Auch in diesem Jahr bin ich leider kaum zum „Ahnenforschen“ gekommen. Dennoch ist mir – fast ohne eigenes Zutun – doch wieder so viel relevantes Material zugeflogen, dass es erneut für eine hoffentlich kurzweilige Zusammenstellung gereicht hat.
1. Unsere blaublütigen (zumindest) Namensvettern und –kusinen
Die „Von-Frage“, also eine etwaige Verbindung unserer Familie zu gleichnamigen Adelsfamilien, hatte in meinen „Forschungen“ der letzten Jahre eigentlich keine Rolle mehr gespielt. Zur Erinnerung: Zwar hat es nach meinen Erkenntnissen gleich zwei zumindest teilweise und vorübergehend (auch) in Ostpreußen oder Umgebung ansässige namensgleiche adelige Familien gegeben: die v. Claers und die v. Clairs, wobei erstere vom stolzen anglonormannischen Geschlecht der de Clares abstammen und letztere sich vom vermutlich von Friedrich dem Großen für seine Verdienste geadelten hugenottischen Ingenieurkapitän Gottlieb August le Clair (1730/31-1778/79) aus Berlin ableiten (siehe meine früheren Berichte). Aber bis auf vage Überlieferungen und Mutmaßungen konnte ich keinerlei Hinweise auf eine Verbindung zwischen diesen Familien und „unseren“ Claers finden. (Abgesehen von der sehr spekulativen Möglichkeit einer Verwandtschaft über den Erbauer des Königsberger Doms Johannes Clare (1265-1344).) Vielmehr hatte ich den Eindruck gewonnen, dass solche Gerüchte aus dem Wunschdenken bestimmter Familienmitglieder heraus, auch bedingt durch die räumliche Nähe zu den „Blaublütigen“ entstanden sein könnten.
Aber vielleicht war es ja etwas voreilig von mir, mit der „Von-Frage“ bereits abzuschließen. Im Januar meldete sich eine Frau Heidi S. bei mir, die sich als Tochter einer geborenen v. Claer und als Enkeltochter Alexander v. Claers (1862-1946), des Verfassers der Familienchronik v. Claer (1929-32, neu aufgelegt 1979), zu erkennen gab. (Es sind also wohlgemerkt die v. Claers mit den anglonormannischen Wurzeln!) Bemerkenswerterweise vertrat sie die Auffassung, das „von“ sei ja den nichtadeligen Claers womöglich nur aberkannt worden, und trotzdem könne da eine Verwandtschaft sein. Zugleich räumte sie aber auch ein, dass manche Angehörigen ihrer Familie „die Nase ziemlich hoch“ trügen, wohingegen ihr selbst als lediglich Halbadeliger („Violettblütiger“) das „von“ oder nicht „von“ weitgehend egal sei.
a) Familienfotos
Ein erster Ansatz könnte die Suche nach optischen Ähnlichkeiten mithilfe der nebenstehenden Familienfotos sein, die Frau S. mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. In der unteren Reihe sind ihre Großeltern Alexander v. Claer und Erna v. Claer abgelichtet, jeweils darüber in der mittleren und oberen Reihe befinden sich deren Eltern Otto v. Claer und Anna v. Claer (geb. Spitz) sowie Eberhard v. Claer und Jeanne de Bus. Auffällig ist, dass offenbar Großvater und Großmutter von Frau S. mütterlicherseits beide der Familie v. Claer entstammen, es also eine Heirat von Cousin und Cousine gewesen sein muss. Das sich
anschließende große Porträt zeigt den besagten Alexander v. Claer im Alter von ca. 50 Jahren, darunter noch einmal seine deutlich jüngere Frau Erna v. Claer. Allerdings springen mir, um es vorsichtig zu sagen, äußerliche Übereinstimmungen zwischen den v. Claers und Angehörigen unserer Familie nicht unbedingt ins Auge…
b) Die v. Claers im deutschen Osten
Wie steht es aber mit Bezügen der v. Claers zu Ostpreußen, wo „unser“ Familienzweig ja, soweit ersichtlich, zwischen 1712 und 1945 angesiedelt war (von der Einwanderung in die „Schweizer Kolonie“ bis zur Flucht vor der Roten Armee, siehe meine früheren Berichte)? Immerhin kam Alexander v. Claer, der Verfasser der Familienchronik und Großvater von Frau S., im Jahr 1862 in Danzig zur Welt, was ja schon relativ in der Nähe ist. Ergänzend führt Frau S. noch an, dass er auch zeitweise in Breslau aufgewachsen ist (bevor er später nach Berlin zog). Nun, zu jener Zeit waren vermutlich auch schon Teile „unserer“ Claers nach Schlesien ausgewandert. Zwar noch nicht der Vorfahre von Andreas Z., der Jäger Otto Wilhelm Claer (1859-1937), der erst 1890 in Leutmannsdorf/Schlesien geheiratet hat. (Er war der Sohn des Jägers Wilhelm Friedrich Claer (1824-1889), des älteren Bruders meines Ururgroßvaters Franz Claer (1841-1906)). Aber zuvor bereits der 1759 geborene Jäger Clair in Möllendorf/Schlesien, der 1819 im Alter von 60 Jahren auf spektakuläre Weise ein Wildschwein erlegte, siehe meine früheren Berichte. Doch ergeben sich auch hieraus allein noch keinerlei Anhaltspunkte für eine etwaige Verbindung zwischen adeligen und nichtadeligen Claers.
Wie aber kam es überhaupt dazu, dass es den Urgroßvater von Frau S., General Otto v. Claer – einen prominenten preußischer Generalleutnant mit eigenem Wikipedia-Eintrag (https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Claer) in die deutschen Ostgebiete verschlug?
