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justament.de, 12.4.2021: Frickelbrüder auf Weltreise

The Notwist mit ihrer achten Platte „Vertigo Days“

Thomas Claer

Sieben Jahre lang haben The Notwist, die Indie-Götter aus Weilheim in Oberbayern, an ihrem bislang achten regulären Album „Vertigo Days“ gearbeitet. Schon vor drei Jahren, so heißt es, sei es eigentlich fertig gewesen. Doch habe man dann doch noch hier und da ein wenig nachbessern müssen. Man kann es sich gut vorstellen, wie die Brüder Markus und Micha Acher, die nach dem Ausscheiden von Martin Gretschmann alias Console im Jahr 2014 einzigen beiden noch verbliebenen Bandmitglieder, gefühlte Ewigkeiten an ihrem Material herumgefrickelt haben. Wobei das elektronische Frickeln an den Sounds ja über die Jahre sozusagen zu ihrem Markenkern geworden ist. Was aber diesmal anders ist als auf allen Vorgänger-Alben, ist die große Zahl an mitwirkenden Gastmusikern aus beinahe allen Teilen der Welt. So haben u.a. ein japanischer Sänger, ein Klarinettist aus Chicago, ein Jazzmusiker namens Ben LarMar Gay und eine argentinische Keyboarderin Akzente gesetzt, die man der Platte auch von vorne bis hinten anhört. Man könnte sogar sagen, dass dieses bemerkenswert vielstimmige Album so etwas wie eine musikalische Weltreise geworden ist.
Dennoch wird „Vertigo Days“ getragen vom unverkennbaren Notwist-Sound und erinnert hierin vielleicht am stärksten an den unmittelbaren Vorgänger „Close to the Glass“ (2014). Doch auch die noch früheren Alben werden gelegentlich gerne zitiert, bis hin zum raffinierten Posaunen-Einsatz, der an das großartig jazzige „Shrink“ (1998) denken lässt. Positiv formuliert ließe sich also feststellen, dass es The Notwist gelungen ist, sehr unterschiedliche musikalische Einflüsse in den eigenen Klang-Kosmos zu integrieren und daraus wieder einmal ein in sich rundes und doch abwechslungsreiches Album zu basteln. Durch eine kritischere Brille betrachtet könnte man aber auch zur Einschätzung gelangen, dass den mittlerweile über 50-jährigen Notwist-Brüdern im 32. Jahr ihres Band-Bestehens so langsam die Ideen ausgehen und sie sich nur noch durch weltmusikalische externe Transfusionen und jahrelanges Damitherumfrickeln überhaupt noch künstlerisch am Leben halten können.
Nun mag jede Hörerin und jeder Hörer selbst entscheiden, welcher Sichtweise sie oder er sich anschließen möchte. Aus unserer Sicht neigt sich die Waagschale jedoch ganz klar zum positiven Gesamturteil. Und dieses lautet: gut (13 Punkte).

The Notwist
Vertigo Days
Morr Music 2021
LC 10387

justament.de, 17.8.2020: Brettern, Schrammeln, Frickeln

Ein großes Werk des Übergangs: Vor 25 Jahren erschien “12” von The Notwist

Thomas Claer

So wie man sich eigentlich ganz sicher ist, dass Otto Schily niemals bei den Grünen gewesen sein kann und Thilo Sarrazin nicht in der SPD, es aber aufgrund historischer Aufzeichnungen dennoch besser weiß, so glaubt man auch zu wissen, dass die genialische Indie-Band The Notwist nie etwas mit Heavy Metal zu tun gehabt haben kann. Und dennoch haben die Soundtüftler aus Oberbayern ihre ersten beiden Alben ausgerechnet in diesem eher grobschlächtigen Genre gefertigt. Es lohnt sich schon, diese beiden Frühwerke noch einmal anzuhören, denn hinter der Lärmwand aus wildem Gebretter lauern doch hier und da bereits erste zarte Spuren der unverkennbar melancholischen und später so stilprägenden Notwist-Harmonien.

