Schon immer lag die Bedeutung des Sports nicht nur in der reinen Körperertüchtigung. Während heute seine Vermarktung im Vordergrund steht, fungierte er bis vor 15 Jahren auch als Fortsetzung des Kalten Krieges zwischen Ost und West mit anderen Mitteln. Derzeit kämpfen noch etwa hundert DDR-Doping-Opfer für eine zivilrechtliche Entschädigung
Thomas Claer
Als in diesen Tagen wieder einmal Athleten aus aller Herren Länder friedlich, aber leidenschaftlich um Medaillen stritten, wurde offensichtlich, wie weit der so genannte Leistungssport im Zeitalter der medialen Allgegenwärtigkeit die zwecklose Freude an der Bewegung hinter sich gelassen hat. Dabei übertraf die diesjährige Olympiade alles Bisherige in zweifacher Hinsicht: Zum einen bescherte sie diversen Branchen – von den Bekleidungs-Ausrüstern bis zu den Medienkonzernen – ein auf nie gekannte Ausmaße angewachsenes Geschäft.
Zum anderen sind die Olympischen Spiele neben der Fußball-Weltmeisterschaft zu dem globalen Schauplatz nationaler Emotionen geworden. Positiv ließe sich insofern vermerken, dass der Leistungsport – von Soziologen seit langem als moderner Kriegs-Ersatz gepriesen – im Verhältnis einiger Staaten zueinander allem Anschein nach tatsächlich an die Stelle früherer kriegerischer Auseinandersetzungen getreten ist.
Medaillen für den Sozialismus
Mit weit größerer Verbissenheit wurde der Kampf um die olympischen Triumphe aber bis vor anderthalb Jahrzehnten im kalten Krieg der politischen Ideologien geführt. Die Überlegenheit eines Gesellschaftssystems, so glaubte man damals, dokumentiere sich in heroischen Weltraumflügen, Mondlandungen – und eben auch in sportlichen Erfolgen. Medaillen mussten also her – egal wie und in welcher Disziplin.
Ein geradezu lückenloses staatliches Talentfrüherkennungs- und Förderungssystem für die verwegensten Sportdisziplinen, wenn sie nur olympisch waren, wurde installiert. Unterstützung fand der aufwändig und bestens geschulte Trainer- und Betreuerstab in einer Riege von Sportärzten, deren Aufgabe allein die körperliche Optimierung der Athleten, der Klassenkämpfer im Trainingsanzug, war.
Sport-Wunderland DDR
Nun ist dieses wohldurchdachte Goldmedaillen-Erringungs-Prinzip jedoch längst nicht in allen Ländern der sozialistischen Welt mit letzter Konsequenz verwirklicht worden. Vielerorts ging man die Sache eher pragmatisch an, konzentrierte sich lediglich auf einige landestypische Disziplinen und überließ ansonsten der ruhmreichen Sowjetunion auch auf diesem Feld die ohnehin beanspruchte Führungsrolle.
Anders war dies in der DDR, die hier mit deutscher Gründlichkeit ganz und gar Erstaunliches leistete: 203 Olympia-Goldmedaillen und 755 Olympiamedaillen insgesamt gingen an den ersten und letzten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat.
Von 1976 bis zu ihrem Ende 1990 belegte die DDR in den Länderwertungen sämtlicher Sommer- und Winterolympiaden den zweiten Rang hinter dem Sowjetimperium, ausgenommen die Winterspiele 1984 in Sarajewo, wo man sogar den ersten Platz erringen konnte. Hinzu kamen 768 Weltmeister- und 747 Europameister-Titel sowie unzählige Welt- und Europarekorde, vor allem beim Schwimmen, in den Eis- und Wintersportarten, im Radsport, in der Leichtathletik und beim Gewichtheben.
Gemessen an einer Einwohnerzahl von nicht einmal 17 Millionen ist dies eine geradezu ungeheuerliche Bilanz. Genug Ruhm für die Ewigkeit, könnte man meinen. Wenn das wiedervereinigte Deutschland seit 1990 ebenfalls bemerkenswerte sportliche Erfolge feiern konnte und in der Länderwertung der letzten Sommerolympiade immerhin noch einen beachtlichen fünften Platz belegte, so lag dies nicht zuletzt am überproportionalen Anteil von Sportlern, die entweder noch in der DDR ausgebildet worden sind oder in den Genuss von Ausbildern aus dem abgewickelten DDR-Sportfördersystem gekommen waren.
Schattenseiten: Doping
Nach der Wende stellte sich dann allmählich heraus, dass die perfekten Förderstrukturen allein nicht die einzige Ursache der phänomenalen Erfolge waren. In der DDR wurde – wie überall sonst in der Welt auch – den Sportlern durch den Einsatz leistungssteigernder Wirkstoffe gezielt nachgeholfen. Nur war das sozialistische Deutschland auch hierin perfekter als andere. Oft wurden die – nicht selten minderjährigen – Sportler von Trainern und Sportärzten nicht einmal über die an ihnen vorgenommenen Manipulationen informiert, geschweige denn um Zustimmung dazu ersucht.
Fast 15 Jahre nach der Wende geht die Wissenschaft von bis zu 10 000 Sportlern aus, die in der Ex-DDR mit Doping konfrontiert waren. Bis zu 1000 davon sollen dauerhaft geschädigt worden sein. Berichtet wird von Stimmvertiefungen und übermäßiger Behaarung bei Frauen, weiblicher Brustbildung bei Männern, schweren Stoffwechselstörungen, Leberschäden, Skelettverformungen, Gefäßerkrankungen, Depressionen und Unfruchtbarkeit. Einige Athletinnen brachten behinderte Kinder zur Welt.
