justament.de, 19.9.2022: Zum Tod von Jean-Luc Godard (1930-2022)
Ein persönlicher Rückblick
Thomas Claer
Mein erster Godard-Film war für mich zugleich auch der eindrucksvollste und inspirierendste. Als ich im jugendlichen Alter zum ersten Mal „Prénom Carmen“ (dt. Vorname Carmen“) aus dem Jahr 1983 sah, war ich zugegebenermaßen hauptsächlich an den opulenten Nacktszenen mit der unvergleichlichen Maruschka Detmers interessiert, die dann auch weiterhin die favorisierte Sex-Göttin meiner Träume bleiben sollte. Darüber hinaus machte ich in diesem Film aber auch Bekanntschaft mit der Musik von Tom Waits und den späten Streichquartetten Ludwig van Beethovens. Und mir wurden die Augen dafür geöffnet, wie vollendet und poetisch ein Film sein kann. Diese betörend schönen Bilder haben mich nie wieder losgelassen: das Rauschen der Meeresbrandung, das Streichquartett beim Üben und natürlich die hüllenlose Maruschka Detmers mit üppiger Schambehaarung im selbstvergessenen Liebesspiel. Vom Inhalt des Films allerdings habe ich bis heute nicht viel verstanden. Eine ziemlich verworrene Geschichte ist das, auf die es aber auch nicht so entscheidend ankommt. Jean-Luc Godard ist selbst darin aufgetreten, hat in einer nicht unbedeutenden Nebenrolle sich selber gespielt – als Onkel von Carmen (Maruschka Detmers), der er u.a. seine Wohnung am Meer zur Verfügung stellt, wo sie sich dann mit ihrem jungen schönen Geliebten vergnügt, der eigentlich der Polizist ist, der auf sie aufpassen soll, denn sie ist eine Bankräuberin; aber vielleicht ist das ja auch nur der Plot des Films, den sie gerade mit ihren Freunden dreht, wobei sie ihr Onkel unterstützen soll. Es bleibt alles in der Schwebe, und so erinnert man sich rückblickend vor allem an die schönen Bilder in ihrer Verbindung mit der schönen Musik…
Später habe ich mir dann auch noch ganz viele andere Godard-Filme angeschaut: „Außer Atem“, „Die Chinesin“, „Lemmy Caution gegen Alpha 60“… Toll waren sie alle, hintergründig und raffiniert, mal subversiv, mal plakativ. Wie er die großen Filmdiven in Szene setzen konnte – von Anna Karina bis Brigitte Bardot – das war schon einmalig. Schon möglich, dass mit seinem Tod auch der Tod des ganz großen Kinos zusammenfällt. Denn wie es scheint, hat die Streamingdienst-Serie inzwischen das Kino schon beinahe an den Rand der Bedeutungslosigkeit verdrängt. Für mich jedenfalls bleibt der große Jean-Luc Godard ganz besonders mit diesem einen Film verbunden, der mir so viel bedeutet.
justament.de, 9.12.2019: Tom’s Wild Years
Scheiben Spezial: Zum 70. Geburtstag von Tom Waits
Thomas Claer
Berlin-Romantik in den wilden Neunzigern: Partys in verfallenen Altbauwohnungen, „absonderliche Gespräche zwischen absonderlichen Leuten“, so beschreibt es Judith Hermann in ihrem Buch „Sommerhaus, später“. Aber im Hintergrund, ganz wichtig!, läuft als Gesprächskulisse nicht etwa Techno-Gewummere, wie es zu jener Zeit aus fast jedem Keller dringt, sondern: Tom Waits-Musik, so richtig schmutzige, schräge, abgefuckte Tom Waits-Musik. Damals, in den Achtzigern und Neunzigern, das kann man wohl sagen, hatte dieser amerikanische Anti-Pop-Star seine beste Zeit. Die wunderbare Katharina Franck hat 1986 ihre großartige Band „Rainbirds“ nach einem Song von Tom Waits benannt. Im Film „Prenom Carmen“ von Jean-Luc Godard (1983) räkelt sich die göttliche Maruschka Detmers minutenlang nackt (und mit üppiger Schambehaarung) in einem Hotel-Bett zu einem sehnsuchtstriefenden Song von Tom Waits.
