justament.de, 11.9.2023: Die blaue Reise
Scheiben Spezial: Vor 25 Jahren erschien „Shrink“ von The Notwist
Thomas Claer
Es beginnt mit rhythmisch klappernden Geräuschen wie auf einer Zugfahrt, aber gleichzeitig frickelt es auch schon ein wenig im Hintergrund. Dazu ein monoton surrender synthetischer Klang und dabei schleift, kratzt und scheuert es unentwegt. Nach einigen Sekunden dann setzen wiederholte Schläge auf irgendwelche Rohre ein, und noch etwas später mischen sich dezente Gitarrenklänge dazu. Irgendetwas blubbert unterschwellig. Erst nach mehr als zwei Minuten tritt unvermittelt der leise, immer etwas klagende Gesang von Markus Acher hinzu – und der Zuhörer ist angekommen im Kosmos des blauen Albums der bayrischen Band The Notwist mit dem rätselhaften Titel „Shrink“, was soviel wie „Schrumpfen“ bedeutet. Es ist so überaus raffiniert und fein arrangiert, was die Weilheimer Indie-Kapelle auf ihrem vierten Album alles entworfen hat, dass man auch heute noch, 25 Jahre später, aus dem Staunen nicht herauskommt. Im weiteren Verlauf, so ab dem dritten der zehn Stücke, bekommt die Platte dann auch noch eine sehr jazzige, mitunter sogar freejazzige und bläserlastige Note. Keineswegs ratsam wäre es, sich die Tracks einzeln anzuhören. Nein, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sie bilden gemeinsam ein künstlerisches Gesamtwerk, wozu auch unbedingt das tiefblaue Album-Cover gehört, das gleichsam die melancholische Grundstimmung vorgibt, von der sich allein der beschwingte zweite Track „Chemicals“ ein wenig abhebt.
Man kann „Shrink“, das einer von vielen Wendepunkten im Schaffen dieser enorm einflussreichen Band gewesen ist, als einen Trip, als eine Art Reise begreifen – durch die (damals) neuen und revolutionären Landschaften multipler technischer Klang- und Geräuscherzeugung einerseits und durch die gedämpften inneren Erregungszustände frustrierter zeitgenössischer Individuen andererseits. Die sich in dieser Musik ausdrückende Haltung könnte in etwa dem alten Tocotronic-Motto: „Ich bin alleine, und ich weiß es, und ich find es sogar cool“ entsprechen. Nur dass es bei The Notwist natürlich unendlich viel subtiler anklingt… Für mich war „Shrink“, das legendäre blaue Album, so etwas wie mein Soundtrack durchs Erste Juristischen Staatsexamen und die bedrückende Zeit danach, wobei sich bald darauf auch noch das nachfolgende, ebenfalls ausgezeichnete, rote Album „Neon Golden (2002) hinzugesellen sollte – um von der Entdeckung des phänomenalen Vorgängers, des bunten Albums „12“ (1995), gar nicht zu reden… Das Urteil für „Shrink“ lautet „sehr gut“ (16 Punkte).
The Notwist
Shrink
Big Store / Cargo 1998
ASIN: B018N37V3Y
www.justament.de, 24.3.2014: Soundtrack eines Lebensgefühls
Das siebte Notwist-Album „Close to he Glass“
Thomas Claer
Welch ein Glück, die begnadeten Soundtüftler aus Oberbayern sind wieder da – mit einem Album, das durchaus mehr zu bieten hat als bloße Ruhmesverwaltung. Viel muss man heute wohl nicht mehr sagen zum traurig-schönen Notwist-Sound, zum universellen Soundtrack eines verloren-urbanen Lebensgefühls. Kaum zu glauben, dass die Brüder Markus und Micha Acher in den frühen Neunzigern mit zwei Heavy-Rock-Platten angefangen haben. Davon war später aber nicht mehr viel zu hören. Zwischen 1995 und 2002 erschienen dann ihre großen Pop-Meisterwerke, an denen man sich nicht satthören konnte: das bunte Album „12“, das blaue Album „Shrink“ und das rote Album „Neon Golden“. Teil der Kernbesetzung neben den Acher-Brüdern ist seit 1997 auch Martin „Konsole“ Gretschmann, der für die elektronische Komponente sorgt. Und ganz nebenbei begründeten die Musiker durch zahlreiche verwandte Nebenprojekte wie Lali Puna und Ms. John Soda mit der „Weilheimer Schule“ der notwistesken Pop-Musik eine Art südliches Pendant zur „Hamburger Schule“ des nördlicheren Indie-Pop.
Das letzte Jahrzehnt ließen The Notwist allerdings etwas geruhsamer angehen. Ihre vorige Platte „The Devil You + Me“ von 2008 war eher zwiespältig: Genau fünf exzellente Songs standen sechs reichlich misslungenen gegenüber, auf denen sie sich, man muss es so hart sagen, ein wenig im Bombast verirrt hatten. Jetzt sind sie aber glücklicherweise wieder voll und ganz bei sich angekommen. Der Einstieg in „Close tot he Glas“ ist betont elektronisch. Es frickelt, knarzt und loopt nicht mehr nur wie bisher, nein, neuerdings piept und tutet es sogar bei ihnen. Doch das gibt sich dann im weiteren Verlauf der Platte. Der große Kracher ist natürlich die Single „Kong“. Beim anfänglichen Hören klingt Markus Achers hohe Stimme zu Beginn zwar noch etwas befremdlich, doch dann hat man flugs diesen Ohrwurm in sich und wird ihn nicht mehr los. In der Mitte des Albums folgen ein paar sehr schöne und sehr reduzierte Gitarren-Songs. Und am Ende gibt es plötzlich noch ein paar regelrechte Ambient-Tracks, die an die frühen Pink Floyd und die Anfänge von YELLO erinnern. Mit etwas Gewöhnung lässt sich auch denen etwas abgewinnen. So ließe sich allenfalls einwenden, dass es auf dieser Platte hin und wieder eine Spur zu poppig zugeht. Aber na wenn schon… Alles in allem also wieder eine rundum erfreuliche und dabei überraschend vielfältige Scheibe der Weilheimer. Nicht umsonst haben sie jahrelang dran gefeilt. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).
The Notwist
Close to the Glass
City Slang (Universal) 2014
Ca. € 16,-
ASIN: B00GRHBEAA