Hierzu Frau S: „Also in unserer Familienchronik steht, nachdem Otto von Claer 1849 mit anderen Bonner Studenten seine langjährige Dienstpflicht bei den 4. Dragonern in Deutz ableistete, wurde dieses Regiment aus politischen Gründen in das ferne Schlesien versetzt. Nach einem Marsche von 6 Wochen in Winterkühle quer durch Deutschland erreichte die Truppe ihre Standorte im Liegnitzer Kreise. Später kam er nach seiner Heirat mit Marie von Spitz nach Danzig.“
Dann gab es auch noch einen Alexander v. Claer, der laut Kartei Quassowski in Ostpreußen auf dem Rittergut Posorken in Erscheinung getreten ist (ca. erste Hälfte des 20. Jh.), siehe meinen früheren Bericht. Dies war aber nach Auskunft von Frau S. nicht ihr Großvater, sondern „der jüngere Bruder seiner Frau Erna von Claer, der auch früh gestorben ist. Ich glaube, er war keine 40 Jahre alt.“
Generell ist es nicht ganz einfach, bei den häufig mehrfach auftauchenden Vornamen der adeligen Claers den Überblick zu behalten. Hinzuweisen ist noch auf einen Eduard v. Claer, der 1923 in Königsberg (!) geboren und im Krieg schwer verletzt wurde, später dann im Nachkriegs(west)deutschland als CDU-Politiker hervorgetreten ist, u.a. als Ratsherr der Stadt Oldenburg und Landtagsabgeordneter in Niedersachsen. Interessanterweise war er sogar Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen des Bundes der Vertriebenen. Auch über ihn gibt es einen Wikipedia-Eintrag, (https://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_von_Claer_(Politiker)), der u.a. davon berichtet, dass Eduard v. Claer die Volksschule und später das Gymnasium bzw. die Oberschule in Königsberg, Manenburg, Stolp und Kolberg besuchte. „Die häufigen Schulwechsel waren durch die Versetzungen seines Vaters, dem späteren Generalleutnant Bernhard von Claer (1888–1953) begründet.“ Frau S. teilte mir mit, von diesem Eduard v. Claer aus Oldenburg oft als Kind Besuch erhalten zu haben. Darüber hinaus hat es noch mehrere weitere Träger dieses Namens in ihrer Familie gegeben. Über einen eigenen Wikipdia-Eintrag verfügt noch der General im ersten Weltkrieg Eberhard v. Claer (1856-1945), nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Urgroßvater von Frau S. (siehe oben) und auch nicht mit einem gleichnamigen Bruder ihrer Mutter, der bereits mit 21 Jahren im 2. Weltkrieg gefallen ist.
Festzuhalten bleibt jedoch, dass obwohl mehrere v. Claers in deutschen Ostgebieten und sogar in Ostpreußen präsent waren, keine Hinweise auf eine Verbindung zu „unseren“ nichtadeligen Claers ersichtlich sind.
Nur am Rande sei hier noch bemerkt, dass man beim Lesen der genannten Wikipedia-Einträge den Eindruck gewinnt, dass fast alle männlichen v. Claers Jura studiert haben, was in unserer Familie, soweit ich sehe, erst ein einziges Mal vorgekommen ist…
c) Schreibfreude
Aber offenbar besteht doch noch eine über die Namensgleichheit hinausgehende Gemeinsamkeit zwischen den Familien, sofern uns schlichten Nichtadeligen hier dieses unbescheidene Wort erlaubt ist, und das ist die auffällige Häufung von schreibfreudigen und -begabten Personen. Schon mehrfach habe ich in meinen „Forschungsberichten“ darauf hingewiesen, dass beinahe alle Claers gut schreiben konnten, und habe dies mit vielen Beispielen belegt. Ein besonders eifriger und guter Schreiber ist aber auch Alexander v. Claer (1862-1946) gewesen, der Großvater von Frau S., der neben der Familienchronik v. Claer (die ich vor langen Jahren vollständig gelesen habe, siehe meine früheren Berichte) noch mehrere weitere Bücher verfasst hat. Er war u.a. Militärattaché in China (dazu gleich mehr im anschließenden Kapitel) und in seinen Ämtern auch noch in viele andere Länder gereist. Frau S. berichtet, dass er ein sehr interessanter Mann gewesen sei und über seine Zeit in Russland ebenso ein ganzes Buch geschrieben habe wie über seine Reise nach und in China, außerdem einen Reisebericht über seinen Ritt von Bukarest nach Berlin und ein Buch über seine Reise auf die Krim, in den Kaukasus und nach Konstantinopel. Ferner schrieb er über seine Kindheit in Danzig.
Darüber hinaus findet sich unter dem Link https://www.bundesarchiv.de/nachlassdatenbank/viewresult.php?sid=5fa1fa115fe617a000667
der Hinweis, dass sich im Bundesarchiv in Freiburg als schriftlicher Nachlass des Alexander v. Claer dessen „Aufzeichnungen über seine Tätigkeit als Militärattaché in Seoul und den russisch-japanischen Krieg sowie Aufzeichnungen über seine Tätigkeit als Chef des Stabes beim Generalgouvernement in Belgien unter Generalfeldmarschall von der Goltz 1914“ befinden.
2. Meldereiter und Attaché – die (von) Claers in China um 1900
a) Mein Urgroßvater Georg Claer – Meldereiter in China
Über meinen Urgroßvater Georg Claer (1877-1930) weiß ich leider fast nichts. Nicht einmal die Ursache und die Umstände seines frühen Todes im Alter von erst 52 Jahren konnte ich in Erfahrung bringen. Sicher ist nur: Er war Postangestellter, soviel lässt sich den Stammbäumen meines Großvaters und den von ihm ausgefüllten Fragebögen der „Reichsstelle für Sippenforschung“ entnehmen. Und er hatte zwei Brüder, Otto und Richard, die – wie ich später herausgefunden habe – ebenfalls bei der Post waren, wie auch schon sein Vater Franz Claer (1841-1906), mein Ururgroßvater. An die Frau meines Urgroßvaters, meine Urgroßmutter Wilhelmine Claer, geborene Petschinski (1876-1940), hatte immerhin mein Vater Joachim Claer (1933-2016) noch lebendige Erinnerungen, die sich aber darauf beschränkten, dass sie zu ihm und seiner Schwester Renate immer auf Ostpreußisch „Me-ine kle-inen Wiermerchen“ (hochdeutsch: meine kleinen Würmchen) gesagt habe. Und mein Vater erinnerte sich noch daran, wie er und seine Schwester Renate im Garten spielten – sie müssen damals sieben und acht Jahre alt gewesen sein – und ihr Vater, mein Großvater Gerhard Claer (1905-1974), sie mit ernstem Gesicht zu sich rief und zu ihnen sprach: „Ich muss euch etwas sagen. Die Oma ist vorhin gestorben.“ Deren Mann, meinen Urgroßvater, hatten mein Vater und meine Tante nie kennengelernt, da er schon drei bzw. vier Jahre vor ihrer Geburt verstorben war.
