www.justament.de, 4.1.2016: Hier hatte der Osten Weltniveau!
Thomas Claer empfiehlt spezial: Vor 40 Jahren lösten die Abrafaxe die Digedags ab
Es gibt Begegnungen, die das eigene Leben grundlegend verändern. So eine Begegnung hatte ich im Alter von sechs Jahren, wenige Monate vor meiner Einschulung, mit der Zeitschrift Mosaik, genau genommen mit dem Heft 5-1978, das den Titel „Im Gasthaus zum wilden Mann“ trug. In prachtvollen Bildern wurden dort – monatlich auf 20 Seiten – die Abenteuer der Kobolde Abrax, Brabax und Califax, genannt die Abrafaxe, erzählt, die durch alle Länder und Zeiten reisten. Wir befinden uns im Jahr 1704. Zwei superdämliche kaiserlich-österreichische Gendarmen, Bösl und Grantiger, machen Jagd auf die ungarischen Aufständischen (die „Kuruzen“) und insbesondere auf deren Anführer, den Ludas Matyi. Die Abrafaxe stehen wie immer auf Seiten der Armen und Unterdrückten und begleiten zudem volkstümliche „Spaßmacher“ wie den Salzburger Tierarzt Hans Wurst bei ihren Streichen. Eine geheimnisvolle Nebenfigur ist der Marquis Philippe de la Vermotte-Toupet, der sich auf diplomatischer Mission befindet. Er soll im Auftrag des französischen Königs Ludwig XIV. die Möglichkeit einer Allianz mit den Kuruzen ausloten. Doch im Bemühen, sich möglichst unauffällig zu verhalten, erscheint er den diensteifrigen Gendarmen Bösl und Grantiger sofort als besonders verdächtig und wird von ihnen für den Ludas Matyi gehalten, während der echte Ludas Matyi in anderer Verkleidung unbehelligt daneben steht…
Sofort war ich Feuer und Flamme fürs Mosaik. Am Anfang wurden mir die Bildgeschichten noch vorgelesen, ein paar Monate später kam ich dann schon allein zurecht. Die Hefte zu je 60 Pfennigen waren nicht immer leicht zu bekommen, meistens waren sie schon nach kurzer Zeit ausverkauft. Aber eine Bekannte meiner Eltern, Tante W., kannte die Frau im Zeitungskiosk, und so wurde mir fortan immer ein Exemplar zurückgelegt. Was aber bald schon noch verlockender für mich wurde, waren die früheren Hefte, auf die ich regelrecht Jagd machte. Und so entdeckte ich irgendwann, dass die Abrafaxe erst mit Heft 1-1976 das Licht der Welt erblickt hatten. Sie waren nur die Nachfolger ihrer Kobolds-Kollegen Dig, Dag und Digedag, die zuvor 20 Jahre lang im „Mosaik von Hannes Hegen“ eine ganz ähnliche Rolle gespielt hatten. So dehnte ich meine Sammel- und Leseleidenschaft also gleich noch auf die „alte Serie“ aus.
Damals, vor genau 40 Jahren, wusste niemand unter den Lesern, was dieser Wechsel der Mosaik-Kobolde zu bedeuten hatte. Inzwischen sind natürlich längst alle Hintergründe gründlich erforscht und u.a. in zwei sehr sehenswerten TV-Dokumentationen dargestellt:
https://www.youtube.com/watch?v=8rgk4vblBdg
https://www.youtube.com/watch?v=d-73-71UhoA
Heute werden beide Mosaik-Serien von den Fans geschätzt, wobei die alte Serie den großen Vorzug der Vollkommenheit genießt, es gab sie ja auch nur überschaubare 20 Jahre lang. Die Abrafaxe hingegen, zunächst vom gleichen Zeichnerkollektiv, aber ohne den Chefzeichner Hannes Hegen alias Johannes Hegenbart geschaffen, hatten ihre beste Zeit – soweit ich es noch beurteilen kann – ganz sicher in ihren Anfangsjahren. Aber es gibt sie noch bis heute, nun schon doppelt so lange wie seinerzeit die Digedags, seit ein paar Jahren sogar noch ergänzt um eine feminine Parallelserie mit den Koboldinen Anna, Bella und Caramella.
www.justament.de, 1.12.2014: Zum Tod des “Mosaik”-Zeichners Hannes Hegen
Thomas Claer empfiehlt – Spezial –
So etwas wie das „Mosaik von Hannes Hegen“ konnte wