Die globale Dominanz des Westens könnte bald zu Ende gehen
Thomas Claer
Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, das Sowjetimperium war kollabiert, in Amerika wurde das Ende der Geschichte ausgerufen und in Europa eine “neue Unübersichtlichkeit” der weltpolitischen Lage festgestellt, wirbelte eine überraschende Attacke aus Fernost die Koordinaten des westlichen politischen Denkens durcheinander. Thesen, die zunächst nur in intellektuellen Debatten der östlichen Hemisphäre beheimatet waren, wurden nun auch von den Präsidenten Singapurs und Malaysias verkündet: Der Sieg des Westens über den Weltkommunismus, hieß es, werde schnell verblassen angesichts der Aussicht auf eine schon bald und mit Gewissheit eintretende wirtschaftliche, politische und kulturelle Vorherrschaft des asiatischen Kontinents, denn “die Asiaten” verfügten über Tugenden, welche den Amerikanern und Europäern größtenteils abgingen, wie Ordnung, Disziplin, Familienzusammenhalt, harte Arbeit, Kollektivismus und Enthaltsamkeit gegenüber der Hemmungslosigkeit, der Faulheit, dem Individualismus, der Kriminalität, der minderwertigen Bildung und der Missachtung der Autorität im Westen. Vor allem der in der ostasiatischen Kultur verwurzelte Primat von Gruppeninteressen über Einzelinteressen habe eine rapide Entwicklung wie etwa die in den Tigerstaaten möglich gemacht.
“Asiatische Werte” und “konfuzianischer Kapitalismus”
Im Westen wurde diese Argumentation – was in der Tat auch nahe liegend war – als gänzlich unzulässige Pauschalierung zurückgewiesen. Angesichts der bald aufziehenden Asienkrise schien sie sich sogar selbst ad absurdum zu führen. Bei solch dramatischen hausgemachten Finanzkatastrophen, so glaubte man bei uns, konnte es doch mit den “asiatischen Werten” nun wirklich nicht weit her sein. Heute aber, nach der eindrucksvollen Bewältigung der ost- und südostasiatischen Finanzkrise in kollektiven Kraftakten und der Rückkehr zu alten Wachstumsraten, während insbesondere das “alte Europa” eher auf der Stelle tritt, ist die Diskussion längst wieder neu entflammt. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie kam zum Ergebnis, dass China bis 2014 Deutschland in der Wirtschaftskraft überholen werde (Quelle: Spiegel Online vom 23.1.2004).
Das Zauberwort heißt “Konfuzianischer Kapitalismus” (siehe dazu das nebenstehende Interview) und beschreibt ein ökonomisch-rechtlich-kulturelles Modell, das hierzulande den einen Verlockung, den anderen nur Schrecken bedeutet. Seine größten Fans hat es fraglos im wirtschaftsliberalen Lager. So rühmte die politisch eher konservative “Wirtschaftswoche”, die vor Jahresfrist den Irakkrieg bejubelte und sich zur Verhinderung eines EU-Beitritts der Türkei für keine Deutschtümelei zu schade ist, die Vorbildlichkeit der aufstrebenden Länder Ostasiens für das schwerfällige und reformunwillige Deutschland. In einer ihrer Ausgaben mit dem Titel “Das asiatische Jahrhundert” (der gleich noch ein China-Sonderheft nachgelegt wurde) befand das Blatt vor einigen Monaten, es sei nur als eine Rückkehr zur weltpolitischen Normalität zu begreifen, wenn das Zentrum der Welt sich, was nun zu erwarten sei, nach dreihundertjähriger westlicher Dominanz wieder in Richtung Ostasien, namentlich ins Reich der Mitte, verschiebe. Die der wirtschaftlichen Entwicklung (angeblich) so förderlichen “asiatischen Werte” seien vor langer Zeit auch die unseren gewesen, inzwischen aber aufgrund übertriebener politisch-rechtlicher Emanzipationsbewegungen bedauerlicherweise verloren gegangen.