Eine Sache aber gab es, die eigentlich immer stolz erwähnt wurde, sobald von meinem Urgroßvater die Rede war: Er war Meldereiter in China! Und als Beweis wurde dieses kleine Bild mit der Jahreszahl 1900 gezeigt:
Weitere Informationen haben wir nicht. Wie war er dort hingekommen? Hatte er sich freiwillig gemeldet? Es liegt nahe, dass sein dortiger Aufenthalt ausgerechnet zu jener Zeit etwas mit der Niederschlagung des Boxeraufstands im Jahr 1900 zu tun hatte.
Auf dem Bild sieht man ihn hoch zu Pferde in Uniform und mit Pickelhaube. Daneben steht ein anders uniformierter Mann. Vielleicht ein Chinese? Nein, von der Figur und vom Gesicht her ebenfalls ein Europäer, meint meine aus Korea stammende Frau. Aber die Uniform?
Unter https://st.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=65214 findet sich ein Foto aus dem Jahr 1907 mit dem Titel „Deutsche Truppen in China – Sonntagswache“. (Rechte: Haus der Geschichte, Wittenberg.) Und die Bildunterzeile erklärt:„Die sechs Deutschen posieren in ihren Uniformen und mit Pickelhaube gemeinsam mit ihren chinesischen Kameraden.“ Für mich sieht es schon so aus, dass der neben dem Pferd meines Urgroßvaters stehende Mann auf unserem Bild die gleiche Uniform trägt wie die chinesischen Soldaten auf dem anderen Bild…
Aber wie war das überhaupt mit dem Boxeraufstand und dem Einsatz der deutschen Soldaten? Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Boxerkrieg) gibt Auskunft:
„Unter dem Boxerkrieg oder auch Boxeraufstand … versteht man eine chinesische Bewegung gegen den europäischen, US-amerikanischen und japanischen Imperialismus.
Im Frühjahr und Sommer 1900 führten die Attacken der sogenannten Boxerbewegung gegen Ausländer und chinesische Christen einen Krieg zwischen China und den Vereinigten acht Staaten (bestehend aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und den USA) herbei, der mit einer Niederlage der Chinesen und dem Abschluss des sogenannten „Boxerprotokolls“ im September 1901 endete.
Ein erster alliierter Gegenschlag (ohne deutsche Beteiligung) im Juni 1900 war unter dem englischen Admiral Seymour gescheitert, woraufhin dieser Verstärkung u.a. auch durch deutsche Truppen gefordert haben soll („The Germans to he Front!“, siehe untenstehendes Bild, Quelle: Wikipedia s.o.)“
Daraufhin „stellten sechs europäische Staaten sowie die USA und Japan ein Expeditionskorps für eine Intervention in China zusammen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte unverzüglich auf den Vorschlag einer gemeinsamen Militäraktion europäischer Staaten reagiert, weil sich in diesem Rahmen die verstärkte Rolle des Deutschen Reiches in der Weltpolitik demonstrieren ließ. Zu seiner Genugtuung konnte er erreichen, dass dem ehemaligen deutschen Generalstabschef Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee der Oberbefehl über dieses gemeinsame Expeditionsheer übertragen wurde. Bei der Verabschiedung eines Teils der deutschen Truppen am 27. Juli in Bremerhaven hielt Wilhelm II. seine berüchtigte Hunnenrede („Pardon wird nicht gegeben, … dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“)“
Doch dauerte eine Reise von Bremerhaven nach China zu jener Zeit mit dem Schiff begreiflicherweise noch ziemlich lange…
„Die aus Europa eingeschifften Truppen kamen allerdings zu spät, um noch am Entsatz Tianjins und Pekings teilzunehmen. Die etwa 20.000 Mann starke alliierte Truppe, die am 4. August in Tianjin abmarschierte, bestand in erster Linie aus britisch-indischen, russischen, japanischen und US-Truppen (letztere waren von den Philippinen nach China verlegt worden); Deutsche, Franzosen, Österreicher und Italiener beteiligten sich nur mit einigen Abteilungen Marineinfanterie.“
„Eine Urkunde anlässlich der China-Expedition der 6. Kompanie des 3. ostasiatischen Infanterie-Regiments gibt einen anschaulichen Überblick über den zeitlichen Verlauf der Expedition. Abfahrt mit dem Dampfer „Rhein und Palatia“ in Bremerhaven am 2. August 1900. Fahrt nach China über Gibraltar, Port Said (Sueskanal), Aden, Colombo, Singapur. Dann die Orte in China: Peitang am 20. September 1900; Yung-Shing-Shien am 15. Dezember 1900; Chou-Chouang 24. Dezember 1900; Kwang-Tshang am 20. Februar 1901; Tshang-Tshöng-Puss am 8. März 1901; Huolu am 24. April 1901. Außerdem gab es Militäreinsätze in Taku, Tangku, Tianjin, Pautingfu, Ansu, Tien-Shien, Tsho-Tshou, Jau-Shane. Die Rückkehr erfolgte nach Bremerhaven am 9. August 1901.“
Mein Urgroßvater könnte also dabei gewesen sein. Ob er auch so penibel über seine Aufenthaltsorte Buch geführt hat wie später sein Sohn, mein Großvater Gerhard Claer, im zweiten Weltkrieg? (Siehe meinen vorjährigen Bericht.) Zumindest ist offenbar nichts davon erhalten geblieben… Vor einigen Jahren wurde berichtet, dass deutsche Soldaten in China zu dieser Zeit auch an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein sollen. Hoffentlich nicht auch mein Urgroßvater…
b) Alexander v. Claer – Militärattaché in Korea und China
Doch war mein Urgroßvater nicht der einzige Claer, den es zu jener Zeit in den fernen Osten verschlagen hatte. In standesgemäß weit gehobenerer Stellung wirkte dort auch der bereits im ersten Kapital ausführlich porträtierte Alexander von Claer (1862-1946), nämlich als Militärattaché in Seoul und Peking. Atta-was?, wird nun vielleicht mancher fragen.
Hier (https://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rattach%C3%A9) verrät uns Wikipedia, was sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt:
„Ein Militärattaché (Sammelbegriff für Verteidigungsattaché, Heeresattaché, Luftwaffenattaché und Marineattaché) ist ein Offizier, der an eine Auslandsvertretung entsandt ist, Diplomatenstatus besitzt und für militärische Belange zuständig ist.“
Und was sind seine Aufgaben und Tätigkeiten?
