzt zu spät, egal was der Verfassungsschutz sagt. Ich finde es ja eigentlich spannend, ob jemand jetzt noch den Mut aufbringt, ein Verbotverfahren in Gang zu setzen. Ich glaube das eigentlich nicht, denn man würde sich ja automatisch gegen 10 Millionen WählerInnen stellen. Das darf man nicht vergessen. Das ist also die eine Katastrophe. Die zweite Katastrophe war, wenn wir uns den letzten Bundestagswahlkampf anschauen: Fast alle Parteien haben die AfD-Sprache übernommen. Sie haben nicht nur die Themen übernommen, sondern auch die Sprache. Und das ist ein Riesenproblem. Man schlägt nicht einen Feind der Demokratie und Freiheit, indem man versucht, ihn rechts zu überholen, sondern man greift die Themen auf und füllt sie mit eigenen Inhalten und widerspricht dem. Und das ist viel zu selten passiert. Und insofern ist das jetzt eine Situation, die mir fast wie eine Sackgasse erscheint. Und deswegen habe ich auch vorhin davon gesprochen, dass wir an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter stehen, weil wir auch jetzt beobachten können: Die AfD wird in der Gunst ihrer potenziellen WählerInnen nicht verlieren. Sie wird vermutlich in den nächsten Wochen und Monaten eher noch zulegen. Und dann haben wir nicht nur ein politisches Problem, und ich schaue wirklich düster in die Zukunft.
Das ist sehr beunruhigend, für uns auch. Kommen wir noch zu den aktuellen Faschismusdebatten: Ist Trump in Ihren Augen ein Faschist? Das haben Sie schon beantwortet, ganz klar. Ist Putin ein Faschist? Ja, selbstverständlich auch. Wie ist es mit den Tech-Milliardären aus Amerika?
Die sind ja die eigentlichen Machthaber. Das haben wir in den letzten Wochen so eindringlich vor Augen geführt bekommen, wie sich das Karl-Eduard von Schnitzler nicht hätte träumen lassen. (Der berühmteste Propagandist des kommunistischen Regimes, der jede Woche montags im DDR-Fernsehen eine halbe Stunde lang gehetzt hat.) Das hätte sich ja niemand träumen lassen, dass das so offen funktioniert. Dass die Tech-Milliardäre so offen ihre Macht demonstrieren. Dass sie die eigentliche Macht haben. Und das ist auch das eigentliche Problem in unserer Welt: Wir erleben ja gegenwärtig eine globale digitale Revolution, und niemand weiß, wohin uns diese globale digitale Revolution führt. Niemand weiß, ob unser Arbeitsplatz, den wir heute haben, morgen noch existieren wird. Das verunsichert viele Menschen. Viele Menschen sind getrieben von Verlustängsten, gerade in der westlichen Welt, weil nur dort die Menschen wirklich verlieren können in breiten Schichten. Diese Verlustängste sind extrem, und diese Verlustängste treiben dann viele Menschen in die Arme derjenigen, die ganz einfache Antworten haben. Diese Extremisten sagen ja nichts anderes als: Wir führen euch in die Zukunft, und die Zukunft wird so aussehen, wie die harmonisierte Vergangenheit schon mal war. Also sie arbeiten mit Lügen, mit völkischen Argumenten, mit rassistischen Argumenten. Sie sagen ja auch immer, wer schuld ist, das sieht man ja ganz klar. Es sind immer rassistische Argumente, indem man Schuldgruppen definiert. Es sind alles letztlich faschistische Argumente. Und da sind die Tech-Milliardäre in den USA keine Kräfte, die das aus rein egoistischen Gründen machen. Ich habe bisher immer gedacht, sie machen das nur aus Profitgründen. Aber sie wollen ja tatsächlich die Macht haben. Das hat man nun an Musk sehr gut gesehen. Das sieht man an den anderen Falken ganz genauso, wie sie auch eingeknickt sind vor Trump. Und insofern: Ja, sie sind Teil des faschistischen Systems.
Würden Sie eine Prognose wagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird?
Am Verhandlungstisch. Das war von Anfang an klar. Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch. Ich hoffe, dass das ein Verhandlungstisch wird wie in Deutschland oder wie in Japan, wo die Schuldigen am Krieg entsprechend bedingungslos eine Kapitulationsurkunde unterzeichnen müssen. Aber das ist natürlich eine Hoffnung, die nicht in Erfüllung gehen wird. Das ist mir vollkommen klar. Es wird mit einem schlimmen Kompromiss enden. Egal, wie auch immer, es wird ein schlimmer Kompromiss. Schlimm deshalb, weil Putin und sein Regime – oder zumindest der Kreml, denn vielleicht stirbt Putin vorher – über einen Kompromiss zurück auf die Weltbühne finden werden. Über ihre Verbündeteten China, Indien und Brasilien, die sie auf die Weltbühne zurückhieven werden, mit Unterstützung wahrscheinlich von Trump. Der schlimme Kompromiss wird sein, dass die Waffen scheinbar schweigen, aber die Russen Gebiete okkupieren können, also ukrainisches Territorium behalten können, höchstwahrscheinlich die Krim, wahrscheinlich Teile der Ost-Ukraine. Das war auch von Anfang an irgendwie klar. Es hängt natürlich auch mit dem unentschiedenen Handeln Europas zusammen, sozusagen einer Politik, die der Ukraine alles gibt, damit sie nicht verliert, aber nichts gibt, damit sie gewinnt. Das sind ja zwei verschiedenene Dinge. Sie kriegt genügend, um nicht zu verlieren, aber nicht genug, um zu gewinnen. Und deswegen wird das wahrscheinlich mit einem schlimmen Kompromiss enden. Russland wird am Ende auch nicht als strahlender Sieger dastehen: mit zerrütteter Wirtschaft, mit völlig zerrütteten Staatsfinanzen, die nicht über Nacht wieder in Ordnung gebracht werden können. Die NATO hat jetzt mit Russland eine 1.500 km längere Grenze als vorher. Vorher gab es kaum NATO-Grenzen mit Russland. Jetzt hat Russland eine extrem lange NATO-Grenze mit Finnland. Für Russland ist das alles also auch kein großer Sieg, aber sie werden das anders verkaufen. Ich gehe aber davon aus, dass der Krieg noch länger dauert, als es uns allen recht ist. Und nochmal, damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich hoffe auf einen Sieg der Ukraine auf ganzer Front.
Das hoffen wir auch, aber wahrscheinlich vergeblich… Sie haben sich ja vorhin schon kritisch geäußert über die verteidigungspolitischen Fähigkeiten von Deutschland aktuell. Halten Sie es zumindest mittelfristig für denkbar, dass Deutschland eine verteidigungspolitische Führungsrolle in Europa übernehmen kann? Deutschland wurde ja zuletzt ausdrücklich von einigen amerikanischen Stimmen darum gebeten. Etwa Prof. Timothy Snyder hat sich so geäußert. Halten Sie das für realistisch?
