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justament.de, 19.8.2024: Zwei Lehrerinnen, Teil 2

Recht historisch: So war Schule in der DDR

Thomas Claer

Unsere neue Klassenlehrerin ab der 5. Klasse, Frau D., begegnete uns von Anfang an mit großer Freundlichkeit. Dabei schloss sie, soweit ich mich erinnere, auch ausnahmslos alle gleichermaßen in ihre Zuwendung ein. Obwohl sie ebenso wie ihre Vorgängerin Frau K. Parteimitglied war, interpretierte sie ihre Rolle doch grundlegend anders. Kaum jemals führte sie mit uns politische Diskussionen, wobei sich das in den von ihr bei uns unterrichteten Fächern, Russisch und Musik, wohl auch weniger aufdrängte als zuvor in Deutsch bei Frau K. Schon ganz am Anfang verkündete Frau D. uns ihr Motto, das sie aus einer russischen Fabel entlehnt hatte: “Wie man in den Wald hineinruft, so kommt es auch wieder heraus.” So ähnlich habe ich es viele Jahre später auch immer meinen Studenten gesagt, und so halten es wohl auch noch heute viele Lehrer und Dozenten mit ihren Schülern und Studenten: “Wenn ihr mir keinen Ärger macht, dann mache ich euch auch keinen.” Mir imponierte dieser Pragmatismus von Frau D. schon damals sehr. Sie drohte uns auch nicht, setzte uns nicht ständig unter Druck und machte sogar noch einen ziemlich interessanten und lebendigen Unterricht. Mit Frau D. als Klassenlehrerin ging daher ein kollektives Aufatmen durch unsere Klasse.

Natürlich fragte auch Frau D. mich irgendwann in der 5. Klasse, ob ich nicht im Thälmann-Pionierrat mitarbeiten wolle. (Seit der vierten Klasse trugen wir ja schon die roten Halstücher der Thälmann-Pioniere und nicht mehr die blauen der Jungpioniere.) Und ich sagte dann das, was ich immer sagte, wenn ich danach gefragt wurde, so etwas wie “Och, nee.” Aber Frau D. blieb hartnäckig: “Warum eigentlich nicht?” Und ich begann dann zu lavieren: “Ach naja, ich weiß nicht. Ich möchte nicht so gerne…” Und nun kam Frau D., die genau wusste, wie sehr ich mich für Fußball interessierte, mit einem für mich völlig überraschenden Vorschlag. “Du könntest doch die Sportberichterstattung im Pionierrat übernehmen! Da sollte auch jemand alle anderen über sportliche Ereignisse informieren.” Auf diese Weise wollte sie mich also locken, und tatsächlich kriegte sie mich damit. Als ich dann schließlich im Thälmann-Pionierrat saß, merkte ich allerdings bald, dass mich dort niemand nach sportlichen Ereignissen fragte. Aber jetzt saß ich nun einmal da drin, und blieb es auch auf Dauer.

Später, ab der 8. Klasse, als ich nach unserem Umzug längst eine andere Schule besuchte, sollte ich sogar Verantwortlicher für die Gestaltung der Wandzeitung in der FDJ-Leitung werden. Und da begann ich dann, eine von mir erdachte Strategie anzuwenden, die man Subversion durch groteske Übererfüllung der Vorgaben nennen könnte. Ich schrieb politische Artikel für die Wandzeitung, die aus einer Aneinanderreihung ideologischer Floskeln in vollkommen übertriebener Form bestanden. Vor beinahe jedes Substantiv platzierte ich Adjektive wie “ruhmreich”, “glorreich” oder “heldenhaft”, auch wenn sie dort eigentlich überhaupt nicht hinpassten. Doch niemand, wirklich niemand nahm Notiz von meinen Verballhornungen. Die Lehrer fanden, was ich da geschrieben hatte, “sehr schön”. Und ansonsten hat es vermutlich nie jemand gelesen.

Aber zurück in die 5. Klasse und zu Frau D. Eine große Überraschung war es für mich, als mein Vater mir nach dem ersten Elternabend mit Frau D. erklärte, von nun an im Elternaktiv der Klasse mitzuarbeiten. Mein Vater im Elternaktiv?! Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte doch bis dahin immer großen Wert darauf gelegt, sich aus solchen Dingen komplett herauszuhalten. Doch nun hatte ihn offensichtlich Frau D. irgendwie dazu überredet. Keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte, aber sie hatte ja auch eine durchaus charmante Art… Sie war wohl einige Jahre jünger als Frau K., wenn auch nicht viel jünger. Ich vermute, dass Frau K. damals so um die 50 gewesen sein muss und Frau D. vielleicht Anfang 40…

