Der Philosoph Peter Sloterdijk ortet das Ressentiment als Haupttriebkraft der Geschichte
Thomas Claer
Das Zeitalter der umfassenden Welterklärungen durch philosophische Systeme ist bekanntlich seit geraumer Zeit vorüber. Allenfalls mit ironischer Distanz greift die zeitgenössische Philosophie die ehrwürdigen Lehrsätze vergangener Epochen noch auf – in der Überzeugung, dass ganzheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit in einer atomisierten Welt nicht mehr zu haben sind. Und doch arbeitet einer mit beharrlichem Fleiß an einem groß angelegten Welterklärungs-System, das gleichwohl gänzlich metaphysikfrei daherkommt und durch assoziative thematische Offenheit ebenso wie durch eine überaus luzide Sprache besticht. Drohte Peter Sloterdijks Sphären-Trilogie, deren dritter Band an dieser Stelle besprochen wurde (justament 4/2004), noch an ihrer Überfülle zu ersticken, nimmt sich die hier anzuzeigende essayistisch gehaltene Zugabe als ein Geniestreich ersten Ranges aus. Der Verfasser legt mit einem beherzten Brückenschlag zwischen psychologischer Anthropologie auf der einen sowie Politik und (vor allem jüngerer) Geschichte auf der anderen Seite nicht weniger vor als eine globale Deutung der Menschheitshistorie – und zwar – “zwei berühmte Kollegen aus dem Jahr 1848” lassen grüßen – als “eine Geschichte der Zornverwertungen”. Das griechische Kennwort für das “Organ” in der Brust von Helden und Menschen, von dem die großen Aufwallungen ausgehen, lautet thymos – es bezeichnet den Regungsherd des stolzen Selbst. Die Psychoanalyse hingegen, die seit dem 20. Jahrhundert als psychologisches Leitwissen dient, habe, so Sloterdijk, die Natur ihres Gegenstands in wesentlicher Hinsicht verkannt, indem sie die conditio humana insgesamt von der Erotik zu erklären versuche. Sie bringe dasn Wort Stolz nur mit Neurosen in Verbindung und habe keine zureichende Erklärung für menschliche Dispositionen wie Mut, Beherztheit, Geltungsdrang, Verlangen nach Gerechtigkeit, Gefühl für Würde und Ehre sowie kämpferisch-rächerische Energien, welche Sloterdijk der “Thymotik des Menschen” zurechnet. Aus dem angestauten und gleichsam verfestigten Zorn entstehe dann das Ressentiment, das Friedrich Nietzsche (1844-1900) als “Basiseffekt des metaphysischen Zeitalters und seiner modernen Nachspiele” (Sloterdijk) entlarvte, also der Epoche monotheistischen Religionen und der modernen Emanzipationsbewegungen bis hin zu den Großtotalitarismen des vergangenen Jahrhunderts. Anknüpfend an Nietzsche beschreibt der Autor zunächst die “Thymotik” im allgemeinen, dann in längeren Kapiteln ausführlich die thymotischen Wurzeln des katholizismus und Kommunismus und schließlich die aktuelle “Zornzerstreuung in der Ära der Mitte”. Dabei zeigt er sich nicht zuletzt dadurch auf der Höhe der Zeit, dass er siene Befunde in eine metaphorische Sprache der Ökonomie übersetzt: Von Zorngeschäften ist die Rede, Weltbankemn des Zorns sieht der Verfasser am Werk. Am Ende spricht er dem politischen Islam aufgrund dessen Mangels an politisch-kultureller Substanz mit Nachdruck die Fähigkeit ab, als Erbe des Kommunismus eine “Weltbank der Dissidenz” zu errichten.
Sloterdijks Darstellung ist geistreich, originell, mit einem Wort brillant. Doch ist sie dadurch auch alles andere als politisch korrekt. Auf Ablehnung vielerorts wird etwa seine Interpretation des Kommunismus als primärer und dem NS kausal vorhergehender Linksfaschismus stoßen. Jedoch ist Sloterdijk, soviel ist sicher, anders als weiland Ernst Nolte national-apologetischer Motive gänzlich unverdächtig. Das “vertikale Denken”, so bekannte er einst, erfolge eben nicht in rechts-Links-Schemata.
Peter Sloterdijk
Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch
Suhrkamp Verlag Frankfurt 2006
356 S., 22,80 €
ISBN 3-518418-40-8