Wir reden ja immer auf zwei Ebenen. Die eine Ebene ist Technik, ist Personal, also sprich Geld. Das ist nicht Deutschlands Problem. Das war Deutschlands Problem, weil in den letzten 30 Jahren die Armee massiv abgerüstet wurde, vernachlässigt wurde. Das lässt sich beheben. Das ist eine Frage von Geld, und Deutschland hat viele Probleme, aber keine Geldprobleme. Das wird immer nur so dargestellt. Das eigentliche Problem ist aber: Verteidigung fängt im Kopf an. Du brauchst eine Mentalität und eine Bereitschaft, dein Land und deine Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft gibt es in Deutschland nicht. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Russland Deutschland angreifen würde, das erste, was in Deutschland ausverkauft wäre, wären weiße Bettlaken. Und das ist das eigentliche Problem. Ich bin nach wie vor ein großer Verteidiger des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Das ist in meinen Augen ein Menschenrecht. Das gehört zu unserer politischen DNA. Aber das ist kein Widerspruch dazu, dass trotzdem eine Gesellschaft bereit sein muss, sich, ihre Grenzen und ihre Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft sehe ich kaum. Wir sind eine stark pazifizierte Gesellschaft, was zu Friedenszeiten ein großer Vorteil ist. Aber wir haben keine Friedenszeiten mehr, um das ganz klar zu sagen. Wir leben längst im Krieg. Wir haben längst einen Weltkrieg. Die meisten Menschen akzeptieren das bloß nicht, weil es sie nicht interessiert. Weil sie es sozusagen ignorieren, dass tagtäglich auf die kritischen Infrastrukturen unserer Gesellschaft Angriffe stattfinden. Und das sind keine Bombenangriffe. Das sind Cyberangriffe, die weitaus größere Auswirkungen haben, als vielen Menschen bewusst ist. Vor allem auch psychologische, psychische Auswirkungen. Und Russland und China sind unentwegt dabei, diesen Cyberkrieg zu führen, der teilweise ja auch ein physischer ist, wenn man daran denkt, wie sie Unterseekabel kappen u.s.w. Das ist ja Teil ihres Cyberkriegs. Und wenn man an ihren Propagandakrieg denkt, wie Narrative mit hunderttausenden Bots nach Europ einfließen, wie auch hier in der Politik überall Agenten und Spitzel sind u.s.w., da gibt es meines Erachtens keine adäquate Reaktion darauf aus der Gesellschaft heraus. Und insofern: Die Verteidigung, die in den Köpfen anfängt, ist in Deutschland ganz anders als in den skandinavischen Ländern, ganz anders als in Polen, ganz anders als in den Niederlanden, ganz anders als in England oder Frankreich oder Spanien, wo es das alles gibt. Das alles gibt es in Deutschland nicht. Und es hat natürlich auch etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun und den Jahrzehnten danach, mit der Politik, und dann aber eben auch mit einer verfehlten Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Herstellung der Deutschen Einheit. Das ist aber kein Schuldvorwurf. Ich habe das natürlich auch nicht anders gesehen. Ich fand das auch wie viele, vor allem in den Neunzigerjahren, toll. Allerdings bin ich auch umgeschwenkt. Damals in den Neunzigerjahren gehörte ich sehr frühzeitig zu den Befürwortern militärischer Einsätze auf dem Balkan zur Verhinderung von Massenmorden, zur Wiederherstellung der Menschenrechte. Da war ich unter meinen politischen Freunden in den Neunzigerjahren in einer absoluten Minderheit. Aber das musste ich eben auch erst lernen. Und jetzt müssen viele Deutsche lernen, dass die Verteidigungsbereitschaft zu unserer politischen DNA zählen muss, wenn man nicht untergehen will, denn ich bin fest davon überzeugt, dass Russland längst an weiteren Plänen arbeitet und sich massiv darauf vorbereitet, Europa anzugreifen, denn es geht hier nicht um Gebietseroberungen. Es geht hier nicht um Territorien, sondern es geht um die Frage: Diktatur oder Freiheit? Und wenn du ein Imperium hast, an dessen Grenzen Freiheit herrscht, und du selber hast eine Diktatur, dann bedroht dich diese Freiheit, weil da dieser Bazillus immer wieder auf dein Imperium überspringen könnte. Und Putin als KGB-Offizier, als Sowjetmensch ist das sozusagen noch ins Fleisch eingeschrieben, dass das sowjetische Imperium nicht zuerst im Zentrum unterging, sondern an seinen Rändern. In Polen zum Beispiel, weil dort der Freiheitsbazillus nicht mehr zu beherrschen war. Und genau das will er versuchen einzudämmen, und deshalb ist er der Feind Europas.
Sollte Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen?
Da habe ich keine Ahnung von. Ich glaube aber nicht, dass das das Problem ist. Wir haben andere Länder auf der Welt ohne Wehrpflicht. Schauen Sie in die USA, schauen Sie in andere Länder. Wehrpflicht ja oder nein? Ich würde eher eine Debatte führen wollen über einen Sozialen Dienst. Ich finde das vernünftig, wenn junge Menschen nach der Schule ein Jahr in der Gesellschaft sind, volle Arbeit machen, um auch andere Ecken der Gesellschaft kennenzulernen. Aber Wehrpflicht ist nicht das Grundproblem, wenn es um Verteidigungsbereitschaft geht. Es gibt genug Leute, die in der Armee dienen wollen. Im übrigen: Selbst wenn wir morgen die Wehrpflicht wieder einführen würden, die wir abgeschafft haben – ich war auch dafür -, dann würde man Jahre brauchen, um die Strukturen wieder herzustellen, um diese Wehrpflicht überhaupt wieder mit Leben erfüllen zu können, weil diese Strukturen auch gar nicht mehr existieren.
Letzte Frage: Sollte sich zumindest auf Ebene der Bundesländer die CDU auch für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei öffnen?
Ich habe ein, zwei Tage nach der Bundestagswahl ein Statement abgegeben, was dann durch die Medien ging, dass ich es in Ordnung finde, dass die Linkspartei solchen Erfolg hatte, weil das ein Zeichen der verfehlten Politik der anderen ist, weil sie sich eben auch auf wichtige sozialpolitische Punkte orientierten. Das fand ich gut. Insofern war das gerechtfertigt. Ich bin kein Freund dieser Partei. ich bin immer wieder ein scharfer Kritiker dieser Partei und habe aber gerade gestern auch gepostet, was eine große Verbreitung fand in den sozialen Medien, dass nach diesem Desaster, was Merz bei der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang erlebt hat und nachdem die Linkspartei dann signalisiert hat, sie sind für die Veränderung der Geschäftsordnung, dass es nun endgültig vorbei sein muss mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss, der im übrigen ja wegen Sahra Wagenknecht erfolgt ist. Und ich habe auch damals schon gesagt, als Wagenknecht aus der Linken ausgetreten ist: Jetzt ist es aber Zeit, diesen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linkspartei aufzuheben, auch wenn ich nach wie vor diese Partei ablehne, während man aber einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem BSW treffen müsste, denn das ist die systemfeindliche Partei. Und dazu ist es nicht gekommen, weil man sie in Thüringen brauchte, was ich für einen Skandal halte. Ich habe ein gemeinsames Buch mit Bodo Ramelow geschrieben, das im August erscheint und das eben auch zeigt, dass ich der Meinung bin: Das sind DemokratInnen in dieser Partei, und unter Demokraten muss man miteinander reden, selbst wenn man in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung ist. Aber ich unterstelle einem Mann wie Bodo Ramelow, dass er nur das Beste für unsere Gesellschaft will, auch wenn ich andere Dinge wichtiger finde.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.
Aktuelle Buchempfehlung:
Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1
Am 21.8.2025 erscheint:
Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316
justament.de, 12.5.2025: “An der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter”
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkkriegsendes, Teil 1
Es ist Feiertag in Berlin, und das nur in Berlin. Kein Mensch arbeitet heute hier. Nur der Historiker und streitbare Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk ist uns zum Interview zugeschaltet. Er ist bestens gelaunt, trotz all der wenig erfreulichen Dinge, die er uns gleich erzählen wird.
ISK: Wir haben 45 Minuten Zeit.
Kriegen wir hin. Erste Frage: Warum wird die weitgehend rechtsextreme Partei AfD – inzwischen kann man ja sogar sagen: die gesichert rechtsextremistische Partei AfD – in Ostdeutschland fast doppelt so viel gewählt wie in Westdeutschland?