Doch die vielen Freiheiten, die Frau D. uns ließ, stiegen uns dann irgendwann zu Kopfe. So oft hatte sie uns gesagt, dass sie immer ein offenes Ohr für unsere Sorgen und Probleme hätte und dass wir ihr auch ruhig ehrlich unsere Meinung sagen könnten. Und dann – es könnte in der 6. Klasse gewesen sein – taten es einige wirklich. “Wozu wählen wir denn den Thälmann-Pionierrat eigentlich in einer extra dazu einberufenen Versammlung, wenn das Ergebnis doch immer schon vorher feststeht und nie anders als einstimmig zustande kommt?”, wurde Frau D. gefragt. Und außerdem seien doch gar nicht die beliebtesten Schüler der Klasse im Pionierrat, sondern nur die mit den besten Noten. Manche davon, besonders unsere notorischen Klassenstreberinnen, seien aber doch eigentlich eher unbeliebt. Die würden bestimmt nicht in den Pionierrat gewählt werden, wenn wir frei darüber abstimmen könnten. Naja, sagte da Frau D. zu uns, das mache man nun einmal so bei uns. “Aber wenn ihr wollt, dann schreibt doch mal jeder fünf Namen auf einen Zettel, wen ihr am liebsten im Pionierrat haben wollt.” Das taten wir dann, und heraus kam, dass die Vorsitzende unseres Pionierrates und ihre Stellvertreterin weit abgeschlagen am Ende landeten. Das schien auch Frau D. zu überraschen. Sollten also die betreffenden beiden Musterschülerinnen wirklich bei der nächsten Wahlversammlung aus dem Pionierrat geworfen werden? Was hätten dann wohl deren Eltern dazu gesagt? Wie sollte Frau D. aus dieser Nummer wieder rauskommen?!

Doch da musste Frau D. gar nicht lange überlegen. Sie legte einfach fest, dass der Pionierrat mit der nächsten Wahlversammlung von 5 auf 7 Schüler aufgestockt wurde, und so konnten die bisher noch nicht darin vertretenen Beliebtheitsköniginnen ebenso dort mitmachen wie unsere beiden weniger populären Musterschülerinnen. Eine wirklich großartige, ja salomonische Entscheidung! Politisch gesehen waren das damals, wohl ca. Ende 1984, wohl schon die ersten Vorboten von Gorbatschow, Glasnost und Perestroika… Bald darauf habe ich nach dem besagten Umzug meiner Familie diese Schule verlassen und dann nicht mehr viel von Frau D. gehört, geschweige denn von Frau K. Was ich aber aus diesen kindlichen Erfahrungen mit meinen beiden so unterschiedlichen Klassenlehrerinnen dauerhaft mitgenommen habe, ist die Erkenntnis, dass es zumeist und fast überall mehr auf die einzelnen handelnden Person ankommt als auf die jeweils bestehenden Strukturen. Wie mein späterer Deutschlehrer in Bremen immer gesagt hat: “Es gibt immer so’ne und so’ne.” Und auch in den schlimmsten Systemen und Parteien gibt es mutmaßlich immer irgendwo anständige Menschen. Zumindest das kann einem doch etwas Hoffnung machen in den aktuell so schwierigen Zeiten.

justament.de, 12.8.2024: Zwei Lehrerinnen, Teil 1

Zwei Lehrerinnen, Teil 1

Recht historisch: So war Schule in der DDR

Thomas Claer

Wenn ich auf meine Schulzeit in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren in der DDR zurückblicke, dann denke ich oft an meine beiden Klassenlehrerinnen in Wismar, die mein kindliches Ich beide tief beeindruckt haben – wenn auch auf jeweils unterschiedliche, ja sogar ziemlich entgegengesetzte Weise.

Die erste Klassenlehrerin, Frau K., war vier Jahre lang, von der ersten bis zur vierten Klasse, also von Herbst 1978 bis Sommer 1982, für uns verantwortlich, was natürlich im Leben von so jungen Menschen, wie wir es damals waren, eine beinahe endlos lange Zeit gewesen ist. Frau K. war überaus streng in jeder Hinsicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem so strengen und autoritären Menschen begegnet zu sein. Selbst meine Mutter, die auch überall als Respektsperson galt, war nicht annähernd so streng wie sie. Frau K. stand aber auch voll und ganz (im Gegensatz zu meinen Eltern) für politische Linientreue. Dabei lag ihr, anders als manchen ihrer Kolleginnen und Kollegen, deutlich weniger die jubelnde Begeisterung über die angeblich großen Errungenschaften des Sozialismus als vielmehr die unbedingte Wachsamkeit gegenüber dem imaginierten Klassenfeind. Mit welchem Abscheu sie die Worte USA und BRD oder gar NATO aussprach, wenn sie im Deutschunterricht die aktuellen politischen Ereignisse mit uns diskutierte! Stets forderte sie uns auf, Stellung zu beziehen zu irgendwelchen Begebenheiten. Wenn unsere Klassenstreberinnen ihr dann in ihrem Hass auf die “Lügen des Imperialismus” beipflichteten, zeigte sie deutlich ihre Genugtuung. Wenn aber, was häufiger vorkam, sich niemand meldete, weil wir kleinen Knirpse und Knirpsinnen oft auch einfach nicht wussten, was wir sagen sollten, sah sie uns finster und durchdringend an und sagte dann halblaut, wobei sie ein Auge halb zukniff: “Keine Meinung ist auch eine Meinung.” Bei Frau K. musste man immer ein schlechtes Gewissen haben. Oft dachte ich mir irritiert: “Bin ich jetzt ein Klassenfeind? Ein Gegner des Sozialismus? Nur weil ich nichts gesagt habe?”

