Justament April 2009: Gefährlich lebt der, der spekuliert
Anlagestrategien in der Finanz- und Wirtschaftskrise
Thomas Claer
Alles in allem, so befand schon Michel de Montaigne (1532-1592), kostet es mehr Mühe, ein Vermögen zu erhalten, als eines zu erwerben. Ein Lied davon singen können Anleger in aller Welt, deren Wertpapierdepots im zurückliegenden Horrorjahr 2008 auf dramatische Weise zusammengeschmolzen sind (siehe Grafik). Kalt erwischt wurden auch alle jene Kleinsparer, die zwecks Aufbesserung der künftigen eigenen Altersvorsorge ihr sauer Verdientes und mühsam vom Munde Abgespartes in Teilen an der Börse investiert hatten. Nach der Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende ließ sich nun schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts ein waschechter Crash der Aktienmärkte erleben. Doch allen Verschwörungstheorien zum Trotz, die hier finstere Mächte am Werk sehen, die mit raffinierten Tricks den kleinen Leuten das Geld aus der Tasche ziehen, haben wir es doch tatsächlich nur mit einer fatalen Verkettung individueller und institutioneller Fehler zum einen sowie massenpsychologischer Phänomene zum anderen zu tun. Der Verdacht, dass unser Wirtschaftssystem solche Krisen begünstigt oder gar mit Notwendigkeit hervorbringt, ist zwar alt und keineswegs unbegründet. Doch machte vielleicht gerade das auch die Stärke des modernen Kapitalismus in seiner 200-jährigen Geschichte aus, denn bisher gelang ihm nach jeder Krise – wie Phönix aus der Asche – eine noch glanzvollere Wiederauferstehung. Und bis die Globalisierung den letzten Flecken Erde erreicht hat, wird die Party vermutlich noch nicht zu Ende gehen.
Die Risiken
“Wer in den nächsten zehn Jahren Aktien kauft, muss ein Rad ab haben”, sprach Stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges auf dem Bundespresseball, das Sektglass in der Hand, ins TV-Berlin-Mikrophon. In der Tat gibt es gute Gründe für eine skeptische Beurteilung der künftigen Performance-Aussichten. Pessimisten rechnen sogar damit, dass sich die derzeitige Rezession zu einer anhaltenden Weltwirtschaftskrise wie in den 1930er Jahren entwickeln könnte. Damals wurden die alten Höchststände von 1929 schließlich auch erst 1955 wieder erreicht. (In Deutschland gab es ein ähnliches Szenario schon nach 1873 mit dem großen “Gründerkrach”.) Manche Ökonomen sehen mit den aktuellen Exzessen der Finanzkrise bereits den Zyklus des Neoliberalismus zu Ende gehen, der Anfang der achtziger Jahre mit Maggie Thatcher und Ronald Reagan begonnen hatte. Zunehmende staatliche Interventionen könnten dauerhaft die Unternehmensgewinne drücken und dadurch auch Aktionären die Freude an ihren Investments vergällen. Und niemand vermag mit letzter Sicherheit zu sagen, ob eine Aktie hoch oder niedrig bewertet ist. Denn nicht immer verwandelt die Zeit die Verluste in Gewinne: Wer sich vor zehn Jahren am Neuen Markt oder bei der Deutschen Telekom engagierte oder vor knapp dreißig Jahren in Japan, wird mutmaßlich noch für alle Ewigkeit auf Verlusten sitzen. Ein ähnliches Schicksal droht nun möglicherweise auch jenen, die vor anderthalb Jahren Bank- oder Automobilaktien erwarben.
Die Chancen
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Ein Blick in die Historie zeigt, dass Vermögen vielfach in der Krise gemacht wurden. Investment-Legende Warren Buffett, zur Zeit der reichste Mann der Welt neben Bill Gates, schrieb schon im letzten November in einer Kolumne für die Washington Post: “Kauft Aktien, Leute! Wann, wenn nicht jetzt?” Sein Motto war stets: “Sei vorsichtig, wenn alle gierig sind, aber sei gierig, wenn alle Angst haben!” Zwar habe er keine Ahnung, wie die Kurse in einem oder zwei Jahren stünden, doch wisse er, dass Aktien derzeit einfach sehr billig seien. Er gilt als Fundamentalanalytiker und bewertet die Unternehmensanteile aufgrund von Kennziffern wie Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV), Verschuldungsgrad des Unternehmens und Dividenden-Rendite. Wer diesem Ansatz folgt, muss derzeit verwundert feststellen, dass gemäß Bloomberg global betrachtet über 2000 Unternehmen im Börsenwert unter den Barmitteln der jeweiligen Gesellschaft liegen. “Das ist der achtfache Wert wie gegen Ende des letzten Bärenmarktes im Jahre 2002”, staunt auch der Frankfurter Börsenbrief und ergänzt: “Bei den Gesellschaften aus dem MSCI World Index wurde per Ende November jeder Dollar Nettovermögen nur mit 1,17 Dollar Börsenwert bezahlt. Seit mindestens 1995 gab es nie einen niedrigeren Bewertungsstand. Bei etwa vier von 10 Werten sind die liquiden Mittel größer als der Börsenwert und die Schulden zusammengerechnet.”
Ein unter Wirtschaftswissenschaftlern hochgeschätzter Indikator ergibt sich ferner aus der KGV 10-Methode. Sie berücksichtigt nicht die weit verbreiteten KGV-Schätzungen auf der unsicheren Basis künftiger Unternehmensgewinne, sondern misst für ein Unternehmen (oder für ganze Indizes) das durchschnittliche KGV der vergangenen 10 Jahre aufgrund der aktuellen Börsenbewertung und der in diesem Zeitraum tatsächlich erzielten Nettogewinne der Unternehmen (näheres unter http://www.antizyklisch-investieren.de). Demnach müsste der DAX derzeit entsprechend seiner langjährigen Durchschnittsbewertung bei ca. 6300 Punkten stehen. Zum Jahreswechsel notierte er aber bei nur 4800 Punkten (und Anfang März sogar nur noch bei 3600), was eine signifikante Unterbewertung anzeigt – oder aber die Einpreisung einer langjährigen Weltwirtschaftskrise!
Zumindest in der vergleichsweise jungen bundesrepublikanischen Wirtschaftsgeschichte waren aber Rezessionsjahre besonders gute Börsenjahre: Im Verlauf von 1967 stieg der DAX um 49%, 1975 um 40%, 1982 um 14%, 1993 um 47% und 2003 um 37%. Zuvor waren die Kurse – genau wie jetzt – jeweils in Erwartung der Rezession empfindlich eingebrochen.
Grafik:
FTSE (England) -31 %
Dow Jones (USA) -34 %
Kospi (Südkorea) -38 %
DAX (Deutschland) -40 %
Bovespa (Brasilien) -41 %
Nikkei (Japan) -42 %
Hang Seng (Hongkong) -48 %
Sensex (Indien) -52%
ATX (Österreich) -60 %
Shanghai Composite (China) -65 %
RTS (Russland) -72 %
Wertentwicklung wichtiger internationales Indizes 2008 (Quelle: Süddeutsche Zeitung)