ISK: Also ich sage schon seit Jahren, dass das eine faschistische Partei ist. Und in jeder faschistischen Partei gibt es auch Leute, die keine Faschisten sind. Also insofern ist das für mich keine neue Erkenntnis, die der Verfassungsschutz jetzt offizialisiert hat. In Ostdeutschland sind mehrere Dinge zu berücksichtigen, die sich unterscheiden vom Westen. Der Faschismus und rassistische Ideologien siedeln dort nicht am Rand der Gesellschaft, sondern in der Mitte der Gesellschaft, und zwar seit vielen Jahren und Jahrzehnten. Das ist eine Mainstreamkultur. In Ostdeutschland ist der Rassismus viel stärker ausgeprägt. Er ist auch viel aggressiver und offensiver dort vorhanden. Das alles hängt mit einer nicht geleisteten gesellschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zusammen, mit einer nicht die Gesellschaft erreicht habenden Aufarbeitung des Kommunismus. Das hängt mit den Erfahrungen in der Transformationszeit zusammen, also dem Übergang vom Kommunismus zur Bundesrepublik. Mit den Erfahrungen, die die Menschen dort millionenfach machen mussten und die sie in der Konsequenz vom westlichen Liberalismus, vom westlichen System haben abrücken lassen. Und deswegen gibt es heute einen großen Hass auf den Westen, auf das westliche politische System. Und das äußert sich unter anderem in der Zuwendung zur faschistischen AfD und in der Zuwendung zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Für mich sind Sahra Wagenknecht und AfD zwei Seiten einer Medaille, und beide sind kremltreue Parteien, die die Narrative aus Moskau übernehmen und sich insofern dort mit Russland gemein machen nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Ganz kurze Zwischenfrage: Wie ist Ihre aktuelle Einschätzung zum Bündnis Sahra Wagenknecht? Sind die jetzt nach dem Nichteinzug in den Bundestag und diversen internen Querelen in einzelnen Bundesländern “weg vom Fenster”? Oder werden sie noch mal zurückkommen?
ISK: Also das kann gegenwärtig keiner so richtig sagen. Wir beobachten ja mit großem Interesse, dass die Linkspartei gerade so ein erstaunliches Revival erfährt. Die haben gerade heute verkündet, dass sie einen neuen Mitgliederrekord in den letzten 20 Jahren aufgestellt haben. Also die haben einen ungebrochenen Zulauf. Zugleich haben sie in den letzten Wochen seit dem erstaunlichen Erfolg bei den Bundestagswahlen ihre Rhetorik enorm verschärft, viel stärker linksradikale Töne anschlagend nach dem Motto: Wir wollen das System überwinden. Das ist ja auch eine Losung von Bündnis Sahra Wagenknecht, allerdings aus einer ganz anderen Richtung. Und insofern ist jetzt gerade meines Erachtens ein bisschen offen, wer sich da gegenseitig das Wasser abgräbt. Es wird sicherlich auch daran hängen, wie sich die Linkspartei in den nächsten Wochen zur Ukraine, zu Russland, zu China positioniert. Und insofern würde ich da aktuell keine Prognose abgeben wollen oder können, weil das nicht seriös wäre. Aber ich halte es für verfrüht, einen Abgesang auf das BSW zu singen. Sahra Wagenknecht hat ja noch ein, zwei, drei Tage vor den Wahlen gesagt: Wenn sie scheitert, zieht sie sich aus der aktiven Politik zurück. Das hat sie nicht getan, sondern sie führt gerade Machtkämpfe in ihrer Partei, hat den ersten in Thüringen verloren. Auf die Umfragen – alle sechs Stunden gibt es eine neue Umfrage – kann man da nicht so großen Wert legen. Es wird in hohem Maße auch davon abhängen, ob Sahra Wagenknecht über kurz oder lang wieder so eine hohe mediale Präsenz erreicht, wie sie es im Bundestagswahlkampf und in den Monaten davor hatte. Wenn die Medien ihr wieder diese Podien bieten, dann, glaube ich, wird sie auch zurückkommen. Aber es hängt natürlich auch wieder davon ab: Was werden wir jetzt für eine Politik haben von der neuen Regierung? Und was werden wir für eine Opposition jenseits der Faschisten haben? Also insofern gibt es noch viel abzuwarten. Aber ich würde die Partei noch nicht für tot erklären.
Warum hat es nach Ihrer Meinung die deutsche Gesellschaft in den letzten 35 Jahren nicht geschafft, Ostdeutschland und die Ostdeutschen demokratisch zu integrieren?
ISK: Naja, also ich glaube die Frage ist schon ein bisschen problematisch. Demokratie und Freiheit sind keine Dienstleistungseinrichtungen, wo man darauf warten sollte, dass irgendwer etwas für einen macht, sondern Demokratie und Freiheit leben von dem Engagement der Menschen. In meinem Verständnis bedeutet Freiheit, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen. Sich für sich und die Gesellschaft zu engagieren, soziale Verantwortung zu übernehmen, politische Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen und Kompromisse auszuhandeln. Demokratie ist keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft. Und genau das sind alles Dinge, die viele Ostdeutsche nicht gelernt haben, die sie nicht lernen wollten und die sie bis heute auch nicht akzeptieren, weil sie letztendlich immernoch in einer obrigkeitsstaatlichen Mentalität verfangen sind. Deshalb sehnen sie sich auch nach autoritären Kräften wie der AfD oder Sahra Wagenknecht. Deshalb himmeln sie Putin an, weil das ihnen in ihrer Wahrnehmung genau das erfüllt, was sie wollen. Und genau deshalb bin ich auch viel gnädiger, was die Beurteilung westdeutschen Handelns anbelangt. Da sind viele Ungerechtigkeiten passiert. Da sind viele Dinge passiert, die man hätte verhindern können. Manches konnte man nicht verhindern. Am Ende des Tages muss man aber auch feststellen, dass die Ostdeutschen insgesamt viel zu inaktiv waren, um gewissermaßen auch ihre Beiträge zur deutschen und europäischen Demokratie zu leisten.
Was bedeutet für sie persönlich Freiheit?
ISK: Also für mich ist Freiheit der Dreh- und Angelpunkt meines Denkens und Lebens. Ich habe bis 1989 in einer Diktatur gelebt, in einem extrem gewaltvollen und unfriedlichen System. Einem System, das die Menschen eingemauert hat, und zwar nicht nur an den Grenzen, sondern auch überall im Land. Jede Schulstunde war von Mauern gekennzeichnet, von Denkverboten, von Sprechverboten. Davon war jeder Mensch in der DDR betroffen. Den meisten war es irgendwann gar nicht mehr bewusst, wie dramatisch und schlimm das war. Und insofern war für mich die Freiheitsrevolution von 1989 eine echte Befreiung. Ich begreife mich auch als Teil dieser Freiheitsrevolution. Ich bin der festen Überzeugung, dass Freiheit das Wichtigste ist, was menschliche Gesellschaften aufzubieten haben. Dass es nichts gibt, was wichtiger ist als Freiheit, weil es nichts anderes gibt ohne Freiheit. Es gibt auch keinen Frieden ohne Freiheit.
Auf welche Weise könnte man der gegenwärtigen Gefahr entgegenwirken, dass sich die Demokratie in Deutschland selbst abschafft?