Man muss Frau K. zugute halten, dass sie ganz offensichtlich felsenfest an all das glaubte, was sie uns erzählte. Die leicht augenzwinkernde Dienst-nach-Vorschrift-Haltung manch anderer Lehrer, bei denen man sich nie so ganz sicher war, was sie wirklich dachten, ging ihr vollkommen ab. Sie war das, was man damals eine “Überzeugte”, eine “Hundertprozentige” nannte. Die gab es zwar, aber es war eine überschaubare Minderheit. Die Mehrzahl auch und gerade unter den Parteigenossen war eher pragmatisch eingestellt. Später als Jugendlicher, als ich mit wachsendem politischen Bewusstsein immer genauer hinzuhören begann, wer wann und wo was sagte, bemerkte ich, dass die DDR-kritischsten Äußerungen sogar oftmals von Parteimitgliedern kamen, allerdings nur im privaten Umfeld.

Unvergesslich ist mir geblieben, wie einer meiner Mitschüler offenbar denunziert worden war, weil er gesagt haben sollte, unsere Horterzieherin, Frau R., sei ja wohl “ein Albtraum”. Unsere Klassenlehrerin Frau K. fragte in der Deutschstunde unvermittelt, ob jemand von uns wisse, was ein Albtraum sei. Als sich niemand meldete, nahm sie den Denunzierten aufs Korn, trat dicht an ihn heran, nannte ihn beim Namen und forderte ihn auf zu erklären, was ein Albtraum sei. Als er vorgab, es nicht zu wissen, erklärte Frau K. der Klasse, dass ein Albtraum “etwas ganz Schlimmes” sei. Und noch schlimmer sei es, einen Menschen als Albtraum zu bezeichnen, was aber, ha!, unser Mitschüler getan habe – und das auch noch in Bezug auf unsere Horterzieherin. Wie wir anderen das denn finden würden?! Sofort gingen die Finger hoch: “Frau R. ist immer lieb und nett zu uns” (was nun wirklich nicht stimmte, denn sie war mit Grund äußerst unbeliebt), und niemand dürfe sie deshalb so bezeichnen. Das reichte Frau K. aber noch nicht. Sie wollte immer noch mehr Verurteilungen unseres Mitschülers von uns hören. Ein Schlauberger äußerte sich daraufhin gewitzt und diplomatisch: “Angenommen, nur mal angenommen, dass Frau R. wirklich ein Albtraum wäre, so dürfte man das doch nicht sagen, denn das sei unverschämt.” Ich sagte nichts dazu, wie eigentlich fast immer in solchen Situationen, obwohl ich sonst durchaus gesprächig gewesen bin. Und am Ende kam dann wieder von Frau K. ihr drohendes “Keine Meinung ist auch eine Meinung.”

Mich hatte sie sowieso immer auf dem Kieker. Dass ich als recht guter Schüler mich hartnäckig weigerte, in den Gruppenrat und später Jungpionierrat einzutreten, musste ihr natürlich sehr verdächtig vorkommen. Womöglich war ich ja vom Elternhaus irgendwie staatsfeindlich beeinflusst. Das war aber gar nicht der Fall, denn dazu waren meine Eltern viel zu vorsichtig. Ich hatte nur einfach keine Lust dazu, weil mir das ganze politische Zeug irgendwie sehr unsympathisch war. Und immerhin drängten mich meine Eltern auch nicht, in den Jungpionierrat zu gehen, was ich ihnen aus heutiger Sicht hoch anrechne. Denn damals hatten sie bestimmt noch keine Ausreisepläne in den Westen. Und wer in diesem Staat Karriere machen wollte, der tat gut daran, von klein auf, solche Ämter zu bekleiden. Aber ich wollte einfach nicht. Da musste dann später schon eine andere Lehrerin kommen mit gänzlich anderen Methoden…

(Wird fortgesetzt.)