Politische Fronten paradox
Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Umkehrung der gewohnten politischen Argumentationsmuster: Ausgerechnet der Konservatismus, der sonst zumindest stillschweigend die Überlegenheit der eigenen Verhältnisse voraussetzt, orientiert sich an exotischen Vorbildern und anerkennt die Traditionen fremder Völker (wobei er das natürlich nicht aus aufgeklärter Weltoffenheit tut, sondern aus taktischem Kalkül um den hiesigen Sozialabbau voranzutreiben). Im linken Spektrum hingegen, wo man den Respekt vor der Kultur des Anderen hochhält, werden die aufstrebenden fernöstlichen Länder überwiegend als sozial- und gesellschaftspolitische Entwicklungsgebiete betrachtet, denen dringend eine Annäherung an das eigene Modell empfohlen wird. Neu ist solche paternalistische Attitüde nicht: In Thomas Manns Roman “Der Zauberberg” (1924) verkörpert der italienische Freimaurer und Humanist Settembrini den historisch engen Zusammenhang zwischen modernem Fortschrittsdenken und eurozentrischer, um nicht zu sagen kulturimperialistischer Tendenz. Nach Settembrinis Darstellung lagen zwei Prinzipien im Kampf um die Welt: die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, das Prinzip des Beharrens und dasjenige der gärenden Bewegung, des Fortschritts. Man könne das eine das asiatische Prinzip, das andere das europäische nennen, denn Europa sei das Land der Kritik und der umgestaltenden Tätigkeit, während der östliche Erdteil die Unbeweglichkeit, die untätige Ruhe verkörpere. (Wie doch, so muss man heute feststellen, das Blatt sich wenden kann!) Der Sieg, so Settembrini weiter, würde am Ende der Aufklärung zufallen, die letztlich auch immer mehr Erde Asiens erobern werde.
Rechtskultur in asiatischen Ländern
Tatsächlich hat es in Asien seitdem zwar eine starke westliche Beeinflussung, aber gewiss keinen bedingungslosen Verzicht auf die eigenen Traditionen gegeben. Vielmehr entstanden immer wieder spezifische Synthesen aus Alt und Neu. Gesetzestechnisch und institutionell unterscheiden sich etwa die Rechtssysteme Japans oder Südkoreas heute nicht mehr wesentlich von denen westlicher Staaten. Auch China orientiert sich organisatorisch immer stärker an westlichen Vorbildern, ohne dabei freilich auf eigene Prioritäten zu verzichten. Was sich aber – und dies gilt tendenziell für den gesamten ost- und südostasiatischen Kulturraum – sehr von westlichen Ländern unterscheidet, ist die geringe Relevanz von Recht und Gesetz im Alltag, was wiederum als Wirtschaftsfaktor eine erhebliche Bedeutung hat. Konflikte werden in weitaus geringerem Umfang mit Hilfe rechtlicher Kommunikationscodes (geschweige denn vor Gericht) ausgetragen. Dies ist traditionell tief verwurzelt. So lehrte Konfuzius (551-479 v. Chr.): “Will man Gehorsam durch Gesetze und Ordnung durch Strafe, dann wird sich das Volk den Gesetzen und Strafen zu entziehen versuchen und alle Skrupel verlieren. Wird hingegen nach sittlichen Grundsätzen regiert und die Ordnung durch Beachtung der Riten und der gewohnten Formen des Umgangs erreicht, so hat das Volk nicht nur Skrupel, sondern es wird auch aus Überzeugung folgen.”
Ist aber eine durch und durch verrechtlichte Gesellschaft wie die unsere wirklich zukunftstauglicher als eine solche mit nur subsidiär eingreifendem Rechtssystem, wenn letztere möglicherweise eine größere wirtschaftliche Effizienz mit sich bringt? Es kann, so Niklas Luhmann (“Das Recht der Gesellschaft”, Frankfurt 1995) durchaus sein, “dass die gegenwärtige Prominenz des Rechtssystems und die Angewiesenheit der Gesellschaft selbst und der meisten ihrer Funktionssysteme auf ein Funktionieren des Rechtscodes nichts weiter ist als eine europäische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwächen wird.”
Information
Ausführlicher und mit zahlreichen Belegen behandelt der Verfasser die Thematik auch im Rahmen seiner Dissertationsschrift “Negative Staatlichkeit”
Interview: Konfuzianischer Kapitalismus
Jeong-Soo Kang ist Korrespondent der liberalen südkoreanischen Zeitung Hankyore und studiert Wirtschaftswissenschaften in Berlin. Er arbeitet unter anderem an einem Vergleich der Sozialsysteme Deutschlands und Südkoreas.
