Eine Zusammenstellung sämtlicher Fernsehgespräche Alexander Kluges mit dem Soziologen Dirk Baecker
Thomas Claer
Über das Lamento, das Privatfernsehen führe ausschließlich zur kulturellen Verelendung, kann der Kenner nur müde lächeln. Die ambitioniertesten und kurzweiligsten Kultursendungen des deutschen Fernsehens werden seit fünfzehn Jahren zu später Stunde auf RTL und Sat 1 ausgestrahlt. Allerdings gehört es wohl auch zum besonderen Reiz von “News & Stories” oder “Prime Time”, dass der Zuschauer aus einer Welt komplexer Gedankengebäude und ästhetischer Bilder am Ende doch wieder in das gewohnte fröhlich-banale TV-Einerlei entlassen wird.
Verantwortlich für die viel gerühmten Kulturmagazine ist der 1932 geborene promovierte Jurist, Literat und Filmemacher Alexander Kluge, dem in diesem Jahr der Georg-Büchner-Preis verliehen wurde. Ihm gelang 1987 die Durchsetzung einer Sendelizenz für unabhängige Kulturprogramme im Privatfernsehen. Seitdem geht auf RTL und Sat 1 – produziert von der Firma “dctp” – das von Kluge so genannte “Fernsehen der Autoren” auf Sendung, das vornehmlich Bücher, Filme und Musiktheater, aber auch immer wieder Themen aus der Naturwissenschaft oder der Alltagskultur behandelt. Erlaubt ist alles, was den Geist anregt. Besonderes Markenzeichen dieser Magazine sind ihre Interviews, in denen der Meister selbst (von der Kamera stets ausgeblendet) einen Gast zum intellektuellen Pingpongspiel bittet. Untermalt werden die Dialoge von effektvollen Einblendungen der gerade in Rede stehenden Begriffe und Sentenzen in weißer oder roter Schrift vor pechschwarzem Hintergrund sowie durch flüchtige Porträts just zitierter Geistesgrößen.
Kluge, seit den späten 50er Jahren auch als Rechtsanwalt zugelassen, verbindet hier seine Neigung zum Philosophieren mit der zum Film. Während der junge Alexander Kluge, so wird es jedenfalls kolportiert, die Wahlstation seines Rechtsreferendariats am Frankfurter Institut für Sozialforschung absolvierte, habe Theodor W. Adorno ihn zum Kino-Altmeister Fritz Lang vermittelt – angeblich um ihn von Schriftstellerträumen zu befreien. Doch Kluge filmte – sein Spielfilmdebüt “Abschied von gestern” wurde im September 1966 bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt – und schrieb in einem fort – darunter so grandiose Literatur sui generis wie die 2000seitige “Chronik der Gefühle” (2000).
Zur dritten Passion wurden ihm schließlich die beschriebenen Kultursendungen, in denen sich über die Jahre hin ein “harter Kern” von immer wieder aufs Neue eingeladenen Interviewpartnern herauskristallisiert hat: Neben dem schon 1995 verstorbenen Dramatiker Heiner Müller, dem Goethe- und Japanexperten Manfred Osten (Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, wie Kluge promovierter Jurist) und dem Philosophen Josef Vogel gehört zu ihnen auch der Soziologe Dirk Baecker, der beim berühmten Bielefelder Systemtheoretiker Niklas Luhmann (1927-1998, ebenfalls “gelernter” Jurist) promovierte. Der Titel der nun als Buch erschienenen Zusammenstellung sämtlicher Fernsehdialoge zwischen Kluge und Baecker, “Vom Nutzen ungelöster Probleme”, kann aber wohl nur als Verlegenheitslösung gelten, denn die hier abgehandelte thematische Bandbreite geht weit über das Problemlösen hinaus.
Über Luhmanns Schmallippigkeit, die unvermeidliche Langsamkeit des Denkens, künstliche Intelligenzen als Kannibalen der Information und die Funktionsweise des modernen Managements wird ebenso räsoniert wie über den Nutzen und die Gefahren der Bürokratie, das Phänomen Stress und die Lebenserwartung von Organisationen. Baecker erweist sich als ein Meister des treffenden Gedankenblitzes im freien Spiel der Assoziationen. Erst in der geschriebenen Form wird deutlich, wie sich die Diskutanten manchmal missverstehen, aneinander vorbei denken und reden, um dann doch wieder zusammenzufinden.
Besonders eindrucksvoll geraten Baecker seine, zum Teil von Fachkollegen übernommenen, Parabeln aus dem Tierreich: Sperrt man etwa einige Bienen in eine geöffnete leere Glasflasche, deren Boden auf die einzige Lichtquelle im Raum gerichtet ist, suchen sie so systematisch wie vergeblich den Flaschenboden nach einem Ausweg ab und können ihrem Gefängnis so niemals entfliehen. Wird das Experiment variiert, indem man – eigentlich viel einfacher strukturierte – Fliegen in die Flasche setzt, finden diese durch ihre unsystematischen Ausbruchsversuche in alle Richtungen schon nach kurzer Zeit ins Freie. Oder: Wirft man einen Frosch in siedendes Wasser, wird er sofort und unter Aufbietung aller Kräfte versuchen herauszuspringen. Setzt der Experimentator ihn hingegen in kaltes Wasser, das sich nur langsam und allmählich erwärmt, leistet der Frosch keinen Widerstand, selbst wenn er schließlich gekocht wird.
Allerdings – es soll am Ende nicht verschwiegen werden – trüben etliche sprachliche Fehler, vor allem im ersten Kapitel, den guten Gesamteindruck dieser Publikation. Dabei sollen doch gute Korrekturleser derzeit auf dem Markt so billig zu haben sein – vor allem, wenn es sich bei ihnen um ausgebildete Juristen handelt …
Dirk Baecker/ Alexander Kluge
Vom Nutzen ungelöster Probleme
Merve Verlag, Berlin, 2003
144 Seiten, € 12,80
ISBN 3-883-96186-8