ISK: Ich habe darauf keine Antwort. Deutschland ist zwar ein großes Land in Europa. Weltpolitisch gesehen ist Deutschland eine der größten Volkswirtschaften, ich glaube aktuell die drittgrößte Volkswirtschaft, hinter den USA und China, noch vor Japan, vor Frankreich, vor Italien, vor Südkorea. Was wir aber beobachten, ist in vielen, vielen Ländern des politischen Westens eine Erosion der Demokratie. Und da kann keiner irgendwie alleine im luftleeren Raum agieren. In Europa haben wir die Situation, dass in vielen Ländern die Faschisten auf dem Vormarsch sind. Sie sitzen in Finnland mit in der Regierung, wir haben rechtsextreme Kräfte in Portugal mit 20 Prozent. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union war ein Werk der Rechtsradikalen. Wir sehen, was in Frankreich droht. Egal, wo wir hinschauen: Wir haben mit Orban in Ungarn einen Verbündeten von Putin an der Macht. (Und Ungarn gehört zur Europäischen Union!) Das droht uns jetzt als nächstes in Rumänien. Und so weiter. Wir können hinschauen, wo wir wollen. Aber es gibt auch Hoffnungszeichen. Ein Hoffnungszeichen waren die Wahlen in Polen vor anderthalb Jahren. Da ist die PIS abgewählt worden. Aber zugleich ist das praktisch ein fast totes Rennen gewesen, da es ein 50-zu-50-Prozent-Ergebnis war. Und das eigentliche politische Erdbeben auf der Welt fand in den USA statt. Europa ist auf eine fahrlässige Weise von den USA abhängig, insbesondere verteidigungspolitisch. Das ist die einzige Forderung von Trump, die ich immer verstanden und geteilt habe: dass es ein unmöglicher Zustand ist, dass die reichste Region der Welt, Europa, verteidigungspolitisch abhängig ist von den USA. Das ist total absurd. Und insbesondere Deutschland! Deutschland ist wirklich nicht in der Lage, russländischen Truppen auch nur 24 Stunden Gegenwehr zu bieten. Gott sei Dank haben wir die Polen vor uns, Gott sei Dank haben wir die Skandinavier, die alle viel mehr dazu bereit sind. In Deutschland ist auch keine Mehrheit der Gesellschaft bereit, sich zu verteidigen. Es ist also eine ganz dramatische Situation. Aber das Hauptproblem ist, dass wir gerade weltweit Zeugen davon werden, wie ein faschistisches Regime in Echtzeit errichtet wird in den USA. Das wird mit einem großen Erstaunen und auch mit einem gewissen Schweigen in der westlichen Welt hingenommen, als wenn das alles noch im Rahmen von vertretbaren Grenzen ablaufen würde, was es aber nicht tut. Und wenn sich dort dieses autoritäre, womöglich faschistische Regime weiter etabliert, dann hat das natürlich enorme Auswirkungen auf Europa und insbesondere auch auf Deutschland. Und ich kann Ihnen leider keinen positiven Ausblick mitgeben. Ich glaube, wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter. Das kann ganz schlimm werden. Aber noch sind wir in Deutschland, die wir Demokratie und Freiheit verteidigen wollen, in der Mehrheit. Und deshalb müssen wir halt darum kämpfen. Aber das Problem ist: Viele Menschen in Westeuropa kennen nichts anderes als Demokratie und Freiheit. Das ist eben der grundlegende Unterschied zu Ostdeutschland, zu Polen, zu den baltischen Staaten. Die Menschen glauben, dass Demokratie und Freiheit, weil sie nichts anderes kennen, wie gottgemacht sind. Das ist eben immer so gewesen, und das wird auch immer so bleiben. Und ich sage den Leuten dann immer: Liebe Leute, das ist menschengemacht. Das kann auch wieder kaputtgehen und kann verlorengehen. Und das mögen manche Intellektuellen geistig begreifen, aber das kommt nicht an ihre Herzen ran. Sie können sich das nicht vorstellen. Und das ist ein Riesenproblem, denn wenn man sich nicht vorstellen kann, dass das, was man hat, zu Ende gehen kann, dann verteidigt man es auch nicht engagiert. Und genau in dieser Situation leben wir gerade in Europa und können das tagtäglich beobachten. Und das ist eine meiner Antriebsfedern, weshalb ich mich Tag für Tag versuche zu engagieren für Demokratie und Freiheit.
Kurze Anschlussfrage: Trotz allem, was sie gesagt haben, hat Deutschland durch seine Nazi-Vergangenheit vielleicht doch eine bessere Ausgangsposition, um diese rechtsautoritäre Bedrohung abzuwehren und um zu verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen. Insbesondere vielleicht Westdeutschland, weil Westdeutschland ja eine sozusagen “Entnazifizierung von unten” erlebt hat durch die Achtundsechziger-Bewegung – im Gegensatz zu Ostdeutschland. Kann sich das nicht als wichtiger Vorteil erweisen im Vergleich zu anderen Ländern ohne eine solche Nazi-Vergangenheit?
ISK: Also ich hätte Ihnen bis vor kurzem Recht gegeben tendenziell. Vor zwei, drei Tagen ist eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht worden, in der erstmals festgestellt wurde, dass eine relative Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ziehen will: 38 Prozent. Und weitere 26 Prozent haben keine Meinung dazu. Und das korrespondiert mit dem Aufstieg der Faschisten in Deutschland. In Ostdeutschland können sich zwei Drittel vorstellen, unter einem autoritären Regime zu leben. In Westdeutschland sind das mittlerweile auch 20 Prozent. Jeder Fünfte! Und das sind wachsende Tendenzen. Also insofern: Es gibt diesen Unterschied zwischen Ost und West. Das kann man gut historisch begründen. Das haben Sie eben sehr gut gemacht, das könnte ich mit weiteren Sachen machen. Aber Ostdeutschland ist deswegen interessant als Betrachtungsobjekt, und es sollte auch für viele andere interessant sein als Betrachtungsobjekt, weil in Ostdeutschland sich Entwicklungen nur früher, schneller und radikaler zutragen als anderswo. Und andere Regionen, insbesondere andere Regionen in Europa ziehen dann nach. Und das können wir auch über die letzten 20 Jahre im Ost-West-Deutschland-Vergleich beobachten, dass zum Beispiel die Akzeptanz von Freiheit im Westen abnimmt, dass die Zustimmungswerte zunehmen für: “Gleichheit ist wichtiger als Freiheit” und viele solche Dinge. Auch die Verteidigungsbereitschaft nimmt im Westen ab, die im Osten nie richtig da war. Es gibt nach wie vor einen großen Unterschied in der Bewertung der NATO. Während im Westen nach wie vor die NATO das Verteidigungsbündnis ist, das auch mehrheitlich begrüßt wird, gibt es diese Zustimmung im Osten nicht und auch nicht die Einschätzung, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Da gibt es natürlich große Unterschiede. Es gibt auch einen großen Unterschied in der Parteibindungsquote. Deutschland ist eine Parteiendemokratie laut Grundgesetz. Und da hat man natürlich ein Problem, wenn kaum Leute in einer Partei sind. Im Osten gibt es Regionen, die sind gewissermaßen parteifrei. Und die Parteibindungsquote ist zehnmal so gering wie im Westen. Auch da geht die Parteibindungsquote extrem zurück, aber sie ist immer noch relativ stabil. Das heißt, dass das politische System noch handlungsfähig ist. Das ist in Ostdeutschland aber nicht mehr der Fall. Bei Kommunalwahlen haben wir das Phänomen, dass die Parteien nicht mehr genug Leute haben, um die Ämter zu besetzen. Um ganz zu schweigen von der schwachen Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Die Zivilgesellschaft als Korrektiv der parlamentarischen repräsentativen Demokratie ist extrem wichtig für eine funktionierende Demokratie. Die funktioniert in Westdeutschland sehr gut, nach wie vor. Und die ist nach wie vor in Ostdeutschland extrem unterentwickelt. Sie ist schon stärker jetzt als vor zehn oder 20 Jahren, und das hat in hohem Maße auch mit Zuzug aus dem Westen zu tun. Es sind ja nicht nur sehr viele Menschen aus dem Osten in den Westen gegangen. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert! Das muss man sich mal vorstellen! Also Ostdeutschland hat heute einen extremen Männerüberschuss, ist extrem überaltert. Aber bestimmte demografische Faktoren konnten dort nur deshalb einigermaßen abgemildert werden, weil es auch eine Zuwanderung von 2 Millionen Menschen aus dem Westen gab. Die im übrigen auch dafür sorgt, dass die Wahlergebnisse im Osten nicht noch desaströser ausfallen, weil die zugewanderten Westler im Osten eher die traditionellen Parteien und keine Extremisten wählen.
