www.justament.de, 23.3.2009: Mensch bleiben!
Nietzsche ist ein verkannter Rechtsphilosoph, findet Jens Petersen
Thomas Claer
Wie der Leibhaftige persönlich muss uns guten, anständigen Juristen der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) vorkommen. Denn nahezu alles, was uns lieb und teuer ist, wozu man uns jahrelang – gleichsam mit Zuckerbrot und Peitsche – erzogen hat, wurde von diesem Denker aufs Entschiedenste abgelehnt: Nietzsche befürwortete ausdrücklich eine Rangordnung und Ungleichheit der Menschen vor dem Gesetz, der Staat war für ihn „das kälteste aller kalten Ungeheuer“ und eine „organisierte Unmoralität“, staatliches Strafen war in seinen Augen nichts Anderes als Rache und jede Strafzumessung willkürlich. Hinzu kommt seine Auffassung, dass „es kein Recht gibt, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung, Usurpation, Gewalttat ist“. Und schließlich beruhten alle Systeme, ob die seiner philosophischen Kollegen Kant und Hegel oder das der Rechtsdogmatik, auf einem „Mangel an Rechtschaffenheit“.
Es verwundert nicht, dass Rechtsgelehrte die längste Zeit einen großen Bogen um diesen Philosophen machten, zumal der sich aufgrund seiner unsystematischen und aphoristischen Darstellungsweise auch jeder geordneten Untersuchung zu entziehen schien. Doch spätestens seit den Wendejahren vor zwei Jahrzehnten gilt der einst von den Nazis instrumentalisierte Nietzsche als nicht mehr allzu sehr politisch anrüchig und wird inzwischen weltweit als der große Theoretiker und Prophet der Moderne („Gott ist tot!“) geschätzt und verehrt. So kam es, dass sich ihm eines Tages auch die Juristen nicht mehr länger verweigern konnten. Mit besonderer Gründlichkeit hat sich nun Jens Petersen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom, des Themas angenommen und aus Nietzsches umfangreichem Gesamtwerk so ziemlich alles zusammengetragen, was sich im juristischen Kontext verwerten lässt. Und siehe da: Die Gedanken des Systemverweigerers Nietzsche zu Recht und Gerechtigkeit erweisen sich als erstaunlich systematisch. Vor allem aber setzt der Verfasser viel daran, Nietzsche als Rechtsphilosophen zu etablieren, der bei aller ätzenden Kritik am Bestehenden durchaus eine konstruktive Vorstellung von Gerechtigkeit hatte. Die entscheidende Passage aus „Menschliches; Allzumenschliches“ lautet: „Es gibt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität: die der Gerechtigkeit … Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen allem aus dem Weg zu gehen, was das Urteil über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der Überzeugungen, denn sie will jedem, sei es ein Belebtes oder Totes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum.“ Das ist zwar, wie auch der Verfasser erkennt, „keine auf das Recht selbst bezogene inhaltliche Idee der Gerechtigkeit“, aber doch eine „Erscheinungsform juristischer Urteilskraft“. Letztere wiederum hält Nietzsche für ganz entscheidend, denn „die schrecklichsten Leiden sind gerade aus dem Gerechtigkeitstriebe ohne Urteilskraft über die Menschen gekommen“. Doch dürfe andererseits, so Nietzsche, der Gerechte kein „kalter Dämon der Erkenntnis“ sein, der eine „eisige Atmosphäre einer übermenschlich, schrecklichen Autorität“ ausbreite. Erst dadurch, dass er „ein Mensch ist, … stellt ihn dies alles in eine einsame Höhe hin, als das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch“. Ganz Ähnliches verlangte einst auch Adolf Tegtmeier (Jürgen von Manger) als Schwiegermuttermörder von seinem Richter: „Man muss doch irgendwie, äh, Mensch bleiben, näch?“
Jens Petersen
Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit
De Gruyter Recht, Berlin 2008
251 Seiten, EUR 48,00
ISBN 978-3-89949-473-0
Justament Dez. 2006: Nietzsche in Blond
