Sven Regener vollendet mit “Der kleine Bruder” seine Lehmann-Trilogie
Thomas Claer
Den Ritterschlag als Romanautor erhielt Sven Regener, geboren 1961 in Bremen und bekannt als Sänger und Texter der Band Element Of Crime, im Literarischen Quartett. Großkritiker Marcel Reich-Ranicki erklärte seiner Runde, dass er beim Lesen von Regeners Debüt, “Herr Lehmann” (2001), wiederholt in schallendes Gelächter ausgebrochen sei. Kritikerkollege Helmut Karasek gab hingegen zu, in einigen traurigen Szenen des Romans den Tränen nahe gewesen zu sein. Nur Frau Radisch konnte der Geschichte des Kreuzberger Bierzapfers Frank Lehmann, die exakt an dessen 30. Geburtstag am Tag des Berliner Mauerfalls 1989 endete, nicht viel abgewinnen. Gleichwohl wurde das Buch zum Kassenschlager, und die anschließende gelungene Verfilmung mit Christian Ulmen und Detlev Buck in den Hauptrollen sorgte für nochmals steigende Popularität. 2004 legte der Autor dann mit “Neue Vahr Süd” einen ausführlichen Rückblick auf Frank Lehmanns Bundeswehr- und WG-Zeit 1980 in Bremen nach, der ebenfalls mit viel Witz und einer kenntnisreichen Schilderung der damaligen Verhältnisse zu überzeugen wusste. Der dritte und abschließende Teil der Roman-Trilogie sollte, so war es seit langem angekündigt, die Zeit zwischen dem Aufbruch Frank Lehmanns nach Berlin im Herbst 1980 (so endete “Neue Vahr Süd”) und dem Beginn von “Herr Lehmann” im Herbst 1989 behandeln.
Jedoch knüpft die Handlung im jüngst erschienenen “Kleinen Bruder” zwar direkt ans Ende des Vorgängers an, umfasst dann aber nur ganze zwei Tage. In denen allerdings werden bereits alle Weichen so gestellt, dass sich die Metamorphose vom Bundeswehr-Abbrecher zum Kneipenwirt als ganz folgerichtig darstellt. Zwei ganz entscheidende und ereignisreiche Tage im Leben des Frank Lehmann also, der sich von heute auf morgen in einem völlig ungewohnten Umfeld wiederfindet und gezwungen ist, sich kurzfristig eine neue Existenz aufzubauen. Und das neue Umfeld, die Kreuzberger Szene der frühen Achtziger, hat es in sich: Ohne Unterbrechung wird literweise Bier getrunken, permanent werden Selbstgedrehte geraucht, ständig brüllt irgendjemand “Scheiße” oder “Arsch”, die Gespräche sind zumeist redundant, es wird erbärmlich gefroren in den ofenbeheizten Altbauten, die Hygiene lässt zu wünschen übrig, der Smog von den vielen verbrannten Briketts zersetzt die Atemwege, die Menschen dort sind entweder Künstler oder Hausbesetzer oder beides, und jeder Neuankömmling wird zunächst allerorts verdächtigt, ein “Zivilbulle” zu sein. Den Lebensunterhalt bestreitet man entweder mit Taxifahren oder, wie auch bald schon Frank Lehmann, in der Kneipe. Dabei wollte Frank doch eigentlich zuerst seinen älteren Bruder finden, seine einzige Anlaufstelle in Berlin, doch der wandert bald schon als Schrottskulpturen-Künstler nach New York aus, und “der kleine Bruder” wird in Kreuzberg seinen Platz einnehmen.
Nun hat auch diese fast schon naturalistische Milieuschilderung ihre komischen Seiten, vor allem die bereits aus “Herr Lehmann” bekannten Figuren wie Karl Schmidt (nicht zu verwechseln mit Carl Schmitt!) und Erwin Kächele reizen die Lachmuskeln. Doch insgesamt hat dieser dritte Teil nur wenig von der Heiterkeit seiner Vorgänger, ist in vielfacher Hinsicht eher bedrückend. Auch fehlt diesmal eine Liebesgeschichte. Viel schlimmer ist aber, dass uns der Autor so einfach mit dem Ende der Geschichte im November 1989 abspeisen will. Das geht nicht, Herr Regener! Was macht einer wie Frank Lehmann nach der Wende? Wird er, wie viele andere, nach Prenzlauer Berg ziehen? Wir wollen es, wir müssen es erfahren. Bitte eine Fortsetzung!
Sven Regener
Der kleine Bruder
Eichborn Verlag Frankfurt am Main 2008
282 Seiten, EUR 19,95
ISBN 978-3-8218-0744-7