Miriam Schoeps erforscht die schwankenden Maßstäbe der “guten Sitten”
Thomas Claer
Im Jahre 1901 schuf eine förmliche Leipziger Herrenrunde einen der unsterblichen Klassiker der deutschen Rechtsprechung: Das Reichsgericht entwickelte seine legendäre Anstandsformel (RGZ 48,124), nach der ein Verhalten dann gegen die “guten Sitten” verstoße, wenn es dem “Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden” widerspreche. Was noch heute vor Gericht auch zur Begründung der Unwirksamkeit jedes Wuchergeschäfts zitiert wird, bezog sich damals auf das sprichwörtlich älteste Gewerbe der Welt, die noch bis vor 30 Jahren so genannte “Gewerbsunzucht”: Schuldverhältnisse, die ein geschlechtliches Verhalten gegen Bezahlung (den “Dirnenlohn”) zum Gegenstand hatten, wurden gem. § 138 BGB für nichtig erklärt. Lange war dies, wenn nicht in der Bevölkerung, so doch in einer bigotten Rechtsprechung, Konsens in Deutschland, bis vor knapp vier Jahrzehnten mit der sexuellen Revolution ein Wertewandel einsetzte, dessen Erschütterungen bis heute spürbar sind.
In ihrer Bielefelder Dissertation untersucht Miriam Schoeps die rechtlichen Beurteilungen der käuflichen Liebe und ihrer mannigfaltigen Geschwister wie Pornographie und Telefonsex im Spannungsfeld einer noch immer im Wandel begriffenen Sexualmoral. Dabei lesen sich die einschlägigen, oft divergierenden Gerichtsentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte wie eine Serie verzweifelter Rückzugsgefechte, denen nicht selten eine geballte Ladung unfreiwilliger Komik anhaftet. So urteilte das VG Neustadt noch 1985, dass durch den Betrieb eines Bordells “das Anstandsgefühl eines größeren Teils der Bevölkerung und auch der Jugend beeinträchtigt werden kann.” Heute sind Erotikindustrie und -gewerbe längst zu gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Wirtschaftsfaktoren geworden. Die Nachfrage beläuft sich in Deutschland nach Schätzungen auf etwa 1,2 Millionen sexuelle Dienstleistungen pro Tag.
Die Gerichte modifizierten derweil ihre Rechtsprechung weg vom angeblich seit jeher bestehenden Sittengesetz hin zum “dynamischen Begriff der Sittenwidrigkeit”, welcher die “guten Sitten” als dem geschichtlichen Wandel unterworfen und durch die vorherrschenden sozialethischen Überzeugungen der Rechtsgemeinschaft geprägt ansieht. Soll heißen: Erlaubt ist im Wesentlichen, was gefällt.
Miriam Schoeps
Die rechtliche Beurteilung kommerzialisierten Sexualverhaltens anhand außerrechtlicher Maßstäbe
Verlag Dr. Kovac Hamburg 2003
309 Seiten
EUR 95,00
ISBN: 3-8300-0914-3