Noch viel mehr gilt dies aber für ihre dritte Platte “12”, den ersten wahren Geniestreich aus dem Notwist-Kosmos, den sie vor genau 25 Jahren, im Sommer 1995, einer erstaunten Welt präsentierten: noch sehr gitarrenlastig, aber doch ganz anders als auf ihren Erstlingen – und sogar schon mit ersten elektronischen Spielereien. Kurz gesagt: aus Gebretter wurde Geschrammel, und hinzu trat erstmals das für sie später so charakteristische Gefrickel. Doch ist der eigentliche Frickel-Song auf der regulären Version von “12” gar nicht drauf. Er findet sich nur auf der den ersten 5000 Exemplaren beigefügten Bonus-CD “Loup” und ist die gleichnamige vollelektronische Version des Album-Openers “Torture Day”. Hier durfte sich erstmalig Martin Gretschmann (alias Console) austoben, der später neben den Brüdern Micha und Markus Acher festes Bandmitglied wurde. Ganz besonders besticht auf “Loup”, das leider nicht auf YouTube zu finden ist, aber auch der unerhört laszive Gastgesang der Amerikanerin Cindy Dall, die zu jener Zeit auch mit der Band Smog kooperierte sowie zwei wenig beachtete Solo-Alben herausbrachte. (Später hat Cindy Dall hauptsächlich als Fotografin gewirkt und ist dann leider bereits 2012 im Alter von nur 41 Jahren gestorben.) “Loup” sollte The Notwists einziges Experiment mit einer weiblichen Stimme bleiben.

In den Jahren darauf sind die bayrischen Indie-Götter mit ihrem blauen Album “Shrink” (1998) und ihrem roten Album “Neon Golden” (2002) dann endgültig auf dem Olymp ihrer Kreativität angekommen. Das Gesamturteil für das bunte Album “12” (einschließlich der “Loup”-Single!) lautet: gut (15 Punkte).

The Notwist
12
IRS CD 984.064 (1995)

www.justament.de, 24.3.2014: Soundtrack eines Lebensgefühls

Das siebte Notwist-Album „Close to he Glass“

Thomas Claer

cover-notwistWelch ein Glück, die begnadeten Soundtüftler aus Oberbayern sind wieder da – mit einem Album, das durchaus mehr zu bieten hat als bloße Ruhmesverwaltung. Viel muss man heute wohl nicht mehr sagen zum traurig-schönen Notwist-Sound, zum universellen Soundtrack eines verloren-urbanen Lebensgefühls. Kaum zu glauben, dass die Brüder Markus und Micha Acher in den frühen Neunzigern mit zwei Heavy-Rock-Platten angefangen haben. Davon war später aber nicht mehr viel zu hören. Zwischen 1995 und 2002 erschienen dann ihre großen Pop-Meisterwerke, an denen man sich nicht satthören konnte: das bunte Album „12“, das blaue Album „Shrink“ und das rote Album „Neon Golden“. Teil der Kernbesetzung neben den Acher-Brüdern ist seit 1997 auch Martin „Konsole“ Gretschmann, der für die elektronische Komponente sorgt. Und ganz nebenbei begründeten die Musiker durch zahlreiche verwandte Nebenprojekte wie Lali Puna und Ms. John Soda mit der „Weilheimer Schule“ der notwistesken Pop-Musik eine Art südliches Pendant zur „Hamburger Schule“ des nördlicheren Indie-Pop.
Das letzte Jahrzehnt ließen The Notwist allerdings etwas geruhsamer angehen. Ihre vorige Platte „The Devil You + Me“ von 2008 war eher zwiespältig: Genau fünf exzellente Songs standen sechs reichlich misslungenen gegenüber, auf denen sie sich, man muss es so hart sagen, ein wenig im Bombast verirrt hatten. Jetzt sind sie aber glücklicherweise wieder voll und ganz bei sich angekommen. Der Einstieg in „Close tot he Glas“ ist betont elektronisch. Es frickelt, knarzt und loopt nicht mehr nur wie bisher, nein, neuerdings piept und tutet es sogar bei ihnen. Doch das gibt sich dann im weiteren Verlauf der Platte. Der große Kracher ist natürlich die Single „Kong“. Beim anfänglichen Hören klingt Markus Achers hohe Stimme zu Beginn zwar noch etwas befremdlich, doch dann hat man flugs diesen Ohrwurm in sich und wird ihn nicht mehr los. In der Mitte des Albums folgen ein paar sehr schöne und sehr reduzierte Gitarren-Songs. Und am Ende gibt es plötzlich noch ein paar regelrechte Ambient-Tracks, die an die frühen Pink Floyd und die Anfänge von YELLO erinnern. Mit etwas Gewöhnung lässt sich auch denen etwas abgewinnen. So ließe sich allenfalls einwenden, dass es auf dieser Platte hin und wieder eine Spur zu poppig zugeht. Aber na wenn schon… Alles in allem also wieder eine rundum erfreuliche und dabei überraschend vielfältige Scheibe der Weilheimer. Nicht umsonst haben sie jahrelang dran gefeilt. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).

