justament.de, 15.9.2025: Die Argumente der “Putin-Versteher”
Anmerkungen zur Debatte über den Ukraine-Krieg
Thomas Claer
Es ist immer gut, sich selbst und die eigenen Ansichten kritisch zu hinterfragen, sich auf Gegenargumente zu den eigenen einzulassen, sie zu prüfen und es auch grundsätzlich für möglich zu halten, dass der Andere Recht haben könnte. Denn schließlich gehört es ja zu den großen Vorzügen einer pluralistischen Gesellschaft, dass man über beinahe alles unterschiedlicher Meinung sein darf, ohne befürchten zu müssen, dass man dann auf rätselhafte Weise spontan aus dem Fenster stürzt oder plötzlich, wenn auch nicht ganz unerwartet, von tödlichen Magenkrämpfen heimgesucht wird. Oder dass man auch nur wegen unpatriotischer Umtriebe seinen Job verliert.
Aber haben diejenigen, die sich hierzulande seit mehr als drei Jahren vehement für einen Friedensschluss in der Ukraine durch mehr Dialog mit Russland einsetzen, die das Bestehen einer Mitschuld der westlichen Länder am Kriegsausbruch wegen der fortgesetzten NATO-Osterweiterung behaupten und nun eine Ausweitung des Krieges auf das übrigen Europa verhindern wollen, die Trump zumindest in der Ukraine-Frage für einen guten US-Präsidenten und die Kiewer Maidan-Proteste 2013/14 für vom Westen beeinflusst halten, wirklich gute Argumente?
Zieht man die wichtigsten Aussagen der aktuellen Streitschrift “Krieg oder Frieden? Deutschland vor der Entscheidung” von Klaus von Dohnanyi und Erich Vad, die man beide als intellektuelle Speerspitze des “Putin-Verstehertums” bezeichnen könnte, heran (siehe nebenstehende Rezension von Matthias Wiemers), dann muss man sogleich zugeben: Sie haben einen Punkt. Vielleicht haben sie sogar mehrere.
Ja, man sollte, wenn man kriegerische Auseinandersetzungen beenden will, immer versuchen, mit der anderen Seite im Gespräch zu bleiben. Natürlich ist es auch immer hilfreich, sich in den Gegner hineinzuversetzen und die Beweggründe für sein Handeln nachzuvollziehen. Und tatsächlich hat es in der internationalen Politik wohl schon immer so etwas wie Einflusssphären von Großmächten gegeben, die man tunlichst respektieren sollte. Aber dass eine auf solche Prämissen gestützte Herangehensweise aktuell – nach allem, was bereits versucht worden ist – ein Ende der Kämpfe im Ukraine-Krieg bewirken könnte, das erscheint dann leider doch fernab der realen Gegebenheiten.
Als direkter Realitätstest für die Thesen der “Putinversteher” hat sich insbesondere das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten vor vier Wochen in Alaska erwiesen, bei dem sich vor allem eines gezeigt hat: Putin hat nicht das geringste Interesse an einem Friedensschluss, außer man schenkt ihm noch mehr Land dazu, das er noch gar nicht erobert hat, lässt seine Armee hinter den großen ukrainischen Verteidigungswall im Donbas vorrücken (von wo aus sie dann eine erstklassige Ausgangsposition für künftige weitere Eroberungen hätte) und verzichtet dazu auf Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch die Stationierung internationaler Truppen (und auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine natürlich sowieso). Das wäre im Ergebnis so, als würde die Ukraine sogleich kapitulieren und zu einem Vasallenstaat Russlands werden. Die russische Armee kommt derzeit an der Front zwar nur sehr langsam und mit immensen Verlusten, aber dafür kontunuierlich voran. Also macht Putin weiter, denn seine Waffenproduktion läuft dauerhaft auf Hochtouren, und auf die Opferzahlen unter seinen Soldaten braucht er keine Rücksicht zu nehmen, denn sollten ihm irgendwann die Soldaten aus den ländlichen russischen Regionen ausgehen, dann holt er sich halt noch mehr neue aus Nordkorea.
Trump hat hingegen, was ihn in den besagten Kreisen auch hier populär macht, ein großes Interesse an einem Friedensschluss in der Ukraine. Allerdings vor allem deshalb, weil er erstens gerne den Friedensnobelpreis verliehen haben möchte und zweitens mit Russland wirtschaftlich wieder ins Geschäft kommen will. Letzteres wäre zwar auch im Sinne Russlands, ist aber für Putin längst nicht so wichtig wie seine Eroberungen. Das Schicksal der Ukraine dagegen ist Trump anscheinend herzlich egal. Er versucht nur bei dieser Gelegenheit, noch erpresserische Rohstoffdeals mit dem geschundenen Land für die USA herauszuschlagen. An der Verhängung verschärfter US-Sanktionen gegen Russland, die Trump vor kurzem Putin noch angedroht hatte (sogar unter Setzung eines Ultimatums, das Putin ungerührt verstreichen ließ), hat er nun offenbar das Interesse verloren.
Unter dem Strich steht der vom internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecher Putin, der bis dahin seit Kriegsausbruch von allen westlichen Politikern nur als Paria behandelt worden war, nach seinem Treffen mit Trump nun wieder glänzend rehabilitiert da, obwohl er dafür keinerlei Gegenleistung erbringen musste. Und schlimmer noch: Der angebliche “große Dealmaker” hat offenbar einen so schwachen Eindruck auf Putin gemacht, dass dieser sich seitdem sogar traut, die Ukraine noch stärker als jemals zuvor zu bombardieren, und neuerdings sogar Drohnen in größerer Zahl auf ein NATO-Land abfeuert. Offensichtlich versucht Russland damit auszutesten, inwieweit die USA überhaupt noch zu ihren Bündnisverpflichtungen in der NATO stehen.
Insofern kann man es eigentlich schon als Erfolg werten, dass der Worst Case, eine Übereinkunft zwischen Trump und Putin über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg, also eine Art Münchener Abkommen 2.0, durch die intensiven Bemühungen (und Schmeicheleien) der Europäer fürs Erste noch einmal abgewendet werden konnte. Denn würde Putin, wenn man ihm das gibt, was er haben möchte, wirklich aufhören, wie es seine hiesigen Deuter annehmen? Seine kürzlich getätigte Aussage “Wo immer der Fuß eines russischen Soldaten steht, das gehört uns”, lässt eher nicht darauf schließen. Auch die jüngst im russischen Staatsfernsehen im Hintergrund einer Besprechung von Offizieren gezeigte Landkarte, auf der Gebiete bis weit über die Stadt Odessa hinaus bis zur moldawischen Grenze als Teile Russlands eingefärbt waren, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei. Es sei ferner daran erinnert, dass Putin in seinem “Ultimatum” an die westlichern Länder im Herbst 2021 den Rückzug der NATO aus ganz Osteuropa einschließlich Polens gefordert hatte. (Und Klaus von Dohnanyi erklärte dazu ca. im Frühjahr 2022 in einer Talkshow, die westlichen Länder hätten darüber mit Putin verhandeln sollen, um so die bevorstehende russische Vollinvasion in der Ukraine vielleicht noch verhindern zu können.)
Putins historische Bezugspunkte neben Zar Peter dem Großen und Zarin Katharina der Großen, die im 17. und 18. Jahrhundert umfangreiche Territorien für Russland erobert haben, hat er übrigens mal (im Februar 2024) in einem Interview mit dem Fox-News-Moderator Tucker Carlson verraten. Da meinte er, dass die Schuld am Ausbruch des 2. Weltkriegs eigentlich Polen trage, denn das Land hätte ja auf die ihm 1939 von Hitler und Stalin gestellten Forderungen eingehen und so den Krieg vermeiden können. So wie 2022 die Ukraine und Europa. Empfiehlt sich ein solcher Akteur wirklich für aussichtsreiche Friedensverhandlungen?
Aber ist Putin, wie seine Versteher und Deuter meinen, denn nicht eigentlich im Recht, wenn er auf der Respektierung der russischen Einflussspäre besteht? Haben nicht letztlich die westlichen Länder selbst Russlands Einmarsch in die Ukraine provoziert, indem die NATO sich in den Jahrzehnten zuvor immer weiter nach Osten ausgedehnt und schließlich sogar die Ukraine ihren Nato-Beitritt als Staatsziel in ihre Verfassung geschrieben hat? Wenn in Mexiko, so das Beispiel von Dohnanyi und Vad, eine neue Regierung an die Macht käme, die gerne Mitglied der Eurasischen Union Putins werden und russische Militärstützpunkte und Raketenstellungen am Rio Grande errichten möchte, würden dann die USA nicht ihrerseits in Mexiko einmarschieren?
Der Unterschied ist zunächst einmal, dass ein solches Szenario in Mexiko mutmaßlich niemals eintreten würde, weil erstens die Eurasische Union (wie auch das Militärbündnis OVKS) – anders als EU und NATO im Falle Osteuropas und der Ukraine – sich in keinerlei geographischer Nähe zu Mittelamerika befinden; sich in Mexiko zweitens niemand – anders als in Osteuropa und in der Ukraine in Bezug auf Russland – vor territorialen Ansprüchen, geschweige denn Angriffen der USA fürchtet (zumindest bisher noch nicht, müsste man im Hinblick auf den jetzigen US-Präsidenten vielleicht hinzufügen), vor denen die Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis Schutz versprechen würde; und drittens Eurasische Union oder OVKS auch nicht als seit 76 jahren erprobtes reines Verteidigungsbündnis wie die NATO bekannt sind, die abgesehen vom völlig anders gelagerten Einsatz im Kosovo-Krieg 1999 noch niemals einen Angriffskrieg auf ein anderes Land und dies schon gar nicht zur Durchsetzung territorialer Ansprüche unternommen hat, sondern im Gegenteil genau dazu dient, andere von solchen Schritten abschrecken.
Noch dazu haben die westlichen Länder, als sich die Länder Osteuropas aus freien Stücken für eine NATO-Mitgliedschaft entschieden haben, Russland damit keineswegs überfahren, sondern in ständigem Dialog mit Russland umfangreiche Bemühungen unternommen, den russischen Bedenken Rechnung zu tragen, weshalb ja auch der von der Ukraine gewünschte NATO-Beitritt (nicht zuletzt auf Drängen Deutschlands) auf unbestimmte Zeit zurückgestellt wurde. Es war Russland, das schon 2014 in der Ukraine mit der gewaltsamen Verschiebung von Grenzen in Europa begonnen hat. Und es waren mit Frankreich und Deutschland zwei westliche Länder, die sich selbst dann noch weiter um einen Ausgleich mit Russland bemüht haben (vgl. Minsker Abkommen).
Hinzu kommt noch, dass die eigentliche (und tatsächlich einzige) Bedrohung Russlands – oder vielmehr die des Russischen Regimes – durch westliche Länder im westlichen Lebensstil liegt, der durch individuelle Freiheiten, wirtschaftliche Prosperität und kollektiven Wohlstand gekennzeichnet ist (insbesondere im Vergleich zu den Zuständen in Russland) und – so die große Befürchtung im Kreml – von Menschen auch in Russland als erstrebenswert angesehen werden könnte, vor allem wenn er sich im Nachbarland ausbreiten würde. Die weltweite mediale Vernetzung war bereits zur Zeit der Kiewer Maidan-Proteste (2013/14) so fortgeschritten, dass eine gezielte Beeinflussung der Menschen in der Ukraine pro Westorientierung durch westliche Geheimdienste mit Sicherheit überflüssig gewesen wäre und wohl vermutlich auch eher eine propagandistische Erfindung des Kreml sein dürfte. So wie bekanntlich die Produktion von lügnerischer Propaganda und Desinformation in staatlichem Auftrag – nach innen wie nach außen gerichtet – in Russland mittlerweile ein Niveau erreicht hat, dass man hier schon beinahe vom drittwichtigsten Wirtschaftszweig des Landes sprechen kann (nach dem Rohstoffsektor und der Waffenproduktion).
Was folgt nun aus all dem? Der erfolgversprechendste Weg, den Ukraine-Krieg zu beenden und dessen Ausweitung auf das übrige Europa zu verhindern, dürfte es wohl sein, die Ukraine in einem solchen Maße hochzurüsten, dass Russland gegen sie militärisch nicht mehr weiter vorankommt. Erst dann wird Putin zu einem Waffenstillstand bereit sein, weil es erst dann für ihn keinen Sinn mehr hat, noch weiter seine Ressourcen zu verpulvern. Ob Europa es aus eigener Kraft und ohne die Hilfe der USA schaffen kann, wird sich zeigen. Solange es geschlossen und einig agiert, kann es dem Aggressor weiter die Stirn bieten. Und genau das liegt auch im deutschen nationalen Interesse. Wer in Erwägung zieht, die Ukraine stattdessen ihrem Schicksal zu überlassen, möge auch bedenken, welche neuen Flüchtlingsströme in die Europäische Union dies zur Folge hätte. Wie es früher immer hieß: Was gut ist für Europa, ist auch gut für Deutschland.
P.S.: Nachdem ich diesen Text verfasst habe, kommt die Meldung, dass Donald Trump nun doch härtere Sanktionen gegen Russland verhängen würde, aber nur unter der Bedingung, dass sich ausnahmslos alle NATO-Länder – also z.B. auch die Türkei – dazu bereit erklären, kein russisches Öl mehr zu kaufen und hohe Strafzölle auf Importe aus China zu erheben. Man darf skeptisch sein, ob das jemals gelingen wird… Weiterhin erklärte Trump u.a. noch, dass dieser “todliche, aber lächerliche Krieg” ja schließlich “Bidens und Selenskyis Krieg” sei, so wie er auch früher schon geäußert hatte, die Ukraine hätte diesen Krieg nie beginnen dürfen. Man fragt sich, ob er als nächstes sagen wird, der 2. Weltkrieg sei ja Churchills und Roosevelts Krieg gewesen und Polen hätte ihn nie beginnen dürfen. In Trumps Welt der “alternativen Fakten” ist alles möglich.
justament.de, 19.5.2025: “Wir leben längst im Krieg”
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkriegsendes, Teil 2
Man sprach ja zu DDR-Zeiten vom “Tal der Ahnungslosen”. Das waren die Regionen in der DDR ohne Westfernseh-Empfang, also vor allem die Gebiete in Vorpommern und östlich von Dresden. Wirkt das “Tal der Ahnungslosen” vielleicht heute noch nach? Haben nicht diese Gegenden tendenziell einen besonders hohen AfD-Anteil bei Wahlen? Und könnte nicht insbesondere auch die zu DDR-Zeiten fehlende Empfangbarkeit von westlichen Kindersendungen, die ja sehr multikulturell und reformpädagogisch waren (wie “Sesamstraße” oder “Sendung mit der Maus”), die Menschen in diesen Gegenden viel anfälliger für Rassismus gemacht haben?
Also es war zu DDR-Zeiten so, dass insbesondere in Südost-Sachsen, wo es keinen einfachen Empfang von Westmedien gab (was allerdings so auch nicht ganz stimmte), die Ausreisewellen und -quoten höher waren als anderswo im Land. Das hat man sich damals so erklärt, dass dort eine größere Romantisierung des Westens erfolgte als dort, wo man westfernsehen konnte. Das traf aber bereits auf die Achtzigerjahre nicht mehr richtig zu, weil dann schon Gemeinschaftsantennen gebaut wurden, die irgendwann nicht mehr verhindert wurden. Es gab sogar in Zeitschriften wie “praktika”oder in nachrichtentechnischen Zeitschriften Arbeitsanleitungen, wie man solche Gemeinschaftsantennen bauen kann, und die auf dem Berg erichtet, so dass das ganze Dorf Westfernsehen schauen kann. Das hatte damals durchaus hohe Auswirkungen. Heute glaube ich an diese Art Spätfolgen diesbezogen nicht, weil: Klar, wir haben uns immer über das “Tal der Ahnungslosen” in diesen beiden von Ihnen genannten Gebieten lustig gemacht, aber so ahnungslos waren die auch nicht. Den Deutschlandfunk konnte man dort trotzdem empfangen über Mittelwelle. Das haben auch viele gemacht. Ich glaube, da wirken ganz andere Kräfte, historische Traditionen, viel stärker, gerade in Sachsen: der Abscheu gegenüber Preußen, der Abscheu gegenüber dem Zentrum in Berlin. Das sind alles viel ältere Ressentiments, die zu Ost-Zeiten weiterwirkten und danach, nach 1990, neu aufbrachen. Und so weiter und so fort, das kann man auch anhand der Weimarer Republik sehen. Deshalb diese unterschiedlichen Entwicklungen in verschiedenen Regionen. Und wenn man sich heute die Wahlen anschaut, das politische Klima, dann wird man zwischen dem Landkreis Plauen, direkt an der Grenze zu Hof gelegen, und Görlitz keinen großen Unterschied feststellen. Das gleiche gilt für Greifswald und Wismar. Da gibt es in den ländlichen Regionen auch keine großen diesbezüglichen Unterschiede mehr in den Negativentwicklungen.
Nächste Frage: War es aus Ihrer Sicht richtig, zu den Gedenkfeiern am heutigen 8. Mai keine russischen und belarussischen Vertreter einzuladen?
Aber selbstverständlich. Die Hauptlosung lautete: “Nie wieder!” Die Russländische Föderation mit Unterstützung von Belarus ist aktuell Kriegsführer. Das ist ein Vernichtungsfeldzug gegenüber der Ukraine. Diese einen Angriffskrieg führenden Parteien haben bei einer Feier zum Gedenken an ein Kriegsende nichts zu suchen. Hinzu kommt noch die kriegspolitische Offerte: Russland instrumentalisiert ja den Zweiten Weltkrieg als seinen Krieg, als ob keine anderen auf seiner Seite beteiligt gewesen seien. Die größte Opfergruppe in diesem Krieg auf Seiten der Sowjetunion waren aber die Ukrainer und die Belarussen. Das unterschlagen Putin und der Kreml geflissentlich im Geschichtsunterricht und überall. Insofern ist es selbstverständlich, dass die nicht eingeladen werden. Wir stehen, jedenfalls politisch und was viele Menschen betrifft, auf der Seite der Ukraine. Und da haben die Russen gerade bei diesen Feierlichkeiten nichts zu suchen. Sie müssen auf allen Ebenen in absoluter Gänze isoliert werden. Das gelingt auf der weltpolitischen Ebene nicht, nicht zuletzt wegen China und Indien. Aber wir als Europäer sollten das so machen. Ich finde das richtig. Wobei ich erwähnen möchte, dass ich ukrainische Vorfahren habe. Ich rede hier also gewissermaßen parteiisch und betroffen. Für mich ist das in Russland ein Verbrecherregime. Die gehören eigentlich gar nicht an den Verhandlungstisch, sondern die gehören nach Den Haag (Sitz des “Haager Tribunals”, des Internationalen Strafgerichtshofs; d. Red.).
Apropos Isolation: Denken Sie, dass sich auf mittlere und lange Sicht das Konzept der Brandmauer gegen die AfD noch aufrechterhalten lässt? Besonders in vielen ostdeutschen Regionen und Bundesländern ist es ja schon sehr schwierig geworden, das durchzuhalten, und möglicherweise wird es in Zukunft sogar noch schwieriger werden…
Man muss ja immer unterscheiden zwischen Landes-/Bundesebene und der kommunalen Ebene. Mir ist vollkommen klar, dass auf einer kommunalen Ebene, wo sich die Leute alle kennen, in den kleinen Städten, auf den Dörfern, wenn da 30, 40, 50, 60 Prozent die AfD wählen – neulich war ich in einem Dorf, da waren sogar 70 Prozent AfD-Wähler, – da kann man schlecht von Brandmauern reden, weil: die kennen sich alle. Da kann man pragmatisch rangehen und sagen: O.k., auf der Ebene einer Kleinstadt wird nicht Krieg und Frieden verhandelt, sondern da geht es um die Reparatur der Freiwilligen Feuerwehr, um den Stadtpark und den Dorfteich, und da müssen die miteinander reden. Aber das gilt halt nicht für die Landesebene und für die Bundesebene. Was passiert nun, wenn nächstes Jahr bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt die AfD die absolute Mehrheit erringen sollte? Und das droht. Das wird der Lackmus-Test nächstes Jahr. Dann wird man sehen, dann gibt es kein Halten mehr. Und insofern kann ich nur sagen: Es sind in der Vergangenheit dramatische Fehler von der Politik gemacht worden. Es ging da los, dass man ein Verbotsverfahren gegen diese faschistische Partei schon längst hätte in Gang setzen müssen. Wahrscheinlich ist es dafür jetzt zu spät, egal was der Verfassungsschutz sagt. Ich finde es ja eigentlich spannend, ob jemand jetzt noch den Mut aufbringt, ein Verbotverfahren in Gang zu setzen. Ich glaube das eigentlich nicht, denn man würde sich ja automatisch gegen 10 Millionen WählerInnen stellen. Das darf man nicht vergessen. Das ist also die eine Katastrophe. Die zweite Katastrophe war, wenn wir uns den letzten Bundestagswahlkampf anschauen: Fast alle Parteien haben die AfD-Sprache übernommen. Sie haben nicht nur die Themen übernommen, sondern auch die Sprache. Und das ist ein Riesenproblem. Man schlägt nicht einen Feind der Demokratie und Freiheit, indem man versucht, ihn rechts zu überholen, sondern man greift die Themen auf und füllt sie mit eigenen Inhalten und widerspricht dem. Und das ist viel zu selten passiert. Und insofern ist das jetzt eine Situation, die mir fast wie eine Sackgasse erscheint. Und deswegen habe ich auch vorhin davon gesprochen, dass wir an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter stehen, weil wir auch jetzt beobachten können: Die AfD wird in der Gunst ihrer potenziellen WählerInnen nicht verlieren. Sie wird vermutlich in den nächsten Wochen und Monaten eher noch zulegen. Und dann haben wir nicht nur ein politisches Problem, und ich schaue wirklich düster in die Zukunft.
Das ist sehr beunruhigend, für uns auch. Kommen wir noch zu den aktuellen Faschismusdebatten: Ist Trump in Ihren Augen ein Faschist? Das haben Sie schon beantwortet, ganz klar. Ist Putin ein Faschist? Ja, selbstverständlich auch. Wie ist es mit den Tech-Milliardären aus Amerika?
Die sind ja die eigentlichen Machthaber. Das haben wir in den letzten Wochen so eindringlich vor Augen geführt bekommen, wie sich das Karl-Eduard von Schnitzler nicht hätte träumen lassen. (Der berühmteste Propagandist des kommunistischen Regimes, der jede Woche montags im DDR-Fernsehen eine halbe Stunde lang gehetzt hat.) Das hätte sich ja niemand träumen lassen, dass das so offen funktioniert. Dass die Tech-Milliardäre so offen ihre Macht demonstrieren. Dass sie die eigentliche Macht haben. Und das ist auch das eigentliche Problem in unserer Welt: Wir erleben ja gegenwärtig eine globale digitale Revolution, und niemand weiß, wohin uns diese globale digitale Revolution führt. Niemand weiß, ob unser Arbeitsplatz, den wir heute haben, morgen noch existieren wird. Das verunsichert viele Menschen. Viele Menschen sind getrieben von Verlustängsten, gerade in der westlichen Welt, weil nur dort die Menschen wirklich verlieren können in breiten Schichten. Diese Verlustängste sind extrem, und diese Verlustängste treiben dann viele Menschen in die Arme derjenigen, die ganz einfache Antworten haben. Diese Extremisten sagen ja nichts anderes als: Wir führen euch in die Zukunft, und die Zukunft wird so aussehen, wie die harmonisierte Vergangenheit schon mal war. Also sie arbeiten mit Lügen, mit völkischen Argumenten, mit rassistischen Argumenten. Sie sagen ja auch immer, wer schuld ist, das sieht man ja ganz klar. Es sind immer rassistische Argumente, indem man Schuldgruppen definiert. Es sind alles letztlich faschistische Argumente. Und da sind die Tech-Milliardäre in den USA keine Kräfte, die das aus rein egoistischen Gründen machen. Ich habe bisher immer gedacht, sie machen das nur aus Profitgründen. Aber sie wollen ja tatsächlich die Macht haben. Das hat man nun an Musk sehr gut gesehen. Das sieht man an den anderen Falken ganz genauso, wie sie auch eingeknickt sind vor Trump. Und insofern: Ja, sie sind Teil des faschistischen Systems.
Würden Sie eine Prognose wagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird?