Herr Kang, was ist “konfuzianischer Kapitalismus”?
Der Begriff beschreibt ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, dessen Besonderheit in der Verknüpfung von modernen Technologien und konfuzianischer Tradition liegt. Benutzt wird er vom amerikanischen Historiker Bruce Cumings und anderen Sozialwissenschaftlern, um die rasante Wirtschaftsentwicklung in mehreren Ländern Asiens während der letzten Jahrzehnte zu erklären. Es handelt sich um einen ambivalenten Begriff, der sowohl anerkennend wegen der erreichten Wirtschaftskraft als auch in einem abwertenden Sinne, nämlich als Synonym für mangelnde gesellschaftliche Modernität, verwendet wird. Oft wird dem “konfuzianischen Kapitalismus” (vor allem dem in Südkorea) auch der “konfuzianische Sozialismus” in Nordkorea gegenübergestellt. Nur teilweise passt der Begriff auf das Ursprungsland des Konfuzianismus, China, da dort die Führung wichtigen Elementen des Konfuzianismus, vor allem dessen emanzipationsfeindlichem Frauenbild, distanziert gegenüber steht. “Konfuzianisch” bedeutet im hier diskutierten Zusammenhang vor allem die Anerkennung von “Chung” und “Hyo”, d.h. der unbedingten Loyalität gegenüber dem Staat und Autoritätspersonen wie den Eltern, dem König (heute der Regierung) und den Lehrern. Nach traditioneller Überzeugung bekommen die Herrscher ihren Auftrag direkt vom Himmel. Jeder Widerstand gegen Autoritäten gilt daher letztlich als unmoralisch. Diese Tradition stützt die Hierarchien in der Gesellschaft, nicht zuletzt am Arbeitsplatz und in der Schule.
Was kennzeichnet den “konfuzianischen Kapitalismus” speziell in Ihrer Heimat Südkorea?
Die Wirtschaft entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch staatlichen Interventionismus. In den 70er und 80er Jahren gab es groß angelegte Wirtschaftsförderprogramme und astronomische Subventionen, zunächst für die Stahl-, später für die Auto- und Elektroindustrie. Aus dieser Zeit stammt das System der “Chaebols”, der alles beherrschenden Wirtschaftskonglomerate. Die Gewerkschaften wurden von Anfang an schwach gehalten. Seit der OECD-Mitgliedschaft 1992 und vor allem seit der Wirtschaftskrise in den späten 90ern wurde der staatliche Einfluss auf die Wirtschaft aber etwas zurückgefahren. Doch in den Betrieben und den Schulen gilt überwiegend noch immer das Prinzip des strikten Gehorsams. Selbst Gewalt wird, wenn sie von Autoritäten kommt, oft bereitwillig akzeptiert und nur selten hinterfragt. Bis vor wenigen Jahren gab es kaum Anzeigen gegen Lehrer, die ihre Schüler schlugen, und wegen sexueller Belästigung durch Vorgesetzte am Arbeitsplatz.
Wie bewerten Sie den “konfuzianischen Kapitalismus”?
Dem Modell liegt eine einseitige, ich finde sogar falsche Interpretation unserer Traditionen zugrunde. Im Konfuzianismus gibt es nämlich neben den zentralen Grundsätzen des Gehorsams und der strengen Hierarchien durchaus auch Kategorien wie die Nächstenliebe oder die der Herstellung von Chancengleichheit durch allgemeine Bildung, was aber heute praktisch ausgeblendet wird. Die Bezugnahme auf die konfuzianische Tradition dient leider nur der Legitimierung gesellschaftlicher Ungleichheit und einer verschärften Selektion durch Bildung. Korea muss sich aber von den so verstandenen konfuzianischen Traditionen befreien, denn die ausgeprägten “horizontalen Hierarchien” stellen inzwischen ein Hindernis für die weitere wirtschaftliche Entwicklung dar. Was auf früheren Stufen noch von Nutzen war, wirkt momentan eher nachteilig. Auch braucht die Gesellschaft sicherlich breitere Eliten als derzeit. Doch angesichts der Dynamik, die unser Land in der Vergangenheit gezeigt hat, bin ich auch für die Zukunft optimistisch.