Auch die Verschleierung gehörte zum System. Jeder Sportler der DDR hatte sich vor der Ausreise zu internationalen Wettkämpfen einer strengen Laborkontrolle im eigenen Land zu unterziehen, bei welcher überprüft wurde, ob verabreichte Mittel rechtzeitig abgesetzt worden waren. Nicht ein einziges Mal konnte man einem Sportler aus der DDR bei einem internationalen Turnier einen Verstoß gegen die
Doping-Bestimmungen nachweisen.
Zweck-Mittel-Relation
Was in aller Welt, so fragt sich der ungläubig staunende Beobachter aus heutiger Perspektive, konnte die Führung der DDR dazu anhalten, einen so hohen Preis für ihre olympischen Erfolge zu bezahlen, dafür Leben und Gesundheit ihrer Athleten zu riskieren und zu opfern? War der Sozialismus nicht ehedem dazu angetreten, dem Menschen ein menschlicheres Dasein zu ermöglichen? Nun, man wird es – wie so oft – dialektisch betrachtet haben: Der Zweck heiligte die Mittel und der hier zu erreichende Zweck der Medaillenflut war zum Teil der oben geschilderten Sozialismus-über-alles-Ideologie geschuldet. Darüber hinaus manifestierte sich im grausamen Eifer der Sportmediziner aber auch die ganze Tragik des weitgehend ungeliebten Teilstaates, dessen Daseinsberechtigung sich im Gesellschaftssystem erschöpfte, und der sich auf diesem Wege die Anerkennung zu erkaufen versprach, welche ihm sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner drakonisch geschützten Grenzen weitgehend verwehrt blieb. Traurige Figuren der Weltgeschichte zelebrierten den Einzug ihres unglückseligen Landes in die Annalen des Sports und merkten nicht, wie dicht sie schon vor dem politischen Abgrund standen.
Wenige Anträge auf Entschädigung
Im wiedervereinigten Deutschland dauerte es zunächst lange, bis die Aufarbeitung dieses zwielichtigen Kapitels der deutschen Sportgeschichte überhaupt in Gang kam. Erst im Jahr 2000 wurde der frühere Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) der DDR, Manfred Ewald, wegen seiner maßgeblichen Mitwirkung am Dopingsystem vom Landgericht Berlin wegen Körperverletzung verurteilt.
Am 31. August 2002 trat das vom Deutschen Bundestag am 14. Juni 2002 verabschiedete Gesetz zur finanziellen Entschädigung von Dopingopfern des Hochleistungssports der DDR (DOHG) in Kraft, in welchem den Geschädigten “aus humanitären und sozialen Gründen”, so Bundesinnenminister Otto Schily, Einmalzahlungen aus einem zwei Millionen Euro umfassenden Entschädigungsfonds zuerkannt wurden.
Aufgestockt wurde der Fonds um weitere 25 000 Euro, die der Berliner Arzneimittel-Hersteller Schering als Art “Wiedergutmachung” zuschoss. Schering hatte nach der Wende das Unternehmen Jenapharm übernommen, das wiederum das im DDR-Sport als Dopingmittel verwendetete Anabolikum Oral-Turinabol hergestellt hatte.
Anspruchsberechtigt waren Leistungssportler der früheren DDR, denen ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen Dopingsubstanzen verabreicht worden sind, und die dadurch einen erheblichen Gesundheitsschaden erlitten haben. Für den Nachweis der Kausalität zwischen der Einnahme von Doping-Mitteln und den nachfolgenden Gesundheitsschäden reichte die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs aus. Die Anträge mussten ein fachärztliches Gutachten beinhalten.
Bis zum Ende der vorgesehenen Frist am 31. März 2003 gingen beim Bundesverwaltungsamt in Köln aber nur 306 Anträge ein – weit weniger als erwartet. Anerkannt wurden schließlich 185.
Die Zurückhaltung der Antragsteller erklärt Ute Vogt, Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, damit, “dass viele Opfer anscheinend generell Bedenken hatten, sie müssten sich einer Diskussion stellen, die ihre Sportkarriere im Nachhinein in einem schlechten Licht erscheinen lässt”.
Freuen konnten sich darüber die anerkannten Antragsteller, denn nun verteilten sich die Gelder des Fonds auf weniger Köpfe: An 175 von ihnen wurden bereits Abschlagszahlungen in Höhe von jeweils 9.688 Euro ausgezahlt.
Doping-Opfer auf dem Klageweg
Doch damit gibt sich eine versprengte Schar Schwerstgeschädigter nicht zufrieden. Unter Federführung der früheren Kugelstoßerin Birgit Boese, welche die Anti-Doping-Beratungsstelle des Dopingopfer-Hilfe-Vereins (DOHV) in Berlin leitet, fordert sie Gerechtigkeit, was auch heißt: mehr Geld, am besten in Form einer zusätzlichen Jahresrente. Schließlich müssten viele Opfer, so Birgit Boese, pro Jahr etwa ein Monatsgehalt aufbringen, um die ärztliche Versorgung zu decken.
In einem Pilotprozess streitet derzeit die ehemalige Schwimmerin Karin König vor dem Landgericht Frankfurt am Main gegen das gesamtdeutsche NOK, Rechtsnachfolgerin des NOK der DDR, um weitere 10.000 Euro Entschädigung. Obsiegt sie, droht dem NOK eine Flut von Anschlussklagen.
Auch bezüglich Jenapharm ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen: Zwei Anwaltskanzleien verfolgen derzeit gegenüber der Schering-Tochter die Ansprüche von etwa 100 Doping-Opfern auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. So fällt am Ende immerhin auch etwas für die Juristen ab.