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www.justament.de, 30.3.2009: Es muss auch mal gut sein

Phantom Ghost auf ihrem zwiespältigen vierten Album

Thomas Claer

Cover PhantomIrgendwann in den Neunzigern kam das auf: Eine Reihe mehr oder weniger etablierter Bands wollte mal was ganz Anderes machen und dabei auch noch ihr gesamtes Umfeld samt Fangemeinde verstören, wenn nicht gar schockieren. Dabei muss das Verstörendste, der schlimmste auslösbare Schock für jede Band, die etwas auf sich hält, immer der Flirt mit dem Seichten, der Oberfläche sein. Was hier aber noch Ironie und was schon blinde Adaption des hohlen Pathos ist, das hält man bewusst in der Schwebe. Solche Platten hießen dann „Hauptsache Musik“ oder „Old Nobody“.
Begreiflich ist es schon, wenn eine erfolgreiche Band mit großer Fangemeinde so etwas tut. Denn die Verzückung der Anhängerschar über jedes noch so ausgefallene Werk ihrer Lieblinge braucht manchmal auch ungewöhnliche Nahrung. Die Protagonisten zeigen damit schließlich auch, dass sie sich nicht auf die ewig gleiche Rolle festlegen lassen wollen.
Aber: Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Es muss dann auch irgendwann mal gut sein. Und wenn ein Nebenprojekt, um dass sich niemand kümmern würde, gebe es das überaus erfolgreiche Hauptprojekt nicht, wenn also das elektronische Freakprojekt „Phantom Ghost“ des Tocotronic-Sängers Dirk von Lowtzow und des Keyboarders Thies Mynther, von dem ohne den Erfolg von „Tocotronic“ keiner Notiz genommen hätte, nun auf seinem vierten Album plötzlich auf Nur-Stimme-und-Klavier-mit-Operetten-und-Musicalsongs macht, dann ist die Grenze des Erträglichen, sagen wir, zumindest über weite Strecken, überschritten.
Es ist, das ist einzuräumen, nicht alles schlecht auf der CD. Das stimmliche Zusammenwirken Dirk von Lowtzows mit der Berliner Künstlerin Michaela Meise in einigen Stücken kann schon eine gewisse Attraktivität entfalten. Und das eine oder andere Lied lässt sich auch durchaus hören. Doch verlieren sich so viele andere eben leider in Albernheiten und Belanglosigkeiten. Missraten ist die im Ansatz ambitionierte Literaturvertonung “The Process (after Brion Gysin)“. Hier haben die heute leider fast vergessenen „Kastrierten Philosophen“ in den Neunzigern weit Besseres geleistet. Und auch das Stück „Meshes of the Afternoon“, wohl vom gleichnamigen surrealistischen Film inspiriert, kann nur enttäuschen.
“Thrown Out Of Drama School” ist daher wohl nur etwas für alle jene Hardcore-Tocotronic-Fans, die um keinen Preis der Welt einen Ton ihres Dirk von Lowtzow versäumen möchten. Das Urteil lautet: ausreichend (6 Punkte).

Phantom Ghost
Thrown Out Of Drama School
Dial (rough trade) 2009
Ca. € 17,-
ASIN: B00260YMXS

Justament Sept. 2007: Fast wie früher

Tocotronic mit ihrem neuen Album “Kapitulation”

Thomas Claer

21 SCHEIBEN VOR GERICHT Cover TocotronicFür die jüngeren Semester muss man es vielleicht erklären: Im Jahre 1994 fanden sich die Jurastudenten Dirk von Lowtzow und Jan Müller sowie der Kunststudent Arne Zank in Hamburg zusammen, um fortan in minimalistischer Besetzung (Gesang/Gitarre – Bass – Schlagzeug) als TOCOTRONIC – benannt nach einer japanischen Spielekonsole – Rockmusik zu betreiben. Bald war die alternative Boygroup damit so erfolgreich, dass alle Protagonisten ihr Studium an den Nagel hängten. TOCOTRONIC wurden neben BLUMFELD und den STERNEN zur bekanntesten Band der “Hamburger Schule” und begründeten en passant diverse Jugendmoden wie den Digitaluhren-, Cordhosen- und Trainingsjacken-Retroschick, dazu die charakteristische TOCOTRONIC-Frisur: lange Haare vorne und Seitenscheitel. Nicht zuletzt sind sie auch als Sprachrohr der Slacker-Bewegung wahrgenommen worden, jener gesellschaftlichen Strömung, die Coolness und Selbstverwirklichung in der konsequenten Vermeidung von Anstrengungen in von ihr als unwichtig eingeschätzten Bereichen sieht – unter Verzicht auf berufliche Karriere, sozialen Aufstieg und konventionelle Statussymbole. Soviel zur Historie. Nun haben TOCOTRONIC also ihr achtes Album veröffentlicht. Und zunächst ist augenfällig, dass ihnen so etwas wie ein Marsch durch die Institutionen geglückt ist – wie allein schon die positive Besprechung in der Wirtschaftswoche beweist, aber auch die hier vorgenommene in unserem Karrieremagazin. Und TOCOTRONIC haben sich nach einer längeren Durststrecke mit eher schwächeren Veröffentlichungen ganz offensichtlich wieder gefangen. Erfreulich rockig kommen die Stücke daher und auch textlich haben sie sich von den Ausflügen in die Esoterik des Vorgängeralbums (“Pure Vernunft darf niemals siegen”) gottlob verabschiedet. Wie in frühen Tagen feiert Dirk von Lowtzow, übrigens mit recht aristokratischer Attitüde, den müßiggängerischen Individualismus und erklärt den Zumutungen der Leistungsgesellschaft den Krieg (“Du musst nicht zeigen, was du kannst”). Es geht wieder richtig zur Sache, die Harmonien gelingen ihnen fast wie in alten Zeiten. Eine vergleichbare Homogenität der Stücke auf hohem Niveau haben wir von ihnen zuletzt 1998 auf K.O.O.K. gehört. Und doch wird jeder, der die Band schon lange kennt, wehmütig feststellen, dass ihr etwas Entscheidendes verloren gegangen ist, das sich wohl kaum wiederherstellen lässt: ihre dilettantische Unbefangenheit, ihr einfach so Drauflosrocken, die charmante Ungelenkheit ihrer Texte, die immer etwas an nervige Klugscheißer aus dem Deutschleistungskurs erinnerte. Vorbei! Heute spielen sie (leider!) sauberer und texten (leider!!) abgeklärter als früher, wo es auch mal hieß: “Gitarrenhändler, ihr seid Schweine!” Das Gesamturteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).

Tocotronic
Kapitulation
Vertigo Be / Universal Music Berlin 2007, CD, 54:06 Minuten
ca. EUR 15,00
ASIN: B000R7HYXM