Teil 2 des Gesprächs folgt in einer Woche an dieser Stelle.
Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.
Aktuelle Buchempfehlung:
Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1
Am 21.8.2025 erscheint:
Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316
justament.de, 24.2.2025: GroKo 5.0, aber bitte bis Ostern!
Deutschland nach der Bundestagswahl
Thomas Claer
Es ist also unter dem Strich noch einmal relativ gut gegangen. Die gute alte GroKo hat wieder eine Mehrheit. Der kommende Kanzler Merz wird in seinen angedrohten migrationspopulistischen Exzessen ausgebremst werden können, ohne dass es wegen zu vieler Koalitionspartner zu einer langen Hängepartie kommen muss. Was besonders erfreulich ist: Die notorische Quertreiberpartei FDP und insbesondere ihr Vorsitzender Lindner (“Mehr Milei wagen!”, “Mehr Musk wagen!”) sind mit Karacho aus dem Bundestag geflogen. Letzterer will nun seinen Abschied aus der Politik nehmen, wofür ihm großer Dank gebührt. Fairerweise muss man dazu sagen: Immerhin haben die Liberalen in der Ampel das wirklich exzellente Deutschlandticket mitgetragen und einige sozialpolitische Verrücktheiten wie das bedingungslose Bürgergeld oder einen bundesweiten Mietendeckel erfolgreich verhindert, leider aber auch das längst überfällige Tempolimit auf Autobahnen. Unverzeihlich ist jedoch ihr stures Festhalten an der Schuldenbremse (gegen den Rat nahezu aller Wirtschaftsexperten!) gewesen; als ob wir in ganz normalen Zeiten leben würden…
Was sogar noch erfreulicher ist, ist das Scheitern des Bündnis Sahra Wagenknecht an der Fünfprozenthürde und ganz besonders das angekündigte Ausscheiden seiner Gründerin aus der aktiven Politik. Es kann unserem Land nur guttun, wenn spalterische Figuren ihres Kalibers von der Bildfläche verschwinden. Sehr beunruhigend ist hingegen der Zuwachs der weitgehend rechtsextremistischen Krawall-Partei AfD. Das noch moderate bundesweite Ergebnis von (nur) gut 20 Prozent übertüncht dabei, dass sie in sämtlichen Ost-Ländern mit riesigem Vorsprung (in Thüringen und Sachsen mit fast 40 Prozent!) zur stärksten Partei geworden ist. In Kürze wird der bis zum Wahltag zurückgehaltene Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz erscheinen, der vermutlich der gesamten Partei (und nicht mehr nur einzelnen Landesverbänden) eine gesichert rechtsextremistische Gesinnung attestieren wird. Wenn es überhaupt noch einen geeigneten Zeitpunkt für die Einleitung eines Verbotsverfahrens gibt, dann wäre es wohl jetzt. Aber es fragt sich, ob hinter den Kulissen schon ausreichend Vorbereitungen dafür getroffen werden konnten, die eine hinreichende Erfolgswahrscheinlichkeit versprechen würden…
Die neue Stärke der populistischen Linken (die u.a. aus der NATO austreten möchte und gegen einen höheren Wehr-Etat ist; das muss man sich mal vorstellen!) ist bedauerlich, war aber angesichts von Merzens jüngsten tabubrecherischen Abstimmungs-Eskapaden als “antifaschistischer Abwehrreflex” wohl unvermeidlich. Die fatale Folge ist, dass es nun an einer für anstehende Verfassungsänderungen notwendigen Zweidrittelmehrheit des gemäßigt demokratischen Lagers fehlt. Leidtragende am Aufschwung der Linken waren vor allem die Grünen, die sich aus lobenswerter staatspolitischer Verantwortung trotz allem als Koalitionspartner der Union bereitgehalten haben, was natürlich einen Teil ihrer potentiellen Wähler verschreckt hat. Aber um ein Haar wäre genau das Szenario eingetreten, dass es nur mit einer erneuten Regierungsbeteiligung der Grünen gegangen wäre. Die populistische Verkommenheit des bayerischen Ministerpräsidenten zeigt sich darin, dass er noch am Wahlabend, als es beinahe auf eine solche Kenia-Koalition hinausgelaufen wäre, einer solchen eine Absage erteilte und Koalitionen mit grüner Beteiligung für nicht lange haltbar erklärte. Welch eine staatspolitische Verantwortungslosigkeit! Und welche bewundernswerte Haltung von Robert Habeck, der ihm alle seine Entgleisungen im Wahlkampf nicht nachtrug (“Ist egal jetzt.”).
Die neue Regierung muss nun jedenfalls schnellstmöglich zustande kommen, spätestens – wie von Merz angekündigt – bis Ostern! Und dann muss sie liefern! Deutschland und Europa stehen aktuell vor den größten Herausforderungen seit sieben Jahrzehnten. Das vordringliche Problem ist dabei keineswegs die angeblich zu wenig geregelte Migration (hier ist doch eine europäische Lösung schon längst auf dem Weg), sondern vielmehr – nach der faktischen Aufkündigung der westlichen Wertegemeinschaft durch den irrlichternden US-Präsidenten und dessen Vize – der Aufbau einer von den USA unabhängigen effektiven gemeinsamen europäischen Verteidigung gegen den aggressiven russichen Imperialismus einschließlich der weiteren Unterstützung der Ukraine. Am besten wäre die Gründung eines neuen Staatenverbunds, bestehend aus Kerneuropa und allen anderen Willigen (Orban und Fico dürfen da gerne draußen bleiben). Man kann nur inständig hoffen, dass die entsprechenden Pläne dafür nur noch aus den Schubladen gezogen werden müssen. Denn sonst wird unser schönes und freies Europa zermalmt werden zwischen dem russischen und dem neuen amerikanischen Imperialismus. Also, (angehende) GroKo, an die Arbeit! Die Zeit drängt.
justament.de, 10.2.2025: Dritte Demo in sechs Jahren
Warum Justament-Autor Thomas Claer neuerdings so oft demonstrieren geht
Die in Art. 8 GG ausdrücklich geschützte Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut in einem Rechtsstaat. Menschen, die regelmäßig und oft auf die Straße gehen, um aller Welt zu zeigen, was sie umtreibt und bewegt, tun daher zunächst einmal etwas Gutes, Richtiges und Sinnvolles. Dennoch halte ich mich von Demonstrationen normalerweise eher fern, weil sich deren Effekt doch rasch abnutzt, wenn sie ständig und immer wieder aufs Neue stattfinden. Außerdem fehlt mir auch einfach die Geduld, um womöglich mehrere Stunden im Schneckentempo durch die Gegend zu trippeln oder mir die Beine in den Bauch zu stehen. Und noch dazu bin ich extrem kälteempfindlich; also im Winter demonstrieren, das geht für mich eigentlich gar nicht.