Der Philosoph Peter Sloterdijk ortet das Ressentiment als Haupttriebkraft der Geschichte
Thomas Claer
Das Zeitalter der umfassenden Welterklärungen durch philosophische Systeme ist bekanntlich seit geraumer Zeit vorüber. Allenfalls mit ironischer Distanz greift die zeitgenössische Philosophie die ehrwürdigen Lehrsätze vergangener Epochen noch auf – in der Überzeugung, dass ganzheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit in einer atomisierten Welt nicht mehr zu haben sind. Und doch arbeitet einer mit beharrlichem Fleiß an einem groß angelegten Welterklärungs-System, das gleichwohl gänzlich metaphysikfrei daherkommt und durch assoziative thematische Offenheit ebenso wie durch eine überaus luzide Sprache besticht. Drohte Peter Sloterdijks Sphären-Trilogie, deren dritter Band an dieser Stelle besprochen wurde (justament 4/2004), noch an ihrer Überfülle zu ersticken, nimmt sich die hier anzuzeigende essayistisch gehaltene Zugabe als ein Geniestreich ersten Ranges aus. Der Verfasser legt mit einem beherzten Brückenschlag zwischen psychologischer Anthropologie auf der einen sowie Politik und (vor allem jüngerer) Geschichte auf der anderen Seite nicht weniger vor als eine globale Deutung der Menschheitshistorie – und zwar – “zwei berühmte Kollegen aus dem Jahr 1848” lassen grüßen – als “eine Geschichte der Zornverwertungen”. Das griechische Kennwort für das “Organ” in der Brust von Helden und Menschen, von dem die großen Aufwallungen ausgehen, lautet thymos – es bezeichnet den Regungsherd des stolzen Selbst. Die Psychoanalyse hingegen, die seit dem 20. Jahrhundert als psychologisches Leitwissen dient, habe, so Sloterdijk, die Natur ihres Gegenstands in wesentlicher Hinsicht verkannt, indem sie die conditio humana insgesamt von der Erotik zu erklären versuche. Sie bringe dasn Wort Stolz nur mit Neurosen in Verbindung und habe keine zureichende Erklärung für menschliche Dispositionen wie Mut, Beherztheit, Geltungsdrang, Verlangen nach Gerechtigkeit, Gefühl für Würde und Ehre sowie kämpferisch-rächerische Energien, welche Sloterdijk der “Thymotik des Menschen” zurechnet. Aus dem angestauten und gleichsam verfestigten Zorn entstehe dann das Ressentiment, das Friedrich Nietzsche (1844-1900) als “Basiseffekt des metaphysischen Zeitalters und seiner modernen Nachspiele” (Sloterdijk) entlarvte, also der Epoche monotheistischen Religionen und der modernen Emanzipationsbewegungen bis hin zu den Großtotalitarismen des vergangenen Jahrhunderts. Anknüpfend an Nietzsche beschreibt der Autor zunächst die “Thymotik” im allgemeinen, dann in längeren Kapiteln ausführlich die thymotischen Wurzeln des katholizismus und Kommunismus und schließlich die aktuelle “Zornzerstreuung in der Ära der Mitte”. Dabei zeigt er sich nicht zuletzt dadurch auf der Höhe der Zeit, dass er siene Befunde in eine metaphorische Sprache der Ökonomie übersetzt: Von Zorngeschäften ist die Rede, Weltbankemn des Zorns sieht der Verfasser am Werk. Am Ende spricht er dem politischen Islam aufgrund dessen Mangels an politisch-kultureller Substanz mit Nachdruck die Fähigkeit ab, als Erbe des Kommunismus eine “Weltbank der Dissidenz” zu errichten.
Sloterdijks Darstellung ist geistreich, originell, mit einem Wort brillant. Doch ist sie dadurch auch alles andere als politisch korrekt. Auf Ablehnung vielerorts wird etwa seine Interpretation des Kommunismus als primärer und dem NS kausal vorhergehender Linksfaschismus stoßen. Jedoch ist Sloterdijk, soviel ist sicher, anders als weiland Ernst Nolte national-apologetischer Motive gänzlich unverdächtig. Das “vertikale Denken”, so bekannte er einst, erfolge eben nicht in rechts-Links-Schemata.
Peter Sloterdijk
Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch
Suhrkamp Verlag Frankfurt 2006
356 S., 22,80 €
ISBN 3-518418-40-8