„So wie andere Entsandte in einer Botschaft die Leiter ihrer jeweiligen Ressorts (soweit vorhanden), repräsentiert der Militärattaché in erster Linie dessen Verteidigungsminister im Gastland. Dabei ist er zugleich erster Berater des Botschafters bei allen Belangen der Militär- und Verteidigungspolitik des Gastlandes, des Entwicklungsstandes der Streitkräfte, der Rüstungsindustrie sowie mit diesen Gebieten verbundenen Themen. Er führt Analysen und Lagebeurteilungen durch, nimmt an Konferenzen und Truppenbesichtigungen teil und ist Ansprechpartner für die eigenen Streitkräfte vor Ort. … An vielen Botschaften sind die Militärattachés für mehrere Länder in Haupt- und Nebenakkreditierung zuständig.“
Aber gibt es solche Militärattachés auch noch heute? Ja, natürlich. „Zurzeit sind in rund 130 Ländern deutsche Militärattachés akkreditiert.“
Und es folgt u.a. eine Liste der Militärattachés des Deutschen Reiches in ausgewählten Ländern (https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Milit%C3%A4rattach%C3%A9s_des_Deutschen_Reiches):
Korea ist nicht in ihr enthalten, wohl aber China. Und dort findet sich für das Jahr 1904 der Eintrag: Alexander Karl August von Claer (1825–1897). Sofort fällt auf, dass diese Jahreszahlen nicht mit den uns bekannten Lebensdaten des Alexander Karl August Claer übereinstimmen, denn diese lauten 1862-1946. Sollte also doch ein exakt gleichnamiger anderer v. Claer dort aufgeführt sein? Aber dann hätte dieser – gemäß den Angaben – seine Position im weit fortgeschrittenen Alter von 79 Jahren bekleidet haben müssen. Und das zur damaligen Zeit… Für wahrscheinlicher halte ich es, dass den Wikipedia-Autoren hier ein Fehler unterlaufen ist, und es sich doch um den uns bekannten Alexander v. Claer handelt.
Wie dieser im Jahre 1906 in Peking gewohnt hat, zeigen diese auf Ebay zum Kauf angebotenen Fotos mit der Beschriftung „Claersches Haus“. Im Begleittext des Anbieters, eines Antiquitätenhändlers, ist ausdrücklich vom Militärattaché Alexander v. Claer in Beijing (Peking) die Rede, nebst der Jahreszahl 1906.
Den Hinweis auf diese bei Ebay angebotenen Fotos verdanke ich übrigens Herrn Sandro Parotta, dem jetzigen Burgherrn der Burg Lede, die sich von 1869 bis 1904 im Besitz der Familie de Claer (seit 1882 v. Claer) befunden hat. (Nähere Informationen hierzu unter http://www.parrotta.de/gallery/QuellenBurgLede.htm).
Herr Parotta hatte bei mir angefragt, ob ich ihm noch mit näheren Informationen zur Geschichte seiner Burg weiterhelfen könnte, aber das vermochte ich leider ebenso wenig wie Frau S.
Ausweislich meiner Google-Recherche wird der Militärattaché in China, Alexander v. Claer, darüber hinaus zweimal im Buch „Bismarcks Missionare. Deutsche Militärinstrukteure in China 1884-1890 “ (2002) von Elisabeth Kaske erwähnt, die seit April 2017 als Professorin für Gesellschaft und Kultur des modernen China an der Universität Leipzig fungiert.
Zuerst auf S.245: „Als die deutsche Regierung im Jahr 1902 überlegte, ob es opportun sein, wieder Instrukteure nach China zu schicken, war der neue Militärattaché Alexander von Claer ein großer Befürworter. Der ehemalige Instrukteur, jetzt Kaiserlicher Geschäftsträger, von der Goltz jedoch lehnte ein solches Unterfangen ab. Selbst bei sorgfältigster Auswahl der Offiziere könne ein Erfolg nicht verbürgt werden. Die Möglichkeit, eine kriegstüchtige chinesische Armee zu schaffen, würde von vielen Kennern bezweifelt, und Goltz teilte diese Ansicht. Offiziere würden also in den Dienst einer von vornherein als aussichtslos zu betrachtenden Sache gestellt…“ (Fußnote enthält Quellennachweis: BArch Berlin R9208/501, S. 89-94: Militärattaché an Preußisches Kriegsministerium; Nr. 47, 27.12.1903.)
Und dann auf S. 253: „ Als deutsche Behörden 1903 über den Sinn deutscher Militärinstrukteure in China debattierten, erklärte der Militärattaché von Claer drei Jahre nach dem Untergang der Militärschule Tianjin: , Wie nachhaltig trotzdem die Wirkung der deutschen Militärinstrukteure war, geht aus dem Verständnis für das deutsche Heer, mitunter auch der Kenntnis der deutschen Sprache hervor, welche man bei chinesischen Militärs finden kann. Mehrfach hatte ich Gelegenheit zu hören, mit welcher Achtung Schüler der ehemaligen Militärschule Tianjin von ihren deutschen Lehrern sprechen, und zwar in flüssigem Deutsch.“ Die Vorstellung, dass Deutschland das führende Land im Bereich der Armeeorganisation war, hatte sich so sehr in den Köpfen der chinesischen Bevölkerung festgesetzt, dass noch im Jahre 1904, als die chinesischen Armeereformen bereits weitgehend mit japanischen Instrukteuren durchgeführt wurden, die populäre in der Umgangssprache geschriebene Pekinger Zeitung Jinghua Ribao den Kindern das Wort Deutschland beibrachte mit der Erklärung, dies sei das Land mit der besten Armee…“
Und in dieser hochangesehenen Armee – und hier schließt sich der Kreis – hat mein Urgroßvater immerhin als Meldereiter gedient…
Bestimmt wäre es interessant, auch im Hinblick auf meine koreanische Frau, in den Aufzeichnungen des Alexander v. Claer über seine Jahre in Fernost zu lesen. Insofern könnte der nächste Schritt sein, eine Anfrage an das oben genannte Bundesarchiv in Freiburg zu richten…
3. Erich Claer: Nachträge aus den Kondolenzbriefen
Und nun springen wir ins Jahr 1950. Am 15.Dezember, also vor genau 70 Jahren und zwei Wochen, ist im Alter von gerade einmal 49 Jahren (so alt, wie ich jetzt bin) Erich Claer gestorben, der Vater des Skandal-Schriftstellers Hans Henning “Moppel“ Claer und seiner Schwester, meiner heute 80-jährigen Tante dritten Grades Lorelies Claer-Fischer. Vor einem Jahr enthielt mein Forschungsbericht ein Kapitel mit Auszügen aus den Kondolenzbriefen für ihn, die mir Tante Lorelies freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte. Nun folgen noch einmal vier weitere Briefe dieser Art, z.T. gekürzt und von Tante Lorelies aus ihren nur schwer lesbaren Handschriften transkribiert sowie jeweils kurz kommentiert. „Auffallend ist, dass auch hier immer die Größe und Stärke meines Vaters und seine Hilfsbereitschaft hervorgehoben worden sind“, schrieb sie mir noch. Und ergänzte im Hinblick auf Heiner Claer (1942-2013), den jüngsten ihrer drei Brüder: „Letzteres Verhalten hatte am ehesten Heiner, der konnte es gar nicht lassen, Probleme für andere Leute zu lösen.“
a) Die Magd Anna
Anna war Magd bei unseren Großeltern mütterlicherseits Adolf und Hedwig Keller in Osterode/Ostpr. Sie hat als einzige deren (und weiterer Personen) Erschießung durch die Russen am 29.1.1945 er- und überlebt. Emma Claer, geb. Sakrzewski ist im Winter 1944 auf dem Weg nach Königsberg verschollen. Sie wollte zu ihrer Tochter Hildegard, die nach dem Einmarsch in russ. Kriegsgefangenschaft kam.