The Notwist
Close to the Glass
City Slang (Universal) 2014
Ca. € 16,-
ASIN: B00GRHBEAA

Justament Juni 2008: In der Popularitätsfalle?

The Notwist enttäuschen auf höchstem Niveau

Thomas Claer

Notwist Devil CoverDie Erwartungshaltung war einfach riesig. Sechs Jahre hatten The Notwist kein Album mehr veröffentlicht und anderthalb Jahre waren sie mit dem Material im Studio, bis in diesem Frühjahr endlich “The Devil, You + Me” das Licht der Welt erblickte, die erst sechste CD der Combo aus dem oberbayrischen Weilheim in nahezu 20 Jahren Bandgeschichte. Die internationale Musikpresse tat ihr Übriges: Von der besten deutschen Band war allerorts die Rede. Das Feuilleton und selbst das heute-journal waren alarmiert. Und immer wieder wurde die Geschichte erzählt von der Dreiviertelmillion, die ein britisches Telekommunikationsunternehmen der Band 2002 geboten haben soll, wenn sie nur ihren Hit “Pick up that Phone” als Werbesong zur Verfügung stellen würde. Die Musiker lehnten ab. Inzwischen weigert sich die Band, in Interviews über dieses Thema zu sprechen, doch werden die drei langhaarigen Brillenträger im Schlabber-Look längst landauf, landab als unkorrumpierbare Heilige des Pop-Business verehrt. Auch so etwas kann natürlich korrumpieren… Tappen The Notwist also allmählich in die Popularitätsfalle? Fast scheint es so, wenn man den Klängen des neuen Albums lauscht, an die man sich erst gewöhnen muss. Wie auf den drei Vorgängeralben, die nach zwei lärmenden Hardcore-Punk-Frühwerken den  Ruhm der Band als deutsche Ausnahme-Gruppe begründeten, wird auf “The Devil, You + Me” weitgehend eine neue musikalische Richtung eingeschlagen, ohne dass man sich vom immer charakteristischen, hinreißend melancholischen Notwist-Sound verabschiedet hätte. Doch anders als auf der fein-kontrastreichen Gitarrenrock-Scheibe “12” (1995), der Jazz und elektronische Avantgarde raffiniert verknüpfenden “Shrink” (1998) und der elektronisch-komplexen “Neon Golden” (2002) gereicht der Band die Erneuerung diesmal nicht unbedingt zum Vorteil. Wir erleben einen bedenklichen Flirt mit dem Orchestralen, manchmal sogar mit dem Bombast. Warum dieser Zuckerguss, warum so dick aufgetragen? Einigen Liedern des Albums (es geht schon los mit dem Opener “Good Lies”) bricht das eindeutig das Genick. Es finden sich aber letztlich dann doch wieder so viele Perlen auf der CD, dass für genug Entschädigung gesorgt ist. An “Hands On Us”, “On Planet Off”, “Alphabet” oder “Boneless” kann man sich einfach nicht satt hören. Das Gesamturteil lautet: voll befriedigend (11 Punkte).

The Notwist
The Devil, You  + Me
Big Store/City Slang 2008
Ca. EUR 17,00
ASIN: B0015YBOL4