Dass ich trotzdem vor einer Woche – in bitterster Winterskälte! – auf meiner bereits dritten Demo in gerade einmal sechs Jahren gewesen bin, ist allein den gegenwärtigen politischen Umständen geschuldet. Zuvor hatte ich zweieinhalb Jahrzehnte lang überhaupt nicht mehr demonstriert, letztmalig als Student Mitte der Neunziger gegen rechtsextremistische Anschläge. Doch dann kam Fridays for Future, und ich marschierte mit. Ich fand es großartig, dass so viele – und darunter auch so viele junge – Leute endlich einmal aufwachten und sich dem Klimawandel entgegenstellten. Allerdings ist es bezeichnend für unsere mittlerweile extrem schnellebige Zeit, dass diese damals so hoffnungsvoll erscheinende Welle schon längst wieder abgeebbt ist. Kaum jemand interessiert sich heute noch für Klimaschutz, egal ob Gebirgsdörfer unter Wasser oder Städte in Flammen stehen. Denn schließlich haben wir inzwischen ja auch noch mehr als genug andere existenzielle Probleme, allen voran den durchgeknallten Kreml-Despoten mit seiner sogenannten Spezialoperation, gegen die ich vor drei Jahren ebenfalls auf die Straße gegangen bin.
Und nun hat auch noch in Übersee der selbsternannte “Diktator für einen Tag” zum zweiten Mal sein Amt angetreten und schon in den ersten drei Wochen mit seinen irren Ideen und Aktionen die Welt in Furcht und Schrecken versetzt. Darüber hinaus haben wir hierzulande in zwei Wochen vorgezogene Bundestagswahlen, und der designierte künftige Kanzler von der CDU hielt es für eine gute Idee, seine Fraktion im Bundestag sehenden Auges mit der weitgehend rechtsextremistischen AfD für einen Antrag und ein Gesetzesvorhaben abstimmen zu lassen (was er vor wenigen Wochen noch kategorisch ausgeschlossen hatte). Klar, dass ihm jetzt viele Wähler seine Beteuerungen nicht mehr abnehmen, nach der Wahl keinesfalls mit der AfD kooperieren zu wollen. Doch haben die Massendemonstrationen in vielen Orten unseres Landes (hier in Berlin mit mehr als 160.000 Teilnehmern, in München nun sogar mit über 250.000) gegen diese Vorgehensweise offenbar schon etwas bewirkt: So eindringlich, wiederholt und entschieden, wie sich der Kanzlerkandidat der Union auf dem jüngsten CDU-Parteitag und ebenso gestern im Fernseh-Duell gegen jede Form der Zusammenarbeit mit der Rechtsaußenpartei ausgesprochen hat (und auch ausdrücklich gegen eine von dieser tolerierte Minderheitsregierung), wird er davon nun wohl nicht mehr abrücken können, ohne seine Glaubwürdigkeit vollends zu beschädigen. Insofern haben sich Massendemonstrationen als probates Mittel im politischen Meinungskampf, wenn es ernst wird, ein weiteres Mal bewährt. Noch funktioniert unsere Denokratie also. Möge es auch weiter so bleiben!
justament.de, 6.1.2024: Geht bald das Licht aus?
Geht bald das Licht aus?
Die Ausstellung “Was ist Aufklärung?” im Deutschen Historischen Museum in Berlin
Thomas Claer
Diese Ausstellung kommt genau zur richtigen Zeit. Denn gegenwärtig scheint die – aus aufgeklärter Perspektive betrachtet – finsterste Reaktion beinahe unaufhaltsam auf dem Vormarsch zu sein. Wohin man blickt, nur immer neue Schreckensmeldungen. Dass der Despot im Kreml durchdreht, na gut. Man dürfe nie vergessen, hörte ich schon vor 35 Jahren von meinem Philosophie-Lehrer in der Schule, dass Russland ein Land sei, in dem es keine Aufklärung gegeben habe. Aber dass die Bürger der ruhmreichen Vereinigten Staaten von Amerika nun schon zum zweiten Mal einen impulsgetriebenen Lügenbold und Diktatorenfreund ins höchste Amt gewählt haben, der mit seinen toxischen Narrativen gleichsam die öffentliche Vernunft außer Kraft gesetzt hat, lässt für die Krisenherde der Welt das Schlimmste befürchten. Wird unser Kontinent dem standhalten, sich weiter als Heimstatt von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit behaupten können? Während im Inneren Europas schon die ideologischen Zersetzungsprozesse der Orbans und Le Pens, der Kickls und Salvinis, der Weidels und Wagenknechts wirken, nähert sich von Osten eine Putinsche Cyberangriffswoge nach der anderen und gibt es immer neue verdeckte Attacken auf unsere Energie- und Daten-Infrstruktur in der Ostsee. Stehen wir also am Rande eines hybriden Kriegszustands oder sind wir womöglich schon mitten drin?
Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da hielten wir eine regelbasierte Weltordnung für alternativlos, Wandel durch Annäherung für eine Art Naturgesetz, wähnten uns an der Spitze des Fortschritts und “von Freunden umzingelt”. Nun dämmert uns langsam, dass Aufklärung vielleicht nur ein westlicher Sonderweg gewesen sein könnte statt das unausweichliche Entwicklungsziel der Menschheit.
Wie alles anfing mit der Aufklärung, dem Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, dem Vertrauen auf die Vernunft im 18. Jahrhundert, das zeigt eine sehenswerte und klug kuratierte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Es versteht sich, dass bei einem solch ausschweifenden und übergreifenden Thema nur ein winziger Teil all dessen gezeigt werden kann, was an einschlägigen Exponaten hierfür infrage käme. Natürlich gehören dazu Bücher und Schriften, Porträts und Schrifttafeln der maßgeblichen Protagonisten, aber auch wissenschaftliche Instrumente wie Mikroskope, welche die Aufbrüche jener Epoche aufs Vollkommenste symbolisieren. Doch die Ausstellung verfährt – ihrem Gegenstand entsprechend – kritisch und beleuchtet auch nicht zu knapp die zahlreichen inneren Widersprüche und Aporien aufklärender Theorie und insbesondere auch Praxis. Wie jeder weiß, waren die Aufklärer ganz überwiegend weiß und männlich. Und der von Anfang an geringschätzende Blick auf auf all die rückständigen Unaufgeklärten dieser Welt kam und kommt noch dazu…
Mein persönliches Lieblingsexponat ist eine in Öl gemalte Abbildung mit dem Titel “Kurze Beschreibung der in Europa befintlichen Völckern und Ihren Eigenschaften” oder kurz “die steirische Völkertafel” (siehe Abbildung). Sie stammt vermutlich aus dem frühen 18. Jahrhundert und vergleicht angebliche Charaktereigenschaften von zehn europäischen Nationen anhand von 18 Rubriken wie etwa “Natur und Eigenschaft”, “Sitten” und “Lieben”. Dadurch festigt sie sowohl Fremd- als auch EIgenbilder. So seien die “Teutschen” etwa “Offenherzig” und liebten “Den Trunck”. Die “Angerländer” seien “Wohl Gestalt”, die Spanier “Hochmüttig” und litten unter “Verstopfung”. Der “Schwöth” hingegen sei “Stark und Groß”, aber auch “Graussam” und liebe “Köstlichkeiten”. Der “Poläck” sei “Bäurisch” und “Mittelmäßig”, der “Muskawith” sei “boßhaft” und liebe “den Prügl”. Der “Tirk oder Griech” (das wird hier in einen Topf geworfen) sei “Wie das Abril-Weter”, leide “An Schwachheit” und sei “Gar faul”; seine Kleidung sei “auf Weiber Art”…
Diese hübsche Tafel scheint mir das ganze Dilemma der Aufklärung auf den Punkt zu bringen. Mit dem löblichen Vorsatz, vorhandenes Wissen zu ordnen und zu systematisieren, werden hier in einem fort fragwürdigste Stereotype aneinandergereiht, die zu Ausgrenzung und Intoleranz führen können, in letzter Konsequenz sogar zu Hass und Völkermord. Es ist also, wie es schon Goya in seinem berühmten Bild antizipiert hat, “der Traum der Vernunft” selbst, der Ungeheuer hervorbringt. Was ja auch der Befund in Horkheimers und Adornos “Dialektik der Aufklärung” ist, laut meinem Philosophie-Lehrer einem der nur drei Werke, die man als aufgeklärter Mensch unbedingt gelesen haben sollte. (Die anderen beiden sind die “Kulturgeschichte der Neuzeit” von Egon Friedell und die “Philosophische Hintertreppe” von Wilhelm Weischedel.)
