Uwe Tellkamp setzt den überhitzten Neunzigern ein Denkmal
Thomas Claer
Diesmal also ein Zeitgeist-Buch über einen (und vermutlich auch von einem) “angry young man”: Der Bachmann-Preis-gekrönte Lyriker und studierte Mediziner Uwe Tellkamp (Jahrgang 1968) legt seinen zweiten Roman vor. Im Mittelpunkt steht darin der Leidensweg des zunächst arbeitslosen, später freiberuflich lebensberatend praktizierenden Philosophen Wiggo Ritter (30) in den späten neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In Teilen der Kritik ist schon von einem Schlüsseltext zum aktuellen Mode-Phänomen des akademischen Proletariats die Rede. Doch halten sich die Berührungspunkte zur unlängst von der ZEIT ausgerufenen “Generation Praktikum” in Grenzen. Anders als heute konnte sich nämlich damals ein Berufsanfänger tatsächlich als Versager fühlen, wenn es trotz hunderter Bewerbungsschreiben nicht mit einem Arbeitsplatz klappte. Zumindest galt dies, wenn man sich wie unser Held in Kreisen bewegte, die unmittelbar vom Medien- und Technologie-, Spaßgesellschafts- und Börsenhype profitierten. Im “Eisvogel” tragen junge Männer um die 30 grundsätzlich Anzug, siezen sich und haben in erster Linie ihren weiteren beruflichen Aufstieg im Kopf. Wiggo Ritters Vater, ein steinreicher Investmentbanker, der seine Sätze häufig mit einem “Also, als ich in deinem Alter war …” einleitet, wenn er seinem missratenen Sohn die Leviten liest, wird als rücksichtslos egozentrischer und cholerischer Charakter gezeichnet und lässt selbst an Wiggos glänzender Dissertation kein gutes Haar.
Dabei wäre es für manch anderen der Inbegriff von Coolness, wie Wiggo in einem verfallenen Altbau in Berlin-Friedrichshain das Leben eines Bohemien zu führen. Doch der zum pathetischen Lamentieren neigende Jung-Philosoph erkennt für sich nur die Möglichkeiten zu resignieren oder Widerstand gegen jene Gesellschaft zu leisten, die ihm, dem Hochbegabten, keine Chance gibt – statt seine Einstellung (und die seines Umfelds) zu den Dingen zu hinterfragen. Unter dem Einfluss des politisch irrlichternden gleichaltrigen Patentanwalts Mauritz Kaltmeister stehend, entscheidet er sich fatalerweise für den Widerstand und schließt sich einer reaktionären Loge an, die von einem national erwachten Ständestaat träumt und von Adeligen und Großindustriellen finanziert wird. Schließlich verliebt sich Wiggo auch noch in die schöne, politisch indifferente Schwester des paranoid-faschistoiden Mauritz, der einen Bombenanschlag auf das KaDeWe plant – und am Ende entladen sich die Emotionen in blutiger Gewalt.
Der Roman ist – stilistisch den modernen Avantgarden verpflichtet – in einer Art short-cut-Erzähltechnik komponiert, in der die kraftvolle, bilderreiche Sprache des Verfassers voll zur Geltung kommt. So haben bei Tellkamp die Frauen mitunter Brombeeraugen oder hagebuttenrote Lippen. Doch ermüden die larmoyanten inneren und expliziten Monologe der Hauptfigur den Leser allmählich derart, dass er Lust verspürt, selbst ins Geschehen einzugreifen und dem Protagonisten einmal produktiv Contra zu geben (was im Roman nur sporadisch geschieht). Schließlich setzt sich der Autor am Ende gar dem (jüngst im SPIEGEL formulierten) Verdacht der geistigen Komplizenschaft aus, indem er den einfältig-trüben Kaskaden der rechten Schwadroneure ungebührlich viel Raum gibt. Oder wollte er nur die intellektuelle Beschränktheit jener neuen Rechten vorführen, gegen deren Vereinnahmungen die gleichermaßen scharfsinnigen wie prekären konservativ-revolutionären Demokratieskeptiker früherer Tage (von Sorel bis Jünger) ganz entschieden in Schutz zu nehmen sind?
Uwe Tellkamp
Der Eisvogel. Roman
Rowohlt Berlin 2005
318 Seiten
EUR 19,90
ISBN: 3 87134 522 9