Justament Dez. 2007: Wem gehört der Mond?

Best of Jurastudium, Teil 1

Thomas Claer

Der Autor, nostalgisch beim Bier (Foto: privat)

Wenn die Tage immer kürzer werden, der Weihnachtsterror beginnt und auch das Staatsexamen bald schon wieder ein Jahr länger zurückliegt, kommen einem schon mal komische Gedanken. Wie wäre es, denkt man bei sich, da noch einmal hinzugehen? In die Uni, an den Ort, der einem so viel Pein bereitet hat, sich dort neben die schwitzenden Massen in eine Klausur zu setzen, es richtig krachen zu lassen und am Ende zu triumphieren: Ihr könnt mich alle mal! Hier sind alle meine Scheine und Abschlüsse!
Doch anders als seinerzeit die Monokel tragenden Honoratioren in der “Feuerzangenbowle” wird man damit heute wohl niemanden mehr in ehrfürchtiges Erstaunen versetzen können. Nach dem Staatsexamen ist es mit dem Darwinismus nicht zu Ende, sondern er geht für die meisten nur in eine neue Runde, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Und dennoch können – über die Jahre – selbst die eher bedrückenden Erinnerungen eine nostalgische Dimension gewinnen.

“Dann fresse ich Sie!”
Ö. war von allen gefürchtet. Im dritten Semester hörten wir bei ihm Sachenrecht. Er hatte die Angewohnheit, seine Vorlesung als Frage-Antwort-Spiel mit seinem Auditorium zu gestalten. Doch blieb er nicht, wie etwa sein Kollege, der freundliche S., an seinem Pult stehen und befragte nur die ersten Reihen. Ö. spazierte unablässig zwischen seinen Zuhörern entlang und jeden konnte es irgendwann treffen. Den Stoff, den sich manch einer von ihm zu erfahren erhofft haben mochte, setzte er zumindest in Grundzügen als bekannt voraus. Seine Zuhörer sollten in seinen Veranstaltungen gut präpariert erscheinen oder gar nicht. Wurde man nach etwas gefragt und gab zu, keine Antwort zu wissen, herrschte er den betreffenden an: “Was heißt das, sie wissen es nicht? Warum wissen sie es nicht? Was machen Sie überhaupt hier? Gehen Sie nach Hause und lesen Sie das Lehrbuch!” Nach einigen Wochen waren die Reihen dann auch schon merklich gelichtet. Aber es war eben erst das dritte Semester! Das Selbstbewusstsein, die Frechheit, sich alles einfach autodidaktisch beizubringen, hatten damals nur die ganz coolen Hunde. Und so kamen wir weiter zu Ö, registrierten aber beunruhigt, dass mit jeder weiteren Reduktion der Teilnehmerzahl das Risiko, im Fragespiel an die Reihe zu kommen, bedrohlich stieg. Und bei dem Tempo, das der sich mikrofonbewaffnet durch unsere Reihen quetschende Ö. in seinem Frage-Stakkato vorlegte, kamen pro Sitzung gut und gerne hundert Unglückliche in die Bredouille, ihm Rede und Antwort stehen zu müssen. Nur gut, dachten wir, dass er dann und wann auch mal lange Monologe hält, die für ein wenig Entspannung sorgen.
Nun fand die Vorlesung aber nicht in irgendeinem kleinen Hörsaal, sondern im riesigen Audimax statt, das in den hintersten Reihen, wo man schon fast mit dem Kopf an die Decke stieß, recht dunkel und schwer einsehbar war. Hier war ein gutes Versteck, um Ö. hören und sehen, sich aber gleichzeitig vor ihm verbergen zu können. Doch diesen scheinbar rettenden Gedanken hatten einfach zu viele. Ö. musste die verräterisch volle Besetzung der hinteren Reihen irgendwann bemerken. Und so kam es auch. Als er uns erspäht hatte, schritt er maliziös lächelnd die Treppen nach oben. Doch dann konnte er plötzlich nicht mehr weiter. Sein Mikrofonkabel war zu kurz. Große Heiterkeit im Saal. Ö. ballte die Faust und rief uns zu: “Fühlen sie sich dort oben nur nicht zu sicher! Für das nächste Mal besorge ich mir ein längeres Kabel – und dann fresse ich sie!”

Reden, reden, reden
Wenn ich mich recht erinnere, mied ich fortan Ö’s Vorlesungen. Irgendwie auch schade, denke ich aus heutiger Sicht. Denn es war nicht alles schlecht bei Ö. (Wobei man das heute auch oft über die DDR hört.) Ö hatte durchaus Witz. Auf die Frage, warum er denn keine Handzettel mit dem Inhalt seiner Vorlesung verteile, meinte er, um all das, was er uns erzähle, zu Papier zu bringen, müssten ganze Wälder gerodet werden. Und er erklärte auch einmal, warum er uns ständig so viel fragte. Er wolle uns zum Reden bringen. Denn das Handwerkszeug des Juristen sei nun einmal die Sprache. Ein sprachloser Jurist sei einfach nur ein Unding. Und daher müsse doch jeder in der Lage sein, auf jede Frage irgendetwas Vernünftiges zu sagen.
Daraus entwickelten einige ganz gewitzte Kommilitonen eine Strategie, mit der man Ö.’s Fragen manchmal parieren konnte. Sie warfen einfach einen beliebigen Paragraphen des BGB in den Raum, möglichst einen sachenrechtlichen oder einen aus dem Allgemeinen Teil. Und Ö ging darauf ein! Er war dann verdutzt, aber er ging dem nach. Selbstverständlich hatte er alle über zweitausend Paragraphen des BGB im Kopf. “Na, das ist doch jetzt aber ziemlich weit hergeholt”, hieß es dann, “aber immerhin eine Antwort. Fragen wir mal den Nachbarn…”

Wem gehört der Mond?
Nach etlichen Wochen Pause ließ ich mich von einigen mutigen Kommilitonen überreden, doch einmal wieder mitzukommen zu Ö., so schlimm sei er doch gar nicht. Ich ging darauf ein. Und es kam, wie es kommen musste. Ö war schon bei den Grenzbereichen des Sachenrechts angelangt und debattierte knifflige Spezialprobleme. Und dann fragte er: “Wem gehört der Mond?” und zeigte mit seinem Finger genau auf mich. Zum Glück präzisierte er seine Frage sogleich noch etwas: “Gehört den Amerikanern der Mond?” “Auf keinen Fall!”, platzte es laut aus mir heraus. Heiterkeit im Saal. Ich schob dann sogar noch eine improvisierte Betrachtung über die Nichtanwendbarkeit des irdischen Sachenrechts auf extraterrestrische Objekte nach, die Ö. nur mit einem “Hmm” quittierte und sein nächstes Opfer suchte.
Dann hatte ich lange Zeit nichts mehr mit Ö. zu tun. Doch was für eine Genugtuung, Jahre später die Promotionsurkunde entgegenzunehmen – unterzeichnet ausgerechnet von Ö., der just in jenem Semester turnusmäßiger Dekan der Fakultät war.

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