Tag Archives: Katrin Achinger

justament.de, 13.3.2023: Auferstandene Legende

Die Kastrierten Philosophen sind wieder produktiv – nach 26 Jahren!

Thomas Claer

Jede Band von Bedeutung, die sich aufgelöst hat, kommt früher oder später auch wieder zusammen. Das ist so eine Art Naturgesetz der Branche. Die Fans dürsten nach einer Wiedervereinigung, nach neuen Songs von ihren alten Lieblingen, nach Revival-Tourneen und kostbaren Sammeleditionen der alten Veröffentlichungen. Und irgendwann lassen die alten Helden, so sie denn noch am Leben und halbwegs gesund geblieben sind, sich dann endlich breitschlagen und steigen tatsächlich noch einmal in den Ring. Nur bei den Kastrierten Philosophen, den Sonderlingen aus dem Indie-Underground der Achtziger und Neunziger, die damals ein richtig heißer Szene-Act gewesen sind, da war man sich ganz sicher, dass so etwas nie passieren würde.

Seinerzeit waren die beiden Hauptprotagonisten Katrin Achinger und Matthias Arfmann, die auch privat ein Paar waren (am Ende sogar ein Ehepaar mit Kind, um genau zu sein) ja nicht gerade friedlich auseinandergegangen. Auch wenn keine Details bekanntgeworden sind, konnte sich ja jeder an fünf Fingern abzählen, was wohl passiert sein musste: Von heute auf morgen wurde das Band-Projekt eingestellt, und Matthias Arfmann posierte auf seinen bald darauf erscheinenden Solo-Veröffentlichungen an der Seite einer auffällig hübschen jungen exotischen Sängerin. Katrin Achinger hingegen musste sich von nun an als alleinerziehende Mutter durchschlagen und war so begreiflicherweise musikalisch weitgehend ausgebremst…

In einem Interview berichtete sie lange Jahre später davon, wie hart diese Zeit für sie gewesen ist. Irgendwann stellte sie sich beruflich neu auf wurde Englisch-Lehrerin an einer Volkshochschule in Hamburg. Hach, wenn man damals in Hamburg gewohnt und davon Wind bekommen hätte, dann hätte man sich aber schnurstracks zum Englisch-Kurs bei Katrin Achinger angemeldet und sich alle seine geliebten Philosophen-Platten und CDs von ihr signieren lassen. Man hätte ihrer wunderbaren Stimme gelauscht, wie sie die Vokabeln deklamiert…

Aber genug der Vorrede. Die Kastrierten Philosophen, es ist wirklich kaum zu glauben, sind tatsächlich wieder da. Offenbar haben sie sich zusammengerauft, einander verziehen, sich auf ihre so überaus fruchtbaren gemeinsamen 15 Jahre besonnen. Jetzt, wo beide um die sechzig und darüber wohl auch ein Stück weit altersmilde geworden sind… Ein Best of-Album ist also nun entstanden, das insgesamt 17 Titel enthält, darunter sogar zwei neue. Loben muss man zunächst das bunt gemusterte Platten-Design, das großartigerweise rechts unten auf der Vorderseite die beiden Strichmännchen zeigt, die schon ihre allererste selbstbetitelte MC in den frühen Achtzigern geschmückt haben. Auch die CD selbst in Schallplattenoptik und mit pechschwarzer Rückseite (und trotzdem lässt sie sich problemlos abspielen!) ist ein Augenschmaus. Und selbstverständlich ist auch lauter gute Musik auf der Scheibe enthalten. Allein, das Beste von dieser Band? Nein, das bleibt leider ausgespart.

Gerade einmal ein einziges meiner zahlreichen Lieblingslieder von den Philosophen, nämlich “Toilet Queen”, befindet sich auf der Platte. Als ob sie sich bei der hier vorgenommenen Auswahl aus ihrem Oeuvre bewusst auf die tendenziell harmloseren, ja mitunter fast schon gefälligen Titel beschränkt hätten. Das ganz schräge Zeug, der ganz heiße Stoff hat es leider nicht aufs Album geschafft. Wo bleiben “Decadent Café” und “Faceless Fuckparade”, “Endzeitliebe” und “Hard Break Hotel”? Was ist mit “Lens Reflects Fear”, “Call Yourself a Liar”, “Gun Beat Babes 2” und “¿Por Qué Lloras?” Und warum fehlen “40th Generation” und “Cyrenaika”, “Privacy” und “Tyrants Of Insomnia”? Ebenso vergeblich sucht man nach “She’s Allergic” und “Peeping All”. Eigentlich müssten sie gleich noch eine weitere Best-of-the-Rest-Platte raushauen. Allerdings ist leider zu befürchten, dass sich das wohl wirtschaftlich nicht rechnen würde. Denn so viele Fans aus alten Tagen außer einem selbst sind dann vermutlich doch nicht mehr übriggeblieben. Wie konnte eine so fantastische und außergewöhnliche Musik nur dermaßen in Vergessenheit geraten? Es wird höchste Zeit, sie wieder oder neu zu entdecken!

Ach ja, es sind wie gesagt auch noch zwei neue Songs auf der Platte. Tja, man freut sich natürlich sehr darüber, mal etwas Neues von ihnen zu hören. Und es ist ja auch nicht ganz schlecht, aber eben doch längst nicht so gut wie die alten Sachen. Der letzte Song des Albums, das Titelstück “Jahre” mit einem sehr philosophischen Text in deutscher Sprache (der dem Bandnamen alle Ehre macht) ist schon vor einigen Jahren unter dem Titel “Hans im Glück” von Katrin Achingers Band “Flight Crew” herausgebracht worden, was aber vollkommen in Ordnung geht.

Kastrierte Philosophen
Jahre. 1981-2021 + 1
about us records 2022
LC 92196

www.justament.de, 16.7.2018: Alles außer kommerziell

Scheiben Spezial: Vor 30 Jahren erschien „Nerves“ von den Kastrierten Philosophen

Thomas Claer

Eine wunderschöne Platte von Anfang bis Ende. Kein anderes Werk der Underground-Combo „Kastrierte Philosophen“ (1981-1996), die heute kaum noch jemand kennt, ist so fein arrangiert, so gewählt ausbalanciert, so in sich ruhend wie „Nerves“, das vor nunmehr drei Jahrzehnten als Gesamtkunstwerk in der deutschen Musiklandschaft für Furore sorgte. Damals galten die „Philosophen“ schon seit Jahren als vielversprechender Szene-Act, dem der große Durchbruch allerdings auf unerklärliche Weise immer verwehrt geblieben war. Dabei wurden die Kritikerlieblinge aus Verden an der Aller, später aus Hamburg, seinerzeit von der Musikpresse als „deutsche Velvet Underground“ hochgejubelt – und blieben dann doch ein ewiger Geheimtipp. Nach einem fulminanten Frühwerk war „Nerves“ (1988) zweifellos der kreative Höhepunkt im Schaffen der Band, die – neben immer anderen Gastmusikern – im Wesentlichen aus den Co-Leadsingern und Multiinstrumentalisten Katrin Achinger (geb. 1962) und Matthias Arfmann (geb. 1964) bestand, die auch privat ein Paar waren. Dies blieben sie auch noch bis 1996; ihre private Trennung fiel mit dem Ende des Bandprojektes zusammen.

Zurück zu „Nerves“: Wenn eingangs von einem Gesamtkunstwerk die Rede war, dann deshalb, weil einfach alles an diesem Album stimmt: Schon das aufklappbare schwarz-gelbe Plattencover mit der Abbildung einer furchterregenden Vogelspinne ist ein visueller und haptischer Hochgenuss. Und dann erst seine Metaphorik! Beim Betrachter entsteht sofort die Assoziation: Das Weibchen frisst das Männchen nach der Paarung. Und hierzu passt auch die Widmung der Platte an Nico, die unsterbliche Velvet-Underground-Chanteuse, deren Vorgruppe die „Philosophen“ in jenen Jahren einmal gewesen sind. (Nico, einst sogar die Geliebte von Alain Delon, war als „männerfressendes Monster“ bekannt…) Und der Text von „Toilet Queen“ tut sein übriges… Das stimmliche Duett von Achinger und Arfmann in diesem Song („Will I still be innocent, when she falls?“) lässt einen wohlig erschauern. Und dann das Cello-Spiel in „Peeping All“, natürlich: Velvet Underground lassen grüßen. Aber auch das Xylophon in “I’m allright (though my hands are trembling)“ ist große Klasse. Und in allen Liedern hören wir Matthias Arfmanns charakteristisch verzerrtes psychedelisches Gittarrenspiel und Katrin Achingers wahrhaft betörende dunkle Stimme. („…als Ausdruck und Enttäuschung ihrer selbst“, hat ein entzückter Musikkritiker einmal über sie geschrieben.) „She’s Allergic“ ist ebenfalls ein überragendes Lied. Und „Dragon Flies Over Cyrenaika“ und das (ausnahmsweise) völlig überdrehte „Maniac Mandrax Fighter“. Und das sehr ruhige Titelstück „Nerves“. Kurz gesagt, die ganze Platte ist großartig.

Wie kamen die Kastrierten Philosophen aber zu ihrem kuriosen Bandnamen? Damals, Anfang der Achtziger, auf ausdrücklichen Wunsch der zu jener Zeit blutjungen Katrin Achinger. Sie habe so viele Leute mit ganz vielen tollen Ideen für Projekte gekannt, aus denen dann nie etwas geworden ist. Aus ihrer Band mit dem verrückten Namen ist dann allerdings eine Menge geworden (abgesehen vom fehlenden kommerziellen Durchbruch). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der gemeinsame Sohn der „Kastrierten Philosophen“, David Achinger alias Chassy Wezar (geboren 1994), heute selbst als kreativer Musiker unterwegs ist… Das Urteil für „Nerves“ lautet: sehr gut (17 Punkte).

Kastrierte Philosophen
Nerves
Normal 1988
(Vergriffen)