Viele sind von ihm beeinflusst worden. Nicht nur musikalisch, auch als Stil-Ikone. Der ganzen verlogenen Glamour-Scheiße in der Hochglanz-Welt der Pop-Musik setzte dieser kauzige Eigenbrötler im Second-Hand-Boheme-Outfit sein tiefsinniges heiseres Krächzen entgegen, das sich in den Neunzigern immer mehr zu einem Röcheln und Würgen auswuchs, vor allem auf „Bone Machine“ (1992), seinem wohl stärksten Album, das mir, wie schon früher einmal an dieser Stelle berichtet, so viel bedeutet. Gleich danach ist seine Underground-Trilogie aus den Achtzigern mit den Platten Swordfishtrombones (1983), Rain Dogs (1985) und Frank`s Wild Years (1987) zu rühmen. Und nicht zu vergessen: Schon seine Spelunken-Barmusik aus den Siebzigern („Nighthawks at the Diner“) war große Klasse. Dass er in den letzten zwei Jahrzehnten dann künstlerisch etwas nachließ, sollte ihm niemand verübeln. Herzlichen Glückwunsch, lieber Tom Waits, röchel, grunz, kreisch, zum 70.!
www.justament.de, 27.11.2017: Röchel, grunz, kreisch!
Scheiben Spezial: Vor 25 Jahren erschien „Bone Machine“ von Tom Waits
Thomas Claer
Ein Vierteljahrhundert ist es nun schon her, dass “Bone Machine”, die wohl abgründigste, kaputteste und zugleich genialste aller Tom Waits-Platten das Licht der Welt erblickte. Auf mich machte dieses Album, damals mit Anfang zwanzig, einen tiefen unauslöschlichen Eindruck. Und das lag nicht nur an der in jungen Jahren – auch bei mir – besonders ausgeprägten Begeisterungsfähigkeit. Gewiss, hätte ich damals schon das ganze Frühwerk dieses Meisters der schrägen Klänge gekannt, dann wären mir gewisse Wiederholungen, zumal bei den langsameren Stücken am Piano, nicht entgangen. Doch hätte wohl auch dies meinen Enthusiasmus kaum getrübt. Natürlich war es ein Glücksfall, Tom Waits gerade mit dieser Platte für mich entdeckt zu haben…
Im Sommer 1993, dem letzten vor Beginn meines Jura-Studiums, reiste ich mit meinem Freund A drei Wochen lang durch Frankreich. Schließlich hatten wir während unseres Zivildienstes ein Jahr lang an der Volkshochschule Französisch gelernt und brannten nun darauf, unsere frisch erworbenen Sprachkenntnisse an Ort und Stelle anwenden zu können. Wir reisten mit Interrail-Ticket, Zelt und Rucksack, das war ja klar. Wie uncool wäre das denn gewesen, sich etwa mit dem Rollkoffer auf die Reise zu machen? Mit der Hygiene nahm man es auf den Campingplätzen nicht sonderlich genau. Hätte ja auch ziemliche Umstände bereitet, sich ständig die schulterlangen Haare zu waschen. Am schönsten war es, keine Frage, in Frankreichs Süden, vor allem in der Provence mit ihren magischen Düften und Farben. Und so landeten wir eines Tages in der Jugendherberge der Stadt Nimes und trafen dort auf eine Gruppe junger Deutscher, mit denen wir den Abend verbrachten. Schnell freundete ich mich mit einem Geschichts-Studenten aus Cloppenburg an, und der legte dann irgendwann seine Tom-Waits-Kassette mit „Bone Machine“ in den dort herumstehenden Kassettenrekorder. Klänge solcher Art hatte ich noch nie zuvor gehört! Die Musik rumpelte, krachte, zischte und dröhnte, dass es eine Freude war. Und dann diese Stimme, die in einem fort röchelte, grunzte und kreischte. Während wir seine Kassette wieder und wieder abspielten, wohl den ganzen Abend lang, erzählte mir der Cloppenburger Geschichtsstudent alles, was er über Tom Waits wusste, und das war eine Menge. Bis tief in die Nacht fachsimpelten wir in der Gruppe über unsere jeweiligen Auffassungen von Pop-Musik…
Am nächsten Tag fuhren wir dann mit einem Kleinbus von der Jugendherberge zum nahe gelegenen Pont du Gare, jenem berühmten Aquädukt aus der Römerzeit. Und dort bin ich mit meinem Freund A oben auf dem Rand der mächtigen Wasserleitung, noch dazu bei stürmischen Winden, in mehr als 20 m Höhe über dem kaum Wasser führenden Fluss von der einen Seite bis zur anderen gelaufen, ohne jede Absicherung. Abends in der Jugendherberge erklärte man uns deshalb für lebensmüde, denn dort seien schon zahlreiche Touristen in die Tiefe gestürzt. Keiner, dem ich später von diesem Abenteuer berichtet habe, wollte es mir glauben, denn inzwischen ist am Pont du Gare längst alles abgesperrt und keine Überquerung mehr möglich…