Am Verhandlungstisch. Das war von Anfang an klar. Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch. Ich hoffe, dass das ein Verhandlungstisch wird wie in Deutschland oder wie in Japan, wo die Schuldigen am Krieg entsprechend bedingungslos eine Kapitulationsurkunde unterzeichnen müssen. Aber das ist natürlich eine Hoffnung, die nicht in Erfüllung gehen wird. Das ist mir vollkommen klar. Es wird mit einem schlimmen Kompromiss enden. Egal, wie auch immer, es wird ein schlimmer Kompromiss. Schlimm deshalb, weil Putin und sein Regime – oder zumindest der Kreml, denn vielleicht stirbt Putin vorher – über einen Kompromiss zurück auf die Weltbühne finden werden. Über ihre Verbündeteten China, Indien und Brasilien, die sie auf die Weltbühne zurückhieven werden, mit Unterstützung wahrscheinlich von Trump. Der schlimme Kompromiss wird sein, dass die Waffen scheinbar schweigen, aber die Russen Gebiete okkupieren können, also ukrainisches Territorium behalten können, höchstwahrscheinlich die Krim, wahrscheinlich Teile der Ost-Ukraine. Das war auch von Anfang an irgendwie klar. Es hängt natürlich auch mit dem unentschiedenen Handeln Europas zusammen, sozusagen einer Politik, die der Ukraine alles gibt, damit sie nicht verliert, aber nichts gibt, damit sie gewinnt. Das sind ja zwei verschiedenene Dinge. Sie kriegt genügend, um nicht zu verlieren, aber nicht genug, um zu gewinnen. Und deswegen wird das wahrscheinlich mit einem schlimmen Kompromiss enden. Russland wird am Ende auch nicht als strahlender Sieger dastehen: mit zerrütteter Wirtschaft, mit völlig zerrütteten Staatsfinanzen, die nicht über Nacht wieder in Ordnung gebracht werden können. Die NATO hat jetzt mit Russland eine 1.500 km längere Grenze als vorher. Vorher gab es kaum NATO-Grenzen mit Russland. Jetzt hat Russland eine extrem lange NATO-Grenze mit Finnland. Für Russland ist das alles also auch kein großer Sieg, aber sie werden das anders verkaufen. Ich gehe aber davon aus, dass der Krieg noch länger dauert, als es uns allen recht ist. Und nochmal, damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich hoffe auf einen Sieg der Ukraine auf ganzer Front.
Das hoffen wir auch, aber wahrscheinlich vergeblich… Sie haben sich ja vorhin schon kritisch geäußert über die verteidigungspolitischen Fähigkeiten von Deutschland aktuell. Halten Sie es zumindest mittelfristig für denkbar, dass Deutschland eine verteidigungspolitische Führungsrolle in Europa übernehmen kann? Deutschland wurde ja zuletzt ausdrücklich von einigen amerikanischen Stimmen darum gebeten. Etwa Prof. Timothy Snyder hat sich so geäußert. Halten Sie das für realistisch?
Wir reden ja immer auf zwei Ebenen. Die eine Ebene ist Technik, ist Personal, also sprich Geld. Das ist nicht Deutschlands Problem. Das war Deutschlands Problem, weil in den letzten 30 Jahren die Armee massiv abgerüstet wurde, vernachlässigt wurde. Das lässt sich beheben. Das ist eine Frage von Geld, und Deutschland hat viele Probleme, aber keine Geldprobleme. Das wird immer nur so dargestellt. Das eigentliche Problem ist aber: Verteidigung fängt im Kopf an. Du brauchst eine Mentalität und eine Bereitschaft, dein Land und deine Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft gibt es in Deutschland nicht. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Russland Deutschland angreifen würde, das erste, was in Deutschland ausverkauft wäre, wären weiße Bettlaken. Und das ist das eigentliche Problem. Ich bin nach wie vor ein großer Verteidiger des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Das ist in meinen Augen ein Menschenrecht. Das gehört zu unserer politischen DNA. Aber das ist kein Widerspruch dazu, dass trotzdem eine Gesellschaft bereit sein muss, sich, ihre Grenzen und ihre Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft sehe ich kaum. Wir sind eine stark pazifizierte Gesellschaft, was zu Friedenszeiten ein großer Vorteil ist. Aber wir haben keine Friedenszeiten mehr, um das ganz klar zu sagen. Wir leben längst im Krieg. Wir haben längst einen Weltkrieg. Die meisten Menschen akzeptieren das bloß nicht, weil es sie nicht interessiert. Weil sie es sozusagen ignorieren, dass tagtäglich auf die kritischen Infrastrukturen unserer Gesellschaft Angriffe stattfinden. Und das sind keine Bombenangriffe. Das sind Cyberangriffe, die weitaus größere Auswirkungen haben, als vielen Menschen bewusst ist. Vor allem auch psychologische, psychische Auswirkungen. Und Russland und China sind unentwegt dabei, diesen Cyberkrieg zu führen, der teilweise ja auch ein physischer ist, wenn man daran denkt, wie sie Unterseekabel kappen u.s.w. Das ist ja Teil ihres Cyberkriegs. Und wenn man an ihren Propagandakrieg denkt, wie Narrative mit hunderttausenden Bots nach Europ einfließen, wie auch hier in der Politik überall Agenten und Spitzel sind u.s.w., da gibt es meines Erachtens keine adäquate Reaktion darauf aus der Gesellschaft heraus. Und insofern: Die Verteidigung, die in den Köpfen anfängt, ist in Deutschland ganz anders als in den