Justament Juni 2008: In der Popularitätsfalle?
The Notwist enttäuschen auf höchstem Niveau
Thomas Claer
Die Erwartungshaltung war einfach riesig. Sechs Jahre hatten The Notwist kein Album mehr veröffentlicht und anderthalb Jahre waren sie mit dem Material im Studio, bis in diesem Frühjahr endlich “The Devil, You + Me” das Licht der Welt erblickte, die erst sechste CD der Combo aus dem oberbayrischen Weilheim in nahezu 20 Jahren Bandgeschichte. Die internationale Musikpresse tat ihr Übriges: Von der besten deutschen Band war allerorts die Rede. Das Feuilleton und selbst das heute-journal waren alarmiert. Und immer wieder wurde die Geschichte erzählt von der Dreiviertelmillion, die ein britisches Telekommunikationsunternehmen der Band 2002 geboten haben soll, wenn sie nur ihren Hit “Pick up that Phone” als Werbesong zur Verfügung stellen würde. Die Musiker lehnten ab. Inzwischen weigert sich die Band, in Interviews über dieses Thema zu sprechen, doch werden die drei langhaarigen Brillenträger im Schlabber-Look längst landauf, landab als unkorrumpierbare Heilige des Pop-Business verehrt. Auch so etwas kann natürlich korrumpieren… Tappen The Notwist also allmählich in die Popularitätsfalle? Fast scheint es so, wenn man den Klängen des neuen Albums lauscht, an die man sich erst gewöhnen muss. Wie auf den drei Vorgängeralben, die nach zwei lärmenden Hardcore-Punk-Frühwerken den Ruhm der Band als deutsche Ausnahme-Gruppe begründeten, wird auf “The Devil, You + Me” weitgehend eine neue musikalische Richtung eingeschlagen, ohne dass man sich vom immer charakteristischen, hinreißend melancholischen Notwist-Sound verabschiedet hätte. Doch anders als auf der fein-kontrastreichen Gitarrenrock-Scheibe “12” (1995), der Jazz und elektronische Avantgarde raffiniert verknüpfenden “Shrink” (1998) und der elektronisch-komplexen “Neon Golden” (2002) gereicht der Band die Erneuerung diesmal nicht unbedingt zum Vorteil. Wir erleben einen bedenklichen Flirt mit dem Orchestralen, manchmal sogar mit dem Bombast. Warum dieser Zuckerguss, warum so dick aufgetragen? Einigen Liedern des Albums (es geht schon los mit dem Opener “Good Lies”) bricht das eindeutig das Genick. Es finden sich aber letztlich dann doch wieder so viele Perlen auf der CD, dass für genug Entschädigung gesorgt ist. An “Hands On Us”, “On Planet Off”, “Alphabet” oder “Boneless” kann man sich einfach nicht satt hören. Das Gesamturteil lautet: voll befriedigend (11 Punkte).
The Notwist
The Devil, You + Me
Big Store/City Slang 2008
Ca. EUR 17,00
ASIN: B0015YBOL4
Justament März 2008: Was ist das?
PJ Harvey überrascht und verstört auf “White Chalk”
Thomas Claer
Gewiss war PJ Harvey, britische Songwriterin und nebenher Bildhauerin und Lyrikerin, schon immer mit dem Wahnsinn im Bunde. Und auch an Wandlungsfähigkeit hat sie es in ihrer 15-jährigen alternativen Popkarriere nicht fehlen lassen. Das neue Album schießt hier nun aber definitiv den Vogel ab. Bei den ersten Takten des Openers “The Devil” glaubte ich zunächst an einen Irrtum der Plattenfirma. Waren das Kinderchöre? Ein Klavierspiel wie auf einer Gespenstermesse. Ein gruseliges Kinderlied also? Aber dann doch unverkennbar PJs Gesang, nur mindestens eine Oktave höher als sonst. Es wird dann später streckenweise auch wieder konventioneller, doch die Songs kommen durchgängig ohne Drums und elektrische Gitarren aus. Rein akustisch eingespielt, mit dominantem Klavier sowie Zither, Fiedel, Banjo und Klampfe instrumentiert, gelangt “White chalk” zu einer fast schon aufreizenden Intimität und Zerbrechlichkeit – um dann aber doch immer wieder zu überraschenden konzeptionellen Sprüngen anzusetzen. So versucht sich die Künstlerin im Song “To Talk To You”, wenn wir der Einschätzung des Wikipedia-Autors Glauben schenken dürfen, sogar im mongolischen Kehlkopfgesang.
Früher, auf ihren sieben Vorgängeralben, bei großzügigerer Zählweise waren es sogar neun, klang es bei ihr noch anders: Sie spielte zumeist einen schweren, oft auch harten Bluesrock, mit expressivem Gesang bis hin zu hysterischen Ausbrüchen. Wie etwa im völlig orgiastischen Song “City of No Sun” vom Album “Dance Hall at Louse Point” (1996), einem ihrer stärksten. Es folgten auch einige melodischere, fast schon poppige Ausreißer wie vor allem die irritierende CD “Stories from the City, Stories from the Sea” (2000), bis PJ Harvey mit dem Vorgängeralbum Uh Huh Her (2004) wieder beim erdigen Bluesrock ihrer Anfangsjahre angelangte. Doch nun ist bei der 38-Jährigen nichts mehr wie es war. Ihre öffentlichen Dämonenaustreibungen sind in eine völlig neue Phase gekommen. Rücksichts- und kompromisslos sprengt sie die Grenzen des Genres Rockmusik, ohne dass sich letztlich genau benennen ließe, um was es sich beim Ertrag dieses Ausbruchs eigentlich handelt. So wie white chalk, weiße Kreide, posiert Polly Jane auch auf dem Coverfoto: blass im Gesicht, im weißen Kleid, auf einer unsichtbaren Sitzgelegenheit, die Hände in den Schoß gelegt. Ein minimalistisches Konzeptalbum von großer Intensität. Das Urteil lautet: voll befriedigend (12 Punkte).
PJ Harvey
White Chalk
Island (Universal) 2007, CD, 33:59 Minuten
ca. EUR 15,00
ASIN: B000SFYUV2