Am Ende unserer Fahrt habe ich mich dann tatsächlich noch mit meinem Freund A zerstritten. Anlass war eine Ausgabe der Illustrierten BUNTE, die wir irgendwo an einem französischen Bahnhofskiosk erstanden hatten, mit sensationellen Paparazzi-Nacktfotos des Models Claudia Schiffer. Den Kaufpreis hatten wir uns, glaube ich, geteilt. Und nun wollten wir die delikaten Fotos unter uns aufteilen, um den für uns wertlosen Rest der Zeitschrift anschließend entsorgen zu können. Aber wer sollte welches Foto behalten dürfen? Weder A noch ich wollte auf das größte und in unseren Augen schönste dieser Bilder verzichten, auch wenn man zum Ausgleich alle anderen Fotos, und es gab noch einige weitere im Journal, hätte behalten können. Damals ahnten wir noch nichts von der unmittelbar bevorstehenden Erfindung des Internets, das solche Streitereien schon wenige Jahre später hinfällig werden ließ…
Bald nach dem Urlaub kaufte ich mir die Tom Waits-Platte „Bone Machine“, den Soundtrack unserer Reise, natürlich auf Vinyl. Und die aufgenommene Kassette mit dieser Musik lief bei mir dann in den folgenden Jahren recht häufig im Studentenwohnheim. Sollte ich jemals ein Testament verfassen, dieser Gedanke kam mir wohl schon damals in den unteren Semestern, dann werde ich darin den Wunsch äußern, dass der Song „Dirt in the Ground“, das zweite Stück von „Bone Machine“, auf meiner Beerdigung gespielt wird. Aber unbedingt auf einem möglichst schäbigen Mono-Kassettenrekorder. „Cause we ´re all gonna be just dirt in the ground.“
Tom Waits
Bone Machine
Island Records 1992
ASIN: B001SXE0T0
www.justament.de, 29.5.2012: Melancholische Momente
Tom Waits auf seiner aktuellen Platte „Bad As Me“
Thomas Claer
Auf Tom Waits ist Verlass, na klar. Fast schon zu den unumstößlichen Gesetzen der Popmusik gehört es, dass – nun bereits seit vierzig Jahren – jede Tom Waits-Platte aufs Neue überzeugt. Doch macht „Bad As Me“ es einem schwerer als sonst, dem großen Beschwörer des etwas anderen amerikanischen Traums den gewohnten Beifall zu zollen. Regelrecht hektisch geht es los mit „Chicago“, ziemlich straight und rockig weiter auf „Raised night sun“. Lieder dieser Art hat man von ihm vor zwanzig und sogar vor dreißig Jahren schon weitaus bessere gehört. Gehen ihm, fragt man sich ängstlich, langsam die Ideen aus? Beim ersten Durchhören des Albums scheint sich diese Befürchtung zu bestätigen. Im weiteren Verlauf werden die Songs immer ruhiger, ohne einen vom Hocker zu reißen. Irgendwelche Einflüsse von neueren musikalischen Strömungen fehlen diesmal völlig, was wohl nicht nur daran liegt, dass sich der Meister bereits auf seinem letzten Studioalbum „Real Gone“ (2004) einige Hip Hop Elemente geliehen hat, sondern auch daran, dass seitdem praktisch keine relevanten neueren Strömungen mehr entstanden sind, auf die zurückzugreifen sich für ihn lohnen könnte. So lässt man „Bad As Me“ zunächst etwas enttäuscht links liegen und hört erst nach einiger Zeit wieder rein, als sich die eigene Gemütslage gerade einmal etwas eingetrübt hat. Und hier zeigen diese Lieder dann doch noch, was in ihnen steckt! Nicht alle, aber doch so einige von ihnen, namentlich so in sich ruhende Perlen wie „Face tot he Highway“, „Back to the Crowd“ und „Kiss me“ erweisen sich als wahre Seelentröster. Man mag es Sentimentalität nennen, doch es funktioniert. Offenbar braucht es eine melancholische Stimmung des Rezipienten, um bei den stärksten Titeln dieses Albums ganz auf seine Kosten zu kommen. Anders gesagt: Ein besserer Freund in einsamen Nächten als eine Tom Waits-Platte ist gar nicht vorstellbar. Gewiss, er hatte schon stärkere Alben, doch kann man sich, der Songtitel „Get Lost“ liefert das Stichwort, auch in diesen Songs verlieren. Das Urteil lautet: voll befriedigend (10 Punkte).