Kurzum, “Was ist Aufklärung”? führt uns “back to the roots” unseres modern-aufgeklärten Weltbildes und lässt uns innehalten angesichts der dramatischen tagespolitischen Verfinsterungsprozesse.
Was ist Auklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert
Noch bis 6.April 2025 im Deutschen Historischen Museum Berlin
justament.de, 2.12.2024: Bilanz einer Kanzlerin
Bilanz einer Kanzlerin
Anmerkungen zur Merkel-ist-schuld-Debatte
Thomas Claer
Merkel ist an allem schuld, was hierzulande nicht gut läuft, und das ist eine Menge. So liest und hört man es vielfach, seit unsere Ex-Kanzlerin mit viel Tamtam ihre Autobiographie vorgelegt und unser Land damit mal wieder in eine hitzige Debatte gestürzt hat. Denn hätte man in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft (2005-2021) nicht vieles besser machen können? Doch, ganz bestimmt sogar. Und erst recht mit dem Wissen von heute darüber, wie sich die Dinge seit ihrem Abgang dann weiter entwickelt haben.
Es sei doch sonnenklar gewesen, dass wir uns nie in eine solche energiepolitische Abhängigkeit von Putin-Russland hätten begeben dürfen, heißt es. Dem Kreml-Despoten sei doch auch schon damals nicht zu trauen gewesen. Wie habe man denn das nicht wissen können?! Immerhin die Grünen wussten es und haben es immer gesagt. Unsere Nachbarländer und die USA haben es ebenfalls gewusst und es uns immer wieder unter die Nase gerieben. Allein, die vier Merkel-Kabinette wollten davon nichts wissen. Realpolitik hieß damals: Energie von dort beziehen, wo sie am günstigsten zu haben war. So wollten es auch die Wirtschaft und alle Lobbyisten. Und dagegen war nun mal nicht anzukommen.
Aber hätte man damals nicht noch viel schneller und entschlossener die regenerativen Energien ausbauen sollen? Hätten wir heute doppelt oder dreimal soviel Wind- und Solarenergie, dann bräuchten wir all das teure und umweltfeindliche Flüssiggas nicht einzuführen, mit dem wir nach dem Wegfall der russischen Gas-Importe nun unseren Energiehunger stillen. So hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: dem Klimawandel etwas entgegengesetzt und uns unabhängig von Energie-Importen aus problematischen Herkunftsländern gemacht. Die Grünen wussten das alles schon damals. Aber auf sie hat ja keiner gehört, zumindest nicht genug.
Wäre es dann aber nicht auch schlauer gewesen, weiter auf Atomenergie zu setzen, statt mutwillig auf eine bereits vorhandene Energiequelle zu verzichten, die uns unabhängiger von zweifelhaften Energie-Importen gemacht hätte? Schließlich baut doch alle Welt die Atomenergie aus, und nur Deutschland unter Merkel hat im Alleingang den Ausstieg aus dieser Technologie vollzogen. Doch ist hier neben dem noch jahrtausendelang vor sich hin strahlenden hochgiftigen Atommüll und dem enorm CO2-emissionsbelastetendem Uranabbau (vorwiegend in Russland!) auch zu bedenken, dass laufende Atomkraftwerke natürlich erstklassige Angriffsziele in etwaigen kriegerischen Auseinandersetzungen sind – und das mitten in Europa. Nein, Merkels Atomausstieg war gewiss nicht verkehrt.
Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn man schon ab 2005 eine kommunale Wärmeplanung durchgeführt, die Energieversorgung schrittweise flächendeckend und verpflichtend auf Fernwärme (aus perspektivisch nur noch sauberen Energiequellen) und lokalen Wärmepumpen umgestellt hätte, so wie es uns die skandinavischen Länder schon in den Neunziger- und Nullerjahren vorgemacht haben? Na ganz bestimmt, denn dann würden wir heute energetisch weitaus robuster dastehen. Doch außer den Grünen, auf die ja keiner gehört hat, hatte das niemand auf dem Plan.
Vermutlich wäre es auch besser gewesen, wenn man bereits damals in viel größerem Stil die Elektromobilität gefördert und mit viel Staatsgeld wie die Chinesen den Bau von Elektro-Autos forciert hätte. Dann wäre der deutschen Automobilindustrie heute nicht wie aus heiterem Himmel ihr Geschäftsmodell weggebrochen. Aber das wollte damals nun wirklich niemand – außer den Grünen.
Doch zurück zur Zeitenwende seit 2022. Hätte man denn die Gefährlichkeit von Putin-Russland nicht schon viel früher erkennen können und rechtzeitig die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr massiv ausbauen müssen? Ja, das wäre gut gewesen. Aber das wollte damals fast niemand sehen: nicht die Regierungsparteien und schon überhaupt nicht die damals in Teilen noch pazifistischen Grünen. Nur ein ansonsten durchweg erratischer und lügnerischer US-Präsident, mit dem wir ab kommenden Januar erneut für vier weitere Jahre das zweifelhafte Vergnügen haben werden (sofern er nicht sogar noch länger im Amt bleibt, indem er die amerikanische Verafssung außer Kraft setzt), hat in diesem Punkt vollkommen recht behalten.
Aber wäre es denn nicht besser gewesen, die Ukraine schon 2008 in die NATO aufzunehmen, als Russland noch längst nicht so hochgerüstet war wie heute, so wie es der damalige US-Präsident Bush jun. damals im Sinn hatte? Dieser Plan ist seinerzeit nicht zuletzt an Kanzlerin Merkel gescheitert, die erfolgreich für mehr Rücksichtnahme auf die Interessen Russlands geworben hatte. Damit hätte man 14 Jahre später wahrscheinlich den Ukraine-Krieg vermeiden können, denn ein NATO-Land anzugreifen, das hätte Putin sich vermutlich nicht getraut. Doch die westlichen Länder hätten sich Russland auf diese Weise schon ein paar Jahre eher zum erbitterten Feind gemacht, und über die russische Reaktion auf einen ukrainischen NATO-Beitritt zu jener Zeit lässt sich nur spekulieren…
Wäre es ferner nicht auch besser gewesen, wenn die Merkel-Regierungen die zwischenzeitlich extreme Niedrigzins-Phase dazu genutzt hätten, mit langfristigen kostenlosen Krediten in großem Stil unsere darbende Infrastruktur zu sanieren? Schulen und öffentliche Gebäude, Brücken, Straßen, Schienen und die Deutsche Bahn endlich wieder auf Vordermann zu bringen? Doch, das wäre gut gewesen. Aber dafür fehlte Merkels Kabinetten und insbesondere auch dem seinerzeit zuständigen Finanzminister Schäuble leider der Weitblick. Schwarze Null und schwäbische Hausfrau waren ihnen wichtiger. Auch von einem zügigen Ausbau der Digitalisierung ist in den Merkel-Jahren zwar oft die Rede gewesen, aber sonderlich schnell vorangekommen ist man hierbei nicht gerade.
