Justament Sept. 2003: Jammern verdirbt den Stil!

Gesammelte Essays von Hans Magnus Enzensberger

Thomas Claer

Enzensberger CoverDer Erfinder des Essays, jener bis heute nur undeutlich bestimmbaren literarischen Gattung, die von allem und nichts handeln kann und in den Bibliotheken mangels präziser Kategorisierbarkeit ein Nomadendasein fristet, war ein Jurist. Vor allem legte Michel de Montaigne (1533-1592) Wert auf die vorurteilsfreie Herangehensweise an die Gegenstände seiner “Versuche”. Wenn er einen Essay zu schreiben beginne, notierte er, kenne er dessen Ergebnis noch nicht und lasse sich letztlich selbst von den Resultaten seiner Gedankenführung überraschen. Ähnliches nimmt der Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929 und seit Jahrzehnten zu den herausragenden deutschen Intellektuellen zählend, für sich in Anspruch. Zum 40jährigen Jubiläum des Suhrkamp-Verlages ist nun eine Sammlung von 17 seiner gelungensten Essays aus den vergangenen 27 Jahren erschienen. Das Themenspektrum reicht von Überlegungen zum Analphabetentum (1985) über eine köstliche Beschreibung des real existierenden Sozialismus (1982) bis zum “digitalen Evangelium” (2000), einer fulminanten Analyse unserer gesellschaftlichen Realitäten mit beängstigenden Ausblicken.
Darin kommt Enzensberger etwa zu dem Schluss, dass die neue Gesellschaft aus vier Klassen bestehe: Aus den erfolgreichen und flexiblen”Chamäleons” in den führenden Positionen, den nahezu ebenso erfolgreichen, aber gänzlich unflexiblen “Igeln” in der Bürokratie, den sonstigen erbittert um ihren Arbeitsplatz kämpfenden “Bibern” und schließlich aus einer stetig wachsenden Unterklasse, für die es kein Totemtier gebe, da die Natur keine überflüssigen Arten kenne. Letztere Klasse stelle global bereits die Mehrheit und tauge nicht einmal mehr dazu, ausgebeutet zu werden.
Der Autor, der stets betont, dass die Zuverlässigkeit nicht zu seinen Tugenden zähle, durchläuft mitunter bemerkenswerte ideologische Metamorphosen zwischen anarchischem Weltverbesserungsgeist (“Plädoyer für den Hauslehrer”, 1982), elitärer Massenverachtung (“Das Nullmedium”, gemeint ist das Fernsehen, 1988) und bedrückend stammtischkompatiblem Lamento (wie beim Geißeln von Asylbewerberzahlen in “Über die Gutmütigkeit”, 1998). Doch erfährt der Leser auch Erhellendes über den Luxus, den “ewigen Widersacher der Gleichheit” (“Dialog über den Luxus”, 2001): Heute sei die Abgrenzung von der Mehrheit mit Geld allein nicht mehr zu erreichen und könne beispielsweise im Privileg liegen, über die eigene Lebenszeit so zu verfügen, wie es einem passt.
Im übrigen lässt Enzensberger Trauergesänge über die schwindende gesellschaftliche Relevanz der Kultur nicht gelten. Abgesehen davon, dass Jammern den Stil verderbe, gehe die Kultur ihrer Rolle als sozialer Code der Herrschenden verlustig und sei bald nur noch auf ihre eigenen Kräfte angewiesen – für Enzensberger durchaus keine betrübliche Aussicht.

Hans Magnus Enzensberger
Nomaden im Regal. Essays
Edition Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
198 Seiten, € 8,00
ISBN 3-518-12443-9

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