„Wahldorf, 26.12.50
Ihr lieben Alle,
da Anna die traurige Nachricht erhalten hat, so möchte sie doch gern auch wissen, wie der Tod so plötzlich kam, denn sie macht sich nun auch Gedanken über den Tod Ihres lieben Gatten. Und ob die liebe Frau Claer ein Bild von ihrem Mann habe, denn Anna möchte doch gern eins haben. Nun viele Grüße auch an Familie Pramann, nun noch eine Frage: Anna möchte wissen, „wo dem Herrn Claer seine Mutter ist ?“
Nun mit vielen Grüßen Ihre Anna“
b) Ernst Rathgen, Schwager von Hildegard Claer (Schwester von Erich Claer)
„23.12.50 Hamburg
Liebe Hanni Claer !
Als ich von Hermann (Hildegards Ehemann) die Nachricht bekam über den schweren Verlust, den Sie durch Ihres Mannes Tod erlitten haben, war ich tief erschüttert. Ich spreche Ihnen mein tiefempfundenes Beileid aus…… Inzwischen hat sich viel ereignet und es ist gut, daß wir vorher nicht wissen, was sich noch ereignen wird. Auch ich habe im Sommer 46 eine schwere Zeit durchmachen müssen in Königsberg. Damals erfuhr ich aus Ihrem Brief an Hildegard, daß meine Frau und Schwester verstorben waren. Ich fühle mit Ihnen und mögen Sie die Kraft haben über den schweren Verlust hinwegzukommen…..Ihr Ernst Rathgen“
c) Gertrud Sanden, Frau von Hermann Sanden, dem Bruder von Erich Claers Mutter Emma
„Stuttgart, 20.1.51
Mein liebes Hannchen und Kinder!
Ihr werdet schon recht böse sein, dass wir nichts von uns hören ließen, aber glaube mir liebes Kind, der Schrecken ist mir so in die Glieder gefahren, daß ich oft nicht in der Lage war zu schreiben. Die Nachricht vom Tode des lieben Paten von meinem Erich hat uns beide entsetzlich getroffen. Erich trug den Brief in der Tasche und gab ihn mir am Heiligen Abend. Ich konnte gar nicht fassen, dass unser lieber, guter Erich nicht mehr sein soll.
Dieser gute Mensch, der der uns so oft im Leben Helfer und Vermittler war, und an den man sich gerne gewandt hat, der soll nun nicht mehr sein ?…..
denn mein liebes Kind, ich kann dir am besten nachfühlen, nachdem ich unseren beiden Männern nachtrauern muss, die Ungewissheit kostet oft unsere Gesundheit, aber ein Mutterherz kommt nicht zur Ruhe……nun schreibe uns doch bitte, was Erich zugestoßen ist.
Ich glaube fast, daß es die Folgen von Sibirien waren oder ist ihm ein Unglücksfall zugestoßen ?….
Bei uns hat sich auch im Laufe des alten Jahres so manches geändert. Erich hat seine Stelle gewechselt, er ist auf Empfehlung zur Bank gekommen. Das Gehalt ist allerdings noch klein, aber dadurch, dass ich noch arbeite, schlagen wir uns treu und redlich …..durch
Erichs Arbeitsplatz sind wir nun auch zur neuen Wohnung gekommen. Im Neubau eine 2-Zimmerwohnung mit eigener Küche und Du kannst dir sicher vorstellen, wie glücklich ich bin. Denn in der alten Wohnung waren 5 Parteien in einer Küche. Jetzt bin ich meiner eigenen Wohnung mein eigener Herr! Allerdings mußten wir DM 600 Baukostenzuschuß hinterlegen, die die Bank ihm vorgeschossen hat und nun monatlich DM 50 vom Gehalt abzieht…..
…sei Du nun mit deinen Kindern herzlich gegrüßt von Deiner Tante Gertrud
Meine liebe Tante ! Auch ich möchte Dir auf diesem Wege mein herzliches Beileid aussprechen. Kann es bis heute nicht fassen, dass ich meinen lieben guten Patenonkel Erich gar nicht mehr sehen soll……Euer Erich“
Gertrud Sanden, vormals Sakrzwewski. Ehemann Hermann, Supernazi, hat den Namen „germanisieren lassen“. Er war Bürgermeister von Gröben und wurde, als die Polen Ostpreußen bekamen, von diesen ans Scheunentor genagelt. Er war immer aufs Gröbste mit seinen poln. Arbeitern umgegangen. Erich Sanden (vormals Sakrzewski ) war der Patensohn von Erich Claer. Sein Vater Hermann war der Bruder von Erich Claers Mutter Emma Sakrzweski, verh. Claer.
d) Erich Claers Sekretärin
Kondolenzbrief von Papas Sekretärin. Wegen der 2 Währungen, in denen für ihn gesammelt wurde. Das ist auch Geschichte. Die Fa. Meyer lag in der Ackerstraße in Wedding, an der Grenze zu Ostberlin. 1950 konnte man ja noch hier wie dort arbeiten.
„Berlin, 22.12.1950
Liebe Frau Claer,
aus meinem heutigen Besuch ist nun leider nichts geworden. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, ich von mir aus bedaure es außerordentlich. Ich hätte mich doch so gern einmal mit Ihnen unterhalten. Doch, Frau Claer, aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Ich mache jetzt die ganze Importabteilung allein und bin auch schon fast so durchgedreht wie ihr Gatte. Es ist doch ein bissel zu viel für eine Person. Nun aber zu meinem eigentlichen Grund des Besuches.
Ich habe von der Belegschaft für die Beerdigung Ihres Gatten Kranzspenden bekommen. Es kam doch immerhin eine schöne Summe zusammen. Wir hielten es nun für richtiger, nicht die ganze Summe für den Kranz auszugeben, sondern Ihnen zuteil kommen zu lassen, da Sie das Geld doch erstmal nötiger gebrauchen können. Wir haben also nur ein Teil des Betrages für den Kranz angewandt. Ich glaube, das ist auch im Sinne Ihres Gatten so recht gehandelt. Ich wollte Ihnen den Betrag gern persönlich überreichen, nun geht es nicht. Darum heute dieser kleine Schrieb. Ich füge das Geld – 150.—DM West und 10.50 DM Ost (bringt Dieter morgen mit).
Es hilft Ihnen vielleicht im Moment etwas weiter. Ich besuche Sie bestimmt einmal, ich sage Ihnen durch Dieter noch Bescheid.
Ich wünsche Ihnen nun recht guten Verlauf der Festtage……………..nun bringt der Weihnachtsmann auch für Ihre Kinder eine Kleinigkeit“
4. Gerhard und Emmy Claer: Die doppelte Fluchtgeschichte
Es folgt nun – wie vor einem Jahr angekündigt – die doppelte Fluchtgeschichte meiner Großeltern Gerhard Claer (1905-1974) und Emmy Claer, geb. Klatt (1906-1960).
a) Flucht Nr. 1: Von Ostpreußen nach Mecklenburg
Über die Flucht meiner Großeltern (und ihrer damals zehn-, elf- und knapp einjährigen Kinder: meiner Tante Renate, meines Vaters Joachim und meines Onkels Gerd) aus Ostpreußen im Jahr 1944 habe ich bereits vor einigen Jahren an Tante Lorelies wie folgt geschrieben:
„Doch, meine Familie bzw. die Familie meines Vaters ist aus Ostpreußen nach Mecklenburg geflüchtet, nur schon einige Monate vor Ende des Krieges. Mir wurde diese Geschichte oft erzählt. Mein Opa Gerhard, der Cousin Deines Vaters, hat von der Front einen Brief nach Hause geschickt, in dem er (um die Zensur auszutricksen) schrieb: “Es geht mir gut wie unserem Hasso. Ich rate euch dringend, Tante Erna zu besuchen!” Und damit war gemeint, er hatte ein elendes Hundeleben (Hasso galt damals als typischer Hundename, dabei hatten sie aber gar keinen Hund dieses Namens), und Tante Erna war die Schwester meiner Oma, die in Brüel in Mecklenburg wohnte, wohin sie geheiratet hatte. Es war also das Signal: Haut bloß schnell ab Richtung Westen! Und es wurde von meiner Oma verstanden, und sie machte sich mit den drei Kindern (meinem Vater Joachim, seiner Schwester Renate und dem gerade neugeborenen Gerd) mit dem Zug und nur dem nötigsten Handgepäck auf zu Tante Erna nach Brüel. Das muss irgendwann 1944 gewesen sein, jedenfalls viele Monate vor dem Kriegsende. Sonst ist zu dieser Zeit noch kein Mensch geflüchtet. Sie haben praktisch alle Sachen in Neidenburg zurückgelassen. Mein Vater hat am meisten den Verlust seiner schönen Spielzeug-Soldatenburg betrauert…“
Tante Lorelies schrieb mir zurück: „Es gab ja das Verbot, Ostpreußen zu verlassen… Also hatte dein Großvater wirklich einen guten Riecher bzw. mehr Insiderwissen. Wenn man angab, einen dringenden Verwandtenbesuch machen zu müssen, gab es noch Reisebewilligungen.“
Und so fand meine Großmutter mit ihren drei Kindern also 1944 Aufnahme in der großen Villa, die Tante Erna S. (geb. Klatt) in Brüel/Mecklenburg (nahe meiner Geburtsstadt Wismar) mit ihren drei Kindern Alex (später nach Griechenland ausgewandert), Marita und Christa bewohnte. Deren Familienvater, Onkel Hans S., war wie mein Großvater als Soldat im Krieg. Allerdings ist Onkel Hans (von Beruf Arzt) nach Kriegsende nie wieder in seine prächtige Villa (die ja nun im Osten lag) und zu seiner Familie zurückgekehrt. Vielmehr soll er mit einer jungen Tschechin durchgebrannt sein, und niemand habe je wieder etwas von ihm gehört. So erzählte es mir mein Vater, als ich ihn irgendwann einmal fragte, was eigentlich später aus Onkel Hans geworden sei… Mein Großvater Gerhard hingegen ist einige Zeit nach Kriegsende völlig ausgemergelt aus russischer Gefangenschaft zu seiner Familie nach Brüel zurückgekehrt, siehe meinen vorjährigen Bericht. Die schöne große Villa hatte da allerdings schon die sowjetische Militäradministration beschlagnahmt. Die Familien – meine Großeltern mit ihren drei Kindern sowie Tante Erna mit ihren drei Kindern – lebten nun äußerst beengt (wie fast alle anderen auch) in einer kleinen Wohnung in Brüel. Auch Tante Erna ist mit ihren drei Kindern – noch vor meinen Großeltern – in den Westen geflohen, und zwar nach Celle in Niedersachsen. In meiner Kindheit in Wismar besaß ich ein besonderes Matchboxauto aus dem Westen, das nicht von der Firma Matchbox hergestellt worden war, sondern von einer anderen Firma. Dieses Auto wurde „Tante Erna-Auto“ genannt, weil es mir Tante Erna einmal im West-Paket geschickt hatte. Allerdings habe ich Tante Erna niemals kennengelernt. Sie ist wohl irgendwann in den Siebziger- oder Achtzigerjahren gestorben.
Trotz der beengten Verhältnisse in Brüel hat mein Vater dort, wie er berichtet hat, eine durchaus schöne Kindheit gehabt. Besonders gut hat er sich mit seinem jüngeren Vetter Alex verstanden. Die beiden waren unzertrennlich. Später hat uns dann Onkel Alex mit seiner Familie von Griechenland aus noch mehrmals in Wismar besucht. Nach dem Mauerfall, aber noch vor der deutschen Wiedervereinigung flogen meine Eltern mit mir im April 1990 für eine Woche zu Onkel Alex nach Kreta, wo ich zum ersten Mal Auberginen und Tintenfisch gegessen habe…
b) Flucht Nr. 2: Von Mecklenburg ins Rheinland
Die Fluchtgeschichte Nr. 2 meiner Großeltern hat mein Großvater dann selbst geschrieben, nämlich in Form einer dreiseitigen „Fluchtbegründung“ als Anlage zum Antrag auf Ausstellung eines Flüchtlingsausweises, verfasst am 31. August 1956:
Ergänzend hierzu hat auch meine Großmutter ihrerseits eine Fluchtbegründung verfasst, die allerdings weitaus knapper ausgefallen ist:
Schließlich war mein Großvater nach dem frühen Krebstod meiner Großmutter 1960 seiner früheren Arbeitskollegin aus Brüel, der einige Jahre jüngeren Emma Schneiter, die seinerzeit noch vor ihm in den Westen geflüchtet war, bei ihrem Antrag auf Anerkennung als Ostzonenflüchtling mit einer ausführlichen Erklärung behilflich, in der er u.a. schildert, auf welche Weise er sie schon damals unterstützt hat. Wenige Monate später, 1962, wurde sie seine zweite Frau. Eine Liebesgeschichte, die für sich selbst spricht…
Später, nach dem Tod meines Großvaters (1974) hat uns meine Stiefoma Emma Claer in den Achtzigerjahren in Wismar besucht und u.a. im Garten mit mir Fußball gespielt. Und sie hat uns immer zahlreiche Westpakete geschickt, in denen sie sogar Fußballbilder für mich im doppelten Boden versteckt hatte.
5. Marcel Orry Claer: Der Fotograf aus Essen
Schon in meinen früheren Forschungsberichten ist mitunter von der künstlerischen Veranlagung so mancher Claers die Rede gewesen. So hat sich bei mir vor längeren Jahren bereits einmal ein Kölner Fotograf namens Michael Clair mit ostpreußischen Wurzeln gemeldet und mir seinen Stammbaum zur Verfügung gestellt. (Leider hat sich die Verwandtschaft mit ihm als so weitläufig erwiesen, dass wir die Verbindung zwischen seinem und unserem Stammbaum bisher noch nicht herstellen konnten.) Nun bin ich über Google erneut auf einen möglicherweise aus unserer Familie stammenden Fotografen gestoßen: auf den 32-jährigen Marcel Orry Claer, geboren in Unna, derzeit ansässig in Essen. Denkbar wäre, dass er der Fuhrmann-Linie entstammt, also ein Abkömmling des Fuhrmanns Franz Richard Claer (geb. 1872 in Geidlauken) ist, den es der Liebe wegen von Ostpreußen nach Stolberg im Rheinland verschlug, siehe meine früheren Berichte.
Unter den folgenden Links lassen sich seine Arbeiten betrachten:
https://orryginal-fotografie.de/ueber-mich
https://www.fotografensuche.de/fotograf-essen/orryginal-marcel-orry-claer-f9457
https://www.facebook.com/OrryginalFotografie/
Als Fotograf ist Marcel Orry Claer laut Angaben auf seiner Homepage Autodidakt und hauptberuflich als IT-Berater im Außendienst tätig. Sein künstlerischer Schwerpunkt liegt in der Porträtfotografie junger Damen. Seine durchweg ansprechenden Aufnahmen lassen zwar eine deutliche Tendenz zur Erotik erkennen, jedoch in einer noch sehr dezenten Variante. Im Unterschied zu den Büchern und Filmen unseres wohl noch immer prominentesten Familienmitglieds, um das es zum wiederholten Male im letzten Kapitel meiner diesjährigen Ausarbeitung gehen soll.
6. „Moppel“ Claer: Nachruhm in Feuilleton und Fernsehen
Gleich zweimal ist im vergangenen Jahr im großen Stil an meinen Onkel dritten Grades, den Boxer, Schriftsteller und Schauspieler Hans Henning „Moppel“ Claer (1931-2002) erinnert worden.
a) Feuilleton der Süddeutschen Zeitung
Zum einen erschien im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung am 15.6.2020 (online bereits am 14.6.2020) unter dem Titel „Der Bär flattert nicht mehr“ ein Nachruf von Willi Winkler auf den Verleger Jörg Schröder (1938-2020), in dessen März-Verlag auch „Moppel“ Claers Bücher erschienen sind. Darin ist von den „seinerzeit sogar im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gepriesenen Büchern von Hans Henning Claer“ die Rede, wenn diese auch zutreffender Weise unter „Lektüre zur linken Hand“ eingeordnet werden. Besonders ehrenvoll bleibt dennoch die Erwähnung im selben Absatz mit Karl Heinz Bohrer und Marcel Reich-Ranicki.
b) Fernsehen und Blog-Rezension
Noch mehr Aufmerksamkeit erhielt „Moppel“ Claer vom Fernsehsender Tele 5, der die Verfilmung seines Bestseller-Buches „Lass jucken, Kumpel“ (an der er selbst als Schauspieler mitwirkte) aus dem Jahr 1972 am 28. August 2020 in der Reihe „Die schlechtesten Filme aller Zeiten“ ausstrahlte. Die Krönung ist aber wohl die folgende ausführliche Rezension/Vorankündigung dieses Films im renommierten Blog ruhrbarone.de, in der „Lass jucken, Kumpel“ als „ernst gemeinter Roman“ bezeichnet wird. Man kann es schon sensationell finden, welche Beachtung Film und Buch heute noch finden…
https://www.ruhrbarone.de/foerdertuerme-und-mehr-die-traurige-erotik-der-kumpel/188589
„Fördertürme und mehr: Die traurige Erotik der Kumpel
In Kultur | Am 27. August 2020 | Von Mario Thurnes
Tele 5 zeigt am 28. August in der SchleFaZ-Reihe “Laß jucken, Kumpel”. Was heute die wenigsten wissen: Das Sex-Filmchen basiert auf einem ernst gemeinten Roman, der im renommierten, linken März Verlag erschien – und heute ein Dokument ist, etwa über den Umgang mit dem Thema Pädophilie.
Positives vorweg: Mit der Repertoire-Reihe leistet Rowohlt in Zeiten der Cancel Culture einen wertvollen Beitrag Kulturgut zu erhalten, das auf dem Markt keine Chance mehr hätte – meist zurecht – aber als Dokument über vergangenen Zeitgeist durchaus wichtig ist. Außerdem gibt es in der Veröffentlichung des Romans “Laß jucken Kumpel” wenigstens eine spannende Seite.
Es ist Seite vier, auf der eine zeitgenössische Besprechung aus der Frankfurter Rundschau abgedruckt ist. Im Erscheinungsjahr des Romans, 1971, war die FR zusammen mit Konkret noch das Massenblatt der Linken. In der Besprechung wendet sie sich an den “bürgerlichen Leser”, der aus der Lektüre eine Erkenntnis mitnehmen könne: “Sex ist Flucht aus der Arbeit… Unschwer könnte man auch sagen, daß ihrer Tätigkeit weitgehend entfremdete Menschen da auf ihrer Suche nach sich selbst sind.”
Entfremdete Menschen auf der Suche nach sich selbst. Dazu ein Autor, der eine bewegte Biographie vorzeigen kann: Hans Henning Claer, der in Berlin Boxer und Polizist war, dann ins Ruhrgebiet zog, um Bergmann zu werden, und der sich letztlich der Bewegung der Arbeiterautoren anschloss und Romane wie “Laß jucken Kumpel!” oder “Das Bullenkloster” veröffentlichte. Das könnten Zutaten für einen bedeutenden Roman sein.
Der Roman funktioniert nicht
Doch dem ist nicht so. “Laß jucken Kumpel” funktioniert nicht. Vermutlich damals schon nicht – heute erst recht nicht. Die Figuren sind hölzern. Beim Lesen ertappt man sich manchmal bei der Frage, wer denn gerade wer ist, so wenig unterscheiden sie sich in ihrem Charakter. Und sie erleben keine Entwicklung. Die 188 Seiten werden so schnell zur Qual.
An keiner Stelle fühlt sich der Leser in der Lektüre wohl. Das liegt nicht daran, dass Claer so heiße Eisen anfassen würde. Seine Sozialkritik ist zwar pflichtgemäß eingestreut. Der Arbeiterstandpunkt war in den 70ern, was heute der Klimawandel ist. Wer im Zeitgeist liegen will, muss ihn halt mal erwähnt haben. Das klingt dann so albern wie: “Wenn alles kaputt ist und jeder denkt, er lebt nicht mehr lange, dann wird ganz doll geliebt.” Oder: “Nun wurde heute das Soll erfüllt; denn es gab genug treue Kumpel, die auch feiertags die Kohle herausholten.”
Auch im eigentlichen “Thema Nummer eins” des Romans versagt Claer. Er schafft es 188 Seiten über Sex zu schreiben, ohne auch nur einmal erotisch prickelnd zu werden. Das liegt an seiner plumpen Wortwahl: “Stöhnen – Zischen – Schmatzen – Bumsen!”. Sowie an empathielosen Figuren, die nacheinander die Spielarten der Sexualität kennenlernen beziehungsweise abarbeiten, die 1971 noch als Tabu galten und die Sexpapst Oswalt Kolle seinerzeit in einer Kolumne in der “Neuen Revue” vorstellte.
An Kolle abgearbeitet
An Kolle arbeitet sich Claer regelrecht ab. Inhaltlich findet er nichts, was an dessen Aufklärungsarbeit auszusetzen wäre. Aber er lässt die Figuren Kolle immer wieder dissen. Und er gibt einer Figur dessen Namen – einem alten, impotenten, religiösen Eiferer.
A propos flache Witze mit der Namenswahl: Der fiese, notgeile Obersteiger heißt Adolf Eichel. Der übergriffige, notgeile Frauenarzt Dr. Eichler. Kurze Pause. Genug gelacht? Ok, noch ne kleine Pause. Der abgearbeitete Rentner heißt Otto Schmielewski. Burner. Immerhin ist Schmielewski eine der wenigen Figuren in dem Roman, die nicht notgeil sind.
Der Film “Laß jucken, Kumpel” ist ein dummer Sexstreifen, der in schmierige Kinos gehört oder ins Spätprogramm von quotenschwachen Privatsendern – und der im Zeitalter von XHamster oder YouPorn nahezu grotesk wirkt. Erstaunlicherweise wird der Film der Vorlage dennoch gerecht.
Also beides einfach vergessen? Im Prinzip ja, wäre da nicht noch was. Zum einen die von der FR geweckte Erwartungshaltung und nach der Lektüre dann doch eine Erkenntnis: Wenn deutsche Linke versuchen, sich Arbeiter vorzustellen, bleiben sie von diesen immer meilenweit entfernt. Zum anderen ist da der Aspekt der Pädophilie.
Peinlicher Umgang mit Pädophilie
Pädophilie war ein Thema der zweiten Hälfte der Bonner Republik und wirkte bis tief in die Berliner Jahre hinein: Die Tendenz der Linken von Teilen der 68ern bis zu Teilen der Grünen, Sex mit Jugendlichen gesellschaftlich etablieren zu wollen, war ein großes Thema im Wahlkampf 2013. Das andere linke Massenblatt der frühen 70er Jahre, Konkret machte in den späten 60ern mit dem Tabu gerne Auflage. Und Claer gibt der Pädophilie auch in “Laß jucken Kumpel” breiten Platz.
Oft anhand der Figur der 15-jährigen Ute. Wenn er ein Pettingerlebnis von ihr beschreibt, lässt er es nicht an Alt-Männer-Erotik fehlen: “Der Samen des Mannes spritzte auf den zarten Venushügel der Kindfrau.” Noch peinlicher wird es, wenn Claer versucht, sich vor ihrem ersten Vaginalsex in ihre Psyche zu versetzen: “Ich bin ein moderner Teenager! Ich möchte es haben, ja-ja-ja!”
Wo das hin führt? Ja, eben zu nichts. Claer schreibt keinen Roman, sondern einen Porno. Und da entwickeln sich Figuren nicht mehr, nachdem die Frage geklärt wäre, warum hier Stroh liegt. Offen bleibt nur eine spannende Frage: Wer ist mehr zu bedauern? Der, der in diesem Buch eine traurige Vorlage für Selbstliebe gefunden hat? Oder der, der hier ernsthaft das Gefühl hatte, der Klassenstandpunkt werde angemessen berücksichtigt?
Tele 5 zeigt am Freitag, 28. August, gegen 22.30 Uhr “Lass jucken, Kumpel” als Teil der Reihe “SchleFaZ”.
Schluss und Ausblick
Wie es in einem der zitierten Kondolenzbriefe so ironisch treffend heißt: Aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Es wird die Zeit kommen, in der ich auch wieder mehr „Ahnenforschung im engeren Sinne“ betreiben werde. Vielleicht ja schon im kommenden Jahr.