Aber last, but not least, was Merkel am häufigsten und am lautesten vorgehalten wird: Hätte sie 2015 nicht den hunderttausenden syrischen Flüchtlingen den Eintritt in unser Land verwehren sollen? Wäre “Grenzen dicht machen” nicht besser gewesen, als durch fröhliche Selfies mit den Ankömmlingen noch weiteren Nachschub von ihnen anzulocken? Hätte man durch mehr Strenge an den Außengrenzen nicht eine Reihe von späteren Amokläufen und Terror-Anschlägen durchgeknallter Islamisten verhindern können? Kann sein. Aber man hätte auch durch eine massive Jugend- und Sozialarbeitsoffensive, wie es sie heute sehr erfolgreich in Dänemark gibt, gewaltige Erfolge erzielen können, indem man die islamismusgefährdeten jungen Menschen von der Straße holt und in gemeinnützigen Projekten beschäftigt, die besser bezahlt werden als die Drogenkuriere der Organisierten und Clan-Kriminalität. Und so hätte man – auch hier wieder – zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Kriminalität und Islamismus bekämpft und zugleich langfristig die Folgen des demografischen Wandels abgemildert.
Doch hat Merkel durch ihre zu wenig strenge Migrationspolitik nicht den in höchstem Grade demokratiegefährdenden Aufstieg der rechtsextremistischen AfD mit herbeigeführt? Und als Spätfolge auch den des rechtslinkspopulistischen BSW? Teilweise wohl schon. Doch hätte es bei einer rechtzeitigen strengen Reglementierung der unsäglichen Sozialen Netzwerke, die mit freundlicher Unterstützung der omnipräsenten Putin-Trolle fortwährend ihre Lügen verbreiten, vielleicht gar nicht soweit kommen müssen. Wobei man hierzu allerdings wohl zunächst auf europäischer Ebene hätte ansetzen müssen, wie jüngst von unserem Wirtschaftsminister gefordert.
Aber war es denn nicht grob fahrlässig von Merkel, die deutsche Bevölkerung erst zu Integrationsbereitschaft und kultureller Offenheit aufzurufen und sie dann mit arabischen Messerstechern und sexuellen Belästigern in nicht ganz kleiner Zahl und dem weitverbreiteten Gefühl der Überforderung und der Fremdheit im eigenen Land alleinzulassen? Sicherlich wäre es angesichts der riesigen Herausforderungen angebracht gewesen, die Aufnahme der Flüchtlinge noch weitaus stärker mit massiven Anstrengungen in der Sozial- und Jungendarbeit – siehe oben – zu flankieren. Auch wären noch klarere Ansagen gegenüber den Neuankömmlingen für Grundwerte wie Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder gegen Homophobie und Antisemitismus von Anfang an wünschenswert gewesen. Doch werden wir angesichts des immer gravierender werdenden Fachkräftemanges – insbesondere in Ostdeutschland! – um die von Merkel völlig zu recht geforderte kulturelle Offenheit nirgendwo herumkommen, um auch nur einen Teil der offenen Stellen künftig noch besetzen zu können.
Unter dem Strich lässt sich somit zwar eine Menge an Versäumnissen während Merkels Kanzlerschaft feststellen – aber nur, wenn man die damaligen realen Machtkonstellationen außer Acht lässt. Ein Bundeskanzler (m/w/d) – und erst recht einer, der in Koalitionsregierungen stets eine Vielzahl oft entgegengesetzter Interessen zu moderieren hat – befindet sich immer auch in einem Wust von Sachzwängen und ist – anders als ein autokratischer Herrscher – eingebunden in streng geregelte Verfahrensabläufe. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Person an der Spitze des Staates dem Land Orientierung gibt, ihm die Richtung weist. Aber hat Merkel hier mit “Wir schaffen das!” und “Sie kennen mich” wirklich eine so schwache Figur abgegeben, wie es nun vielfach behauptet wird? Merkels Politikstil war eine Art Fahren auf Sicht, was auch daran liegt, dass sie in relativ unübersichtlichen Zeiten zu regieren hatte. Heute, seit der Zeitenwende, sehen wir die Dinge vielfach auch klarer, die damals – jedenfalls für die meisten – noch im Nebel lagen. Es war noch nicht die Zeit für große Entwürfe, eher für “piecemeal engineering” im Popperschen Sinne. Und darin war Angela Merkel nun einmal nicht die Schlechteste.
justament.de, 23.9.2024: Pest und Cholera
Nach den Landtagswahlen im Osten
Thomas Claer
Nun ist geschehen, was ja zu befürchten war: Zwar konnte sich die Brandenburgische SPD in einem gewaltigen Kraftakt noch an die Spitzenposition schieben und so immerhin verhindern, dass die weitgehend rechtsextremistische AfD zur stärksten politischen Kraft im märkischen Bundesland wurde. Doch dadurch haben die Grünen den Wiedereinzug in den Landtag verpasst, und die CDU wurde auf 12 Prozent geschreddert – mit der Folge, dass die bislang dort regierende Kenia-Koalition abgewählt ist und ohne das rechts-links-populistische Bündnis Sahra Wagenknecht – wie zuvor schon in Sachsen und Thüringen – keine Regierungsbildung möglich ist. Das ist – dies an die Adresse der siegestrunkenen Sozialdemokraten – wahrlich kein Grund zum Feiern, denn die frühere Galionsfigur der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei wird nun ihre Ankündigung wahrmachen und alles daran setzen, über die Landespolitik erpressserischen Einfluss auf die deutsche Außenpolitik zu nehmen. “Wer mit dem BSW koalieren will, muss natürlich auch mit mir reden”, hatte Wagenknecht angekündigt und zur Bedingung für Koalitionen in den drei Ost-Bundesländern gemacht, dass sich die neuen Landesregierungen für ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland einsetzen. Wladimir Putin kann sich die Hände reiben. Seine Trolle haben ganze Arbeit geleistet und dafür gesorgt, dass fast die Hälfte der Mandate in Sachsen und exakt die Hälfte in Thüringen und Brandenburg an russlandfreundliche Parteien gegangen sind. Wäre es also besser, dann lieber Minderheitsregierungen aus demokratischen Parteien zu bilden? Diese müssten sich dann aber wechselnde Mehrheiten besorgen, womit die AfD wieder im Spiel wäre und die Brandmauer zu ihr in Gefahr geriete. Egal, wie man es dreht und wendet: Von stabilen Verhältnissen kann keine Rede sein.
Es macht wirklich fassungslos, wie es den beiden populistischen Parteien gelingen konnte, kontrafaktisch ein solches Klima der Angst zu erzeugen und dabei von den tatsächlich bestehenden Problemen abzulenken. Ja, Ostdeutschland hat ein enormes Zuwanderungsproblem. Es gibt dort nämlich zu wenige Zuwanderer – und nicht etwa zu viele, wie es AfD und BSW suggerieren. Und Investoren werden sich in Zukunft dreimal überlegen, ob sie sich dort ansiedeln, wenn es gar nicht genug Arbeitskräfte gibt und internationale Fachkräfte Gefahr laufen, ausgegrenzt und angepöbelt zu werden. Was hilft also? Der tapferen Hälfte der Ostdeutschen mit und ohne Migrationshintergrund, die sich diesen betrüblichen Tendenzen täglich entgegenstellt, entschieden den Rücken zu stärken. Die Brandmauer zur AfD muss ohne Wenn und Aber halten. Und das BSW darf unter keinen Umständen Einfluss auf die deutsche Außenpolitik bekommen. Untersuchungen zeigen, dass die beiden Extrem-Parteien ihr Wählerpotential bereits weitgehend ausgeschöpft haben. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sie wie 1933 in ganz Deutschland die Oberhand gewinnen. Alarmierend ist ihre Stärke aber allemal.