Tom Waits
Bad As Me
Anti (Indigo) 2011
Ca. € 17,-
ASIN: B005IQ2LT4
Justament Okt. 2010: Tierisch gut
Tom Waits begeistert auf seinem aktuellen Live-Album
Thomas Claer
Wer Leute zu sich nach Hause einlädt und ganz auf Nimmer sicher gehen will, der legt Tom Waits-Platten auf, egal welche. Der coole Tom Waits, heute 60, gilt in informierten Kreisen seit langen Jahren als absoluter Konsens-Künstler. Während man über viele andere Pop-Musiker zu sagen pflegt, sie würden auf der Bühne zum Tier, gilt das für Tom Waits bereits auf seinen Platten, zumindest auf seinen reiferen seit den Achtzigern. Dennoch nehmen die Live-Einspielungen einen besonderen Rang ein im umfangreichen Werk des großen Romantisierers und Ästhetisierers des Abgebranntseins als Existenzmodus. Da gab es zunächst das damals sehr umstrittene Doppelalbum „Nighthawks at the Diner“ (1975), bei dem künstlich und kalkuliert die Atmosphäre in einer anrüchigen Spelunke als perfekte Illusion erzeugt wurde. Heute hat ihm das inzwischen wohl jeder verziehen, denn keine „echte“ Bar-Musik könnte wundervoller sein als diese Platte. Dann gab es die sehr kraftvolle „Big Time“ (1988), die vor allem die deutlich rockigeren Stücke seit 1980 versammelt. Und nicht zu vergessen die ganz und gar absonderliche geisterhafte Live-Version von „The Piano Has Been Drinking“, aufgenommen in Dublin 1981, von der Compilation-Platte „Bounced Checks“, die nie als CD gepresst wurde, doch auf YouTube finden wir sogar das.
Und nun also nach über 20 Jahren ein weiteres Live-Album. „Glitter & Doom“ entstand auf der gleichnamigen Tour, die den kalifornischen Songwriter 2008 durch die USA und Europa führte. Die in zehn verschiedenen Städten aufgenommenen insgesamt 17 Songs sind eher solche der zweiten Reihe, die hier in oft völlig verändertem musikalischen Gewand erklingen. Die Live-Atmo kommt vortrefflich rüber. Bluesig und mitunter jazzig klingen die Arrangements. Auf einer zweiten CD befinden sich noch etliche Zwischenbemerkungen, Anekdoten und Bühnenansprachen des Meisters im Dialog mit seinem Publikum. Doch dies fließt nicht in die Bewertung ein, da der Rezensent das Gemurmel ganz überwiegend nicht verstehen kann.
Noch kurz zur Präsentationsweise: Tom Waits auf CD oder gar in digitaler Formatierung abzuspielen, muss man schlichtweg als Todsünde bezeichnen. Auf einem Uralt-Kassettenrekorder in Mono-Klangqualität im Studentenwohnheim – das geht gerade noch an. Ansonsten ist Vinyl hier Pflicht. Rechtfertigen lässt sich sein Genuss auf CD allenfalls damit, die eigenen guten alten Vinyl-Scheiben für den noch ausgesuchteren, noch lieberen künftigen Besuch schonen zu wollen. Wichtig ist ferner, die Whisky-Flasche stets in Reichweite stehen zu haben. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).
Tom Waits
Glitter and Doom (Doppel-CD)
Anti (Indigo) 2009
Ca. € 17,-
ASIN: B002SG7L9W