skandinavischen Ländern, ganz anders als in Polen, ganz anders als in den Niederlanden, ganz anders als in England oder Frankreich oder Spanien, wo es das alles gibt. Das alles gibt es in Deutschland nicht. Und es hat natürlich auch etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun und den Jahrzehnten danach, mit der Politik, und dann aber eben auch mit einer verfehlten Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Herstellung der Deutschen Einheit. Das ist aber kein Schuldvorwurf. Ich habe das natürlich auch nicht anders gesehen. Ich fand das auch wie viele, vor allem in den Neunzigerjahren, toll. Allerdings bin ich auch umgeschwenkt. Damals in den Neunzigerjahren gehörte ich sehr frühzeitig zu den Befürwortern militärischer Einsätze auf dem Balkan zur Verhinderung von Massenmorden, zur Wiederherstellung der Menschenrechte. Da war ich unter meinen politischen Freunden in den Neunzigerjahren in einer absoluten Minderheit. Aber das musste ich eben auch erst lernen. Und jetzt müssen viele Deutsche lernen, dass die Verteidigungsbereitschaft zu unserer politischen DNA zählen muss, wenn man nicht untergehen will, denn ich bin fest davon überzeugt, dass Russland längst an weiteren Plänen arbeitet und sich massiv darauf vorbereitet, Europa anzugreifen, denn es geht hier nicht um Gebietseroberungen. Es geht hier nicht um Territorien, sondern es geht um die Frage: Diktatur oder Freiheit? Und wenn du ein Imperium hast, an dessen Grenzen Freiheit herrscht, und du selber hast eine Diktatur, dann bedroht dich diese Freiheit, weil da dieser Bazillus immer wieder auf dein Imperium überspringen könnte. Und Putin als KGB-Offizier, als Sowjetmensch ist das sozusagen noch ins Fleisch eingeschrieben, dass das sowjetische Imperium nicht zuerst im Zentrum unterging, sondern an seinen Rändern. In Polen zum Beispiel, weil dort der Freiheitsbazillus nicht mehr zu beherrschen war. Und genau das will er versuchen einzudämmen, und deshalb ist er der Feind Europas.
Sollte Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen?
Da habe ich keine Ahnung von. Ich glaube aber nicht, dass das das Problem ist. Wir haben andere Länder auf der Welt ohne Wehrpflicht. Schauen Sie in die USA, schauen Sie in andere Länder. Wehrpflicht ja oder nein? Ich würde eher eine Debatte führen wollen über einen Sozialen Dienst. Ich finde das vernünftig, wenn junge Menschen nach der Schule ein Jahr in der Gesellschaft sind, volle Arbeit machen, um auch andere Ecken der Gesellschaft kennenzulernen. Aber Wehrpflicht ist nicht das Grundproblem, wenn es um Verteidigungsbereitschaft geht. Es gibt genug Leute, die in der Armee dienen wollen. Im übrigen: Selbst wenn wir morgen die Wehrpflicht wieder einführen würden, die wir abgeschafft haben – ich war auch dafür -, dann würde man Jahre brauchen, um die Strukturen wieder herzustellen, um diese Wehrpflicht überhaupt wieder mit Leben erfüllen zu können, weil diese Strukturen auch gar nicht mehr existieren.
Letzte Frage: Sollte sich zumindest auf Ebene der Bundesländer die CDU auch für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei öffnen?
Ich habe ein, zwei Tage nach der Bundestagswahl ein Statement abgegeben, was dann durch die Medien ging, dass ich es in Ordnung finde, dass die Linkspartei solchen Erfolg hatte, weil das ein Zeichen der verfehlten Politik der anderen ist, weil sie sich eben auch auf wichtige sozialpolitische Punkte orientierten. Das fand ich gut. Insofern war das gerechtfertigt. Ich bin kein Freund dieser Partei. ich bin immer wieder ein scharfer Kritiker dieser Partei und habe aber gerade gestern auch gepostet, was eine große Verbreitung fand in den sozialen Medien, dass nach diesem Desaster, was Merz bei der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang erlebt hat und nachdem die Linkspartei dann signalisiert hat, sie sind für die Veränderung der Geschäftsordnung, dass es nun endgültig vorbei sein muss mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss, der im übrigen ja wegen Sahra Wagenknecht erfolgt ist. Und ich habe auch damals schon gesagt, als Wagenknecht aus der Linken ausgetreten ist: Jetzt ist es aber Zeit, diesen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linkspartei aufzuheben, auch wenn ich nach wie vor diese Partei ablehne, während man aber einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem BSW treffen müsste, denn das ist die systemfeindliche Partei. Und dazu ist es nicht gekommen, weil man sie in Thüringen brauchte, was ich für einen Skandal halte. Ich habe ein gemeinsames Buch mit Bodo Ramelow geschrieben, das im August erscheint und das eben auch zeigt, dass ich der Meinung bin: Das sind DemokratInnen in dieser Partei, und unter Demokraten muss man miteinander reden, selbst wenn man in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung ist. Aber ich unterstelle einem Mann wie Bodo Ramelow, dass er nur das Beste für unsere Gesellschaft will, auch wenn ich andere Dinge wichtiger finde.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.
Aktuelle Buchempfehlung:
Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1
Am 21.8.2025 erscheint:
Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316
Justament Sept. 2006: Vater aller Dinge
Herfried Münkler erzählt die Geschichte der symmetrischen und asymmetrischen Kriege
Thomas Claer
Organisierte bewaffnete Konflikte haben die Menschheit durch alle Epochen ihrer Historie begleitet und nur ausgeprägte Optimisten können sich vorstellen, dass dies einmal anders sein könnte. Daher täten wir alle – einschlägig erfahrene Senioren, Migranten und Weltenbummler ausgenommen – gut daran, uns von Zeit zu Zeit den seltenen Glücksfall bewusst zu machen, von all dem bislang verschont worden zu sein. Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und als Jahrgang 1951 ebenfalls mit einer Friedens-Biographie ausgestattet, zählt zu den großen Autoritäten der Kriegsforschung und versteht es meisterhaft, seinen Lesern die Augen für die bemerkenswerten Akzentverschiebungen in der Geschichte des Krieges zu öffnen. Zupass kommt seinen Schriften dabei die Gabe der plastischen, treffsicheren Formulierung, die aufs Vorteilhafteste mit der analytischen Schärfe des Gedankenflusses korrespondiert. Der hier zu besprechende Aufsatz beschreibt zunächst die (in erster Linie europäische) Entwicklung zum faktischen Kriegsmonopol des Staates, aus dem schließlich auch der völkerrechtlich kodifizierte klassische Krieg hervorging. Haupttriebfeder waren die über Jahrhunderte stetig steigenden Kosten der Kriegsführung. Ausgiebig werden Clausewitz und Machiavelli zitiert. Den Gipfel dieser Entwicklung stellten die Materialschlachten des Ersten und Zweiten Weltkriegs dar. Als etwas völlig Neues bewertet Münkler nun den Terror, wie er sich in New York, London oder Madrid manifestiert hat, denn erstmals werde hier das Territorialitätsprinzip als bislang entscheidendes Merkmal des Krieges aufgegeben. Anders als bei den Vorläufern dieses Terrors, die ihren Ursprung im Russland des 19. Jahrhunderts hatten, aber gänzlich andere Ziele, Strategien und Methoden aufwiesen, habe es sich bei 11/9 & Co. um originäre Kriegsakte gehandelt. In diesem Punkt befindet sich der Verfasser in begrifflicher Übereinstimmung mit der Doktrin des amerikanischen Präsidenten, dessen Konzeption er ansonsten aber für wenig überzeugend hält. Der jüngste Kriegs-Terrorismus sei heute die wahrscheinlich wichtigste Erosionskraft der internationalen Ordnung und als Asymmetrisierung von Gewalt auch bestens auf unser Medienzeitalter zugeschnitten. Er entfalte seine beste Wirkung in urbanen Ballungsräumen mit großer medialer Dichte und stelle insofern eine parasitäre Nutzung der modernen Welt dar, gegen die er sich letztlich wende. Seine effiziente Bekämpfung sei nur mit einem Mix polizeilicher und sozialer, politischer, aber auch militärischer Mittel möglich. Für entscheidend hält Münkler die mentale Gelassenheit der Bevölkerung in der Reaktion auf solche Anschläge. In den Augen der Bombenleger sei hingegen die größte Schwäche der westlichen Gesellschaften ihre “post-heroische” Grunddisposition, die wenig ausgeprägte Neigung zum konsequenten Handeln.
Die den Text begleitenden Zeichnungen des Zeichners Martial (sic!) Leiter sind schön anzusehen, aber ihr Bedeutungsgehalt erschließt sich dem Rezensenten meist weder auf den ersten noch auf den zweiten oder dritten Blick. Doch das muss nicht viel heißen, Lichtenberg hat das Passende dazu gesagt. Im Übrigen ist es natürlich immer erwähnenswert, wenn es irgendwo auf der Welt etwas umsonst gibt. Die Schweizer Vontobel-Stiftung bietet allen Interessierten eine 22 Hefte umfassende Schriftenreihe für lau, in welcher sie “aktuelle und grundlegende Themen aufgreift”. Also zugreifen, liebe Leserinnen und Leser, denn da spart man am meisten!
Herfried Münkler
Vom Krieg zum Terror. Das Ende des klassischen Krieges
Schriftenreihe Vontobel-Stiftung 2006
94 S.
Kostenlos zu beziehen unter http://www.vontobel-stiftung.ch
