Über die alte Grundsatzfrage nach der Rolle der Arbeit in unserem Leben
Thomas Claer
Nora Tschirner staunte nicht schlecht. Die im Berliner Stadtteil Pankow im Villenviertel am Bürgerpark wohlbehütet aufgewachsene Jungschauspielerin stellte sich bei Spaziergängen durch den nahen Problembezirk Wedding immer wieder die Frage: “Was machen die da eigentlich den ganzen Tag?” Und sie meinte die vielen, vielen jungen Männer meist südländischer Herkunft, die tagaus, tagein, bei Wind und Wetter die dortigen Straßenecken bevölkern, ohne dabei einer erkennbar zweckgerichteten Tätigkeit nachzugehen. Dabei kann selbst unser abgespeckter Sozialstaat seine auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr verwendbaren Bürger immer noch recht erfolgreich mit Transferleistungen ruhig stellen. Und das wirkt sich weitgehend dämpfend auf die Kriminalitätsrate aus. Nur in ostdeutschen Kleinstädten – gelegentlich auch anderswo – formiert sich in dumpfer Brutalität, denn irgendjemand muss ja schließlich am eigenen Misserfolg Schuld sein, der nationale Widerstand. Doch so heterogen die objektiv Überflüssigen unserer Leistungskultur auch sind, vom ungelernten bis zum akademischen abgehängten Prekariat: Sicher ist ihnen allen die generelle Stigmatisierung durch die hart arbeitende Mehrheitsgesellschaft.
Von Jugend auf arbeiten lernen
Stimmt es also, dass, wie Karl Marx (1818-83) glaubte, erst die Arbeit dem menschlichen Leben einen Sinn gibt, dass sie die eigentliche Bestimmung des Menschen ist und dieser ohne sie nur eine letztlich unwürdige Existenz führt? Eine Fülle meisterhafter, sich im Ergebnis oft diametral widersprechender Reflexionen zu dieser Frage findet sich auf der Internetseite http://www.otium-bremen.de. Hier haben fleißige Hände die einschlägigen Zitate unserer Besten, wie man heute sagt, also unserer Literaten, Philosophen und, ja nun, auch Politiker, liebevoll zusammengetragen, auf dass der Leser endlich einmal Klarheit über das erlange, mit dem sich die meisten von uns tagtäglich bis zur Erschöpfung abplagen. Immanuel Kant (1724-1804) beispielsweise, dessen Begründung der Menschenwürde unser Grundgesetz entscheidend beeinflusst hat, entpuppt sich in dieser Frage schon fast als ein verfrühter Marxist: “Wer nicht arbeitet”, so fand der Königsberger Universalist, “verschmachtet vor Langeweile und ist allenfalls vor Ergötzlichkeit betäubt und erschöpft, niemals aber erquickt und befriedigt.” Daher sei es “äußerst wichtig, dass Kinder von Jugend auf arbeiten lernen.”
Vornehmheit und Ehre beim Müßiggang
Sein Fachgenosse Friedrich Nietzsche (1844-1900) war hier gänzlich anderer Meinung: “Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik”, fand der Röckener Geist, der stets verneinte, und konstatierte dementsprechend sogar eine “Faulheit, welche im Grunde der Seele des Tätigen liegt”, die den Menschen daran hindere, “das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen.” Bei der Verherrlichung der Arbeit, bei dem unermüdlichen Reden vom “Segen der Arbeit” sieht Nietzsche als Hintergedanken die Furcht vor allem Individuellen. Man fühle, dass jene harte Arbeitsamkeit von früh bis spät “die beste Polizei ist, dass sie jeden im Zaume hält und die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern” versteht. “Denn sie verbraucht außerordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen, sie stellt ein kleines Ziel immer ins Auge und gewährt leichte und regelmäßige Befriedigungen.” Und an anderer Stelle legt er nach: “Man lobt den Fleißigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleiße schädigt…” Mit großer Skepsis betrachtete Nietzsche die sich im Zuge der Industrialisierung ausbreitende protestantische Arbeitsethik: “Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, dass er etwas Verächtliches tue – das Tun selber war etwas Verächtliches. ‚Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium und bellum'”, also bei Muße und Krieg. Und schließlich kommt Nietzsche zum Resümee: “Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.”
Sinnliche Genüsse und Albernheiten
Doch wer jetzt, in solcher Weise von Nietzsche belehrt, seine Vornehmheit entdeckt und sich in stärkerem Maße dem Müßiggange zuzuwenden erwägt, sollte zuvor noch bedenken, was sein Kollege Arthur Schopenhauer (1787-1860) über diesen zu sagen hatte: “Was nun aber wirft die freie Muße der meisten Menschen ab?”, fragte er rhetorisch. Und seine Antwort war: “Langeweile und Dumpfheit, so oft nicht sinnliche Genüsse, oder Albernheiten dasind, sie auszufüllen.” Und es folgt eine Schimpftirade über das Kartenspielen: “Weil sie nämlich keine Gedanken auszutauschen haben, tauschen sie Karten aus und suchen einander Gulden abzunehmen. O, klägliches Geschlecht!” Nur dem Genie (und niemandem sonst) wünscht Schopenhauer “das glücklichste Loos”, die “Entbindung vom Thun und Lassen, als welches nicht sein Element ist, und freie Muße zu seinem Schaffen.” Und nun entscheide jeder für sich, ob er denn genug Genie zu solcher Muße habe.