Tag Archives: Romantik

justament.de, 28.7.2025: Im Labyrinth der Träume

Die Ausstellung “Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik” in der Kunsthalle Hamburg

Thomas Claer

Wenn es im Ostsee-Urlaub schon ständig regnet, dann setzt man sich eben einfach in den Zug nach Lübeck und besucht die Ausstellung “Thomas Mann und die Demokratie”. Dumm ist nur, wenn man dann nie in Lübeck ankommt, weil man wegen erheblicher Zugverspätung seinen Anschluss verpasst hat. So ist das nun mal mit dem Deutschland-Ticket… Aber man kann ja stattdessen immer noch nach Hamburg weiterfahren. Schließlich läuft dort auch gerade eine sehr besondere Ausstellung. Und länger als knapp zwei Stunden wird man doch bestimmt nicht brauchen für “Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik”, denkt man sich.

Immerhin ist die Kunsthalle nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt. Doch ist man erst einmal dort drinnen, merkt man schnell, dass hier ein langer Atem gefragt ist. Viel Text erwartet den Besucher in den Eingangsräumen, aber ohne dessen aufmerksame Lektüre vorab ist die Fülle von mehr als 300 Ausstellungsstücken, hauptsächlich Gemälden, aus einer Zeitspanne von über 150 Jahren kaum zu bewältigen. Der Gesamteindruck ist übermächtig und verstörend. In Kurzform lässt sich sagen: Es ist eine ebenso naheliegende wie überzeugende kuratorische Idee, den Surrealismus mit der Romantik kurzzuschließen, denn schließlich hat sich jener immer wieder ausdrücklich auf diese bezogen und hat diese jenen bereits in vieler Hinsicht antizipiert. Vor allem aber ist diese Ausstellung ein schöner Anlass, sich beiden Epochen einmal tiefergehend zu widmen, denn nur die wenigsten der hier gezeigten Werke dürften allgemein bekannt sein.

Gewiss, Caspar David Friedrich mit seinem “Wanderer über dem Nebelmeer” ist wohl jedem, der auch nur einen Hauch von Kunstinteresse mitbringt, schon mal irgendwo begegnet. Aber wer weiß schon, dass sein ebenfalls aus Vorpommern stammender frühromantischer Kollege Philipp Otto Runge eine Vielzahl von zweifellos surreal anmutenden Werken fabriziert hat? Auch mag das Titelbild dieser Kunstschau, der “Hausengel” von Max Ernst, vielen ein Begriff sein, schon weil dieses aufgeplusterte, rücksichtlos wütende und dabei alles um sich herum zertrampelnde Wesen so frappierend an Donald Trump erinnert. Doch wer kennt schon so fabelhafte surrealistische Künstlerinnen wie Dorothea Tanning, Valentine Hugo oder Leonora Carrington? Und dann sind da auch noch Künstler, die man eigentlich nicht unbedingt dem Surrealismus zugeordnet hätte, die aber in dieser Ausstellung recht plausibel gewissermaßen ihre surrealistische Seite zeigen, wie Paul Klee oder Joan Miro.

Als die knapp zwei Stunden fast schon rum sind und wir zum Zug müssen, haben wir gerade erst ein gutes Drittel der Ausstellung gesehen. Wir gehen also wenigstens noch mal im Schnelldurchgang durch die restlichen Räume in den oberen Etagen, doch dann habe ich plötzlich meine Frau verloren, als ich irgendwo hängengeblieben bin und sie offenbar zügig weitergegangen ist. Wir finden uns nicht mehr, und mein Handy liegt im Rucksack, unten im Schließfach. Das Sicherste ist nun also, schnell die Treppen runter zum Schließfach zu eilen. Doch das ist leichter gesagt als getan in diesem Irrgarten von einer Kunsthalle. Ich folge auf verschlungenen Wegen den “Ausgang”-Schildern, komme aber nicht dort raus, wo wir hineingegangen sind und sich die Schließfächer befinden, sondern im Museumsshop. Die Zeit drängt, und ich laufe panisch zurück, doch dann habe ich mich völlig verirrt. Schließlich lande ich wieder im Museumsshop, verlasse dann die Kunsthalle und finde endlich um die Ecke wieder den Eingangsbereich mit den Schließfächern. Ich rufe nun meine Frau, die mich noch irgendwo sucht, auf dem Handy an. Kurz darauf ist auch sie am Schließfach. Unseren Zug haben wir aber schon verpasst – und meine Frau ihren Online-Sitzungstermin am Abend. Und ich bin schuld daran!

Doch dann suche ich auf dem Handy nach der nächsten Zugverbindung. Dabei sehe ich, dass der Zug, den wir verpasst zu haben glaubten, in Wirklichkeit gar nicht gefahren ist. “Verbindung fällt aus”, steht dort. Also ist es gar nicht meine Schuld, dass wir verspätet zurückkommen, sondern die der Deutschen Bahn AG! Der nächste und letzte Zug zurück geht erst in zwei Stunden. Wir können also – man kann schon sagen: Glück im Unglück – nochmal zurück in die Kunsthalle und uns wenigstens noch für gut eine Stunde den Rest der Ausstellung ansehen. Dann ist unsere Aufnahmefähigkeit aber endgültig erschöpft, und wir müssen ja auch noch im Bahnhof etwas essen. Wenigstens mit dem letzten Zug klappt dann alles reibungslos. Ein Hoch auf das Deutschlandticket und den damaligen FDP-Minister, der es eingeführt hat!

Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik
Kunsthalle Hamburg
Noch bis 12.10.2025

justament.de, 13.7.2020: Fernbeziehung fällt ins Wasser

Fernbeziehung fällt ins Wasser

Recht cineastisch, Teil 37: „Undine“ von Christian Petzold

Thomas Claer

Endlich mal wieder ins Kino nach der langen Corona-Pause. Da kommt „Undine“, das neue Werk von Christian Petzold, doch gerade richtig. Denn diesmal hat sich der Altmeister der „Berliner Schule“ einem besonders reizvollen Gegenstand gewidmet: dem alteuropäischen Undinen-Mythos, wonach jene Wassernymphen, deren bezaubernder Gesang mitunter nachts über unseren Gewässern zu hören sein soll, eine Seele bekommen, wenn sie sich mit einem Menschen vermählen. Wird derjenige seiner Undine jedoch untreu, dann tötet sie ihn und kehrt sodann wieder ins Wasser zurück.
Die Film-Undine (Paula Beer) allerdings lebt zunächst einmal im Hier und Jetzt, genau genommen am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte in einem winzigen Mikro-Apartment. Als junge Freelancerin arbeitet die promovierte Historikerin in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen und macht Führungen für Reisegruppen zum Thema Stadtgeschichte. Der Industrietauscher Christoph (Franz Rogowski) hört Undines Vortrag und ist gleich hin und weg von ihr. Dass Undine gerade von ihrem Mann (Jacob Matschenz) verlassen worden ist, macht sie besonders empfänglich für Christophs Verliebtheit, und die beiden erleben wie im Rausch eine beglückend intensive Zeit, der auch die unvermeidliche Pendelei – Christoph lebt und arbeitet in NRW – nichts anhaben kann. Dramatische Abschiede auf Bahnsteigen, das fortwährende Warten aufeinander, ein kleines Geschenk als Liebespfand – das volle Programm einer romantischen Fernbeziehung. Aber dann kommt es knüppeldick: Undine wird von ihrem Ex umgarnt, der sie zu sich zurückholen will, Christoph bemerkt das und verunglückt bald darauf beim Tauchen. Aber Undine opfert sich für ihn, der bereits hirntot im Krankenhaus liegt, indem sie den Mythos wahr macht, ihren nur vorübergehend reumütigen verräterischen Ex erwürgt und anschließend für immer in einen See abtaucht. In diesem Moment wird Christoph wundersamerweise wieder gesund. Später beginnt er, da er Undine nicht mehr finden kann, eine Partnerschaft mit seiner Kollegin Monika (Maryam Zaree), die zwei Jahre später ein Kind von ihm erwartet. Dennoch bleibt er weiter besessen von Undine, die ihm unversehens bei einem Taucheinsatz unter Wasser begegnet und seine Hand ergreift. Fortan zieht es ihn immer wieder zu diesem See, an dem Undine ihm auch weiterhin als Wassergeist erscheint. Und so behält Christoph am Ende gleich zwei Partnerinnen: aus Fleisch und Blut an seiner Seite die eine, ein irreales Fabelwesen unter Wasser die andere. Und wieder einmal ist Christian Petzold ein ergreifender Film voller schöner Bilder gelungen.

Undine
Deutschland/Frankreich 2020
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold
Länge: 90 min
FSK: 12
Darsteller: Paula Beer (Undine Wibeau), Franz Rogowski (Christoph), (Monika), Jacob Matschenz (Johannes) u.v.a.

Justament Okt. 2010: Tierisch gut

Tom Waits begeistert auf seinem aktuellen Live-Album

Thomas Claer

25 SCHEIBEN Tom Waits CoverWer Leute zu sich nach Hause einlädt und ganz auf Nimmer sicher gehen will, der legt Tom Waits-Platten auf, egal welche. Der coole Tom Waits, heute 60, gilt in informierten Kreisen seit langen Jahren als absoluter Konsens-Künstler. Während man über viele andere Pop-Musiker zu sagen pflegt, sie würden auf der Bühne zum Tier, gilt das für Tom Waits bereits auf seinen Platten, zumindest auf seinen reiferen seit den Achtzigern. Dennoch nehmen die Live-Einspielungen einen besonderen Rang ein im umfangreichen Werk des großen Romantisierers und Ästhetisierers des Abgebranntseins als Existenzmodus. Da gab es zunächst das damals sehr umstrittene Doppelalbum „Nighthawks at the Diner“ (1975), bei dem künstlich und kalkuliert die Atmosphäre in einer anrüchigen Spelunke als perfekte Illusion erzeugt wurde. Heute hat ihm das inzwischen wohl jeder verziehen, denn keine „echte“ Bar-Musik könnte wundervoller sein als diese Platte. Dann gab es die sehr kraftvolle „Big Time“ (1988), die vor allem die deutlich rockigeren Stücke seit 1980 versammelt. Und nicht zu vergessen die ganz und gar absonderliche geisterhafte Live-Version von „The Piano Has Been Drinking“, aufgenommen in Dublin 1981, von der Compilation-Platte „Bounced Checks“, die nie als CD gepresst wurde, doch auf YouTube finden wir sogar das.
Und nun also nach über 20 Jahren ein weiteres Live-Album. „Glitter & Doom“ entstand auf der gleichnamigen Tour, die den kalifornischen Songwriter 2008 durch die USA und Europa führte. Die in zehn verschiedenen Städten aufgenommenen insgesamt 17 Songs sind eher solche der zweiten Reihe, die hier in oft völlig verändertem musikalischen Gewand erklingen. Die Live-Atmo kommt vortrefflich rüber. Bluesig und mitunter jazzig klingen die Arrangements. Auf einer zweiten CD befinden sich noch etliche Zwischenbemerkungen, Anekdoten und Bühnenansprachen des Meisters im Dialog mit seinem Publikum. Doch dies fließt nicht in die Bewertung ein, da der Rezensent das Gemurmel ganz überwiegend nicht verstehen kann.
Noch kurz zur Präsentationsweise: Tom Waits auf CD oder gar in digitaler Formatierung abzuspielen, muss man schlichtweg als Todsünde bezeichnen. Auf einem Uralt-Kassettenrekorder in Mono-Klangqualität im Studentenwohnheim – das geht gerade noch an. Ansonsten ist Vinyl hier Pflicht. Rechtfertigen lässt sich sein Genuss auf CD allenfalls damit, die eigenen guten alten Vinyl-Scheiben für den noch ausgesuchteren, noch lieberen künftigen Besuch schonen zu wollen. Wichtig ist ferner, die Whisky-Flasche stets in Reichweite stehen zu haben. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).

Tom Waits
Glitter and Doom (Doppel-CD)
Anti (Indigo) 2009
Ca. € 17,-
ASIN: B002SG7L9W