Justament Okt. 2010: Stadt der Extreme

Ein rechtskultureller Versuch über unsere Hauptstadt

Thomas Claer

Nachmittags in der Berliner Ringbahn: Ein zotteliger Mann mittleren Alters fährt seinen Kinderwagen, weil er nicht gleich durchkommt, einem jungen Mädchen mit voller Wucht von hinten in die Hacken. Die schreit laut auf, worauf er knurrt: „Geh doch aus dem Weg!“ Darauf sie: „Arschloch!“ Eine ganz alltägliche Begebenheit in Berlin, der Stadt, in der sich offensichtlich andere kommunikative Codes ausgebildet haben als anderswo. Schon Goethe wusste: Dort lebt „ein so verwegener Menschenschlag beisammen, dass man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muss, um sich über Wasser zu halten.” Ja, Grobheit und Rücksichtslosigkeit dominieren noch heute die zwischenmenschlichen Begegnungen in der Hauptstadt. Wer sich als Fußgänger versehentlich auf den Radweg verirrt, wird ohne Vorwarnung angefahren, wer als Radfahrer auch nur kurz den Fußgängerweg benutzt, bekommt unter wilden Verfluchungen einen Fußtritt ins Hinterrad. Fragt man einen Berliner nach dem Weg, antwortet der: „Seh ick aus wie `ne Infosäule?“ Überall, wo es eng oder unübersichtlich wird, wird gepöbelt, gedrängelt und geschubst.
Woran kann das liegen, fragt man sich? Hat es, wie ja gerne unterstellt wird, mit dem derzeit fast schon sprichwörtlich berüchtigten Status der Spree-Metropole als Armenhaus Deutschlands, als Prekariats-Hauptstadt zu tun? Hier könnte ein Vergleich mit dem anderen Unterschichten-Stadtstaat weiterhelfen, dem pro Einwohner noch höher als Berlin verschuldeten Bremen, das die Hauptstadt auch beim Prokopfeinkommen, der Arbeitslosenquote und der Leistungsschwäche der Schulkinder noch in den Schatten stellt. Nach dieser Logik müsste nämlich das schöne Bremen eine Stadt der Unhöflichkeiten und Unverfrorenheiten sein. Tatsächlich ist jedoch, wie ein Aufenthalt an der Weser beweist, so ziemlich das Gegenteil ist Fall: hanseatische Noblesse allenthalben. Betritt man in Bremen mit dickem Rucksack oder Koffer die Straßenbahn, wird man nicht nur nicht beschimpft und zur Seite gedrängt, sondern es wird extra zusammengerückt, damit alle sitzen können. Sucht jemand den Fahrkartenautomaten oder versteht dessen Handhabung nicht sofort, springt sogleich jemand auf und bittet seine Hilfe an. Die Menschen sind regelrecht zuvorkommend. Wer mit dem Fahrrad am Weserdeich unterwegs ist, muss erstaunt feststellen, dass die Fußgänger, wenn Radfahrer kommen, freiwillig einen Schritt beiseite treten. Die Leute sagen freundlich „Bitte schön!“ und „Danke schön!“ Kurz: Es ist eine andere Welt. An Reichtum oder Armut kann es also nicht liegen.
Zurück in Berlin: Schon der Umgangston ist ein ganz anderer. „Ja wat is denn det hier? Kann ick hier vielleicht mal durch?“, trompetet einer hinter uns und unserem Koffer auf der Rolltreppe. In dieser Stadt herrscht eine geheimnisvolle, über Jahrzehnte und Jahrhunderte seltsam beständige Kontinuität der Grobschlächtigkeit.
Denkt man nun aber, es würde womöglich besser in Berlin, wenn man sich wenigstens selber anders verhielte, vielleicht nicht gerade so ausgesucht zuvorkommend wie ein Bremer, aber doch einfach nur neutral und höflich, dann hat man die Gefahren unterschätzt, die sich allein daraus ergeben können: Eine südländisch aussehende Frau mittleren Alters in der U-Bahn, die in irgendwelche Unterlagen vertieft war, hatte nicht bemerkt, dass ihr Kugelschreiber heruntergefallen war. Ich saß neben ihr und hob ihr also den Schreiber auf. Kann sein, dass ich dabei freundlich gelächelt habe. Die Frau missdeutete mein Verhalten völlig, gab jede Zurückhaltung auf und legte los: „Kennen Sie unseren Herrn Jesus Christus?“ Am besten ist dann immer, man sagt „Ja, ja …“ und wimmelt ab. Aber sie ließ nicht locker in ihrem Missionierungseifer, kam mir mit dem jüngsten Tag, mit Umkehr und Apokalypse. Verärgert fragte ich sie schließlich: „Woher wollen Sie das eigentlich alles so genau wissen?“ Und schon war ich in eine völlig unsinnige, notwendigerweise tautologische Diskussion mit ihr geraten, der ich mich erst durch Verlassen des Wagens entziehen konnte. Aber auch auf den Bahnhöfen muss man sich in Acht nehmen: Im hippen Prenzlauer Berg, im S-Bahnhof Schönhauser Allee, erlebte ich einmal, wie ein Mann in den Vierzigern aus dem Zug stieg und sich wenigen Sekunden später mit großer Selbstverständlichkeit mitten auf dem Bahnsteig übergab. Ich konnte gerade noch einen Schritt zurücktreten, um nichts von seinem Erbrochenen abzubekommen. Im allerdings nicht gerade hippen S-Bahnhof Jungfernheide im bürgerlichen Charlottenburg konnte ein äußerlich völlig unauffälliger junger Mann wohl wegen des strömenden Regens ausnahmsweise seine Notdurft nicht draußen an der Hecke neben dem Eingang verrichten, wo man sonst immer zahlreiche Männer (allerdings nie Frauen) beim „kleinen Geschäft“ beobachten kann. So stellte er sich eben einfach drinnen in der Bahnhofshalle an die Wand, immerhin mit dem Rücken zu den Passanten, die aber um die sich rasch ausbreitende Pfütze einen großen Bogen zu machen gezwungen waren. Mit etwas Glück konnte ich auch hier noch rechtzeitig ausweichen. So was erlebt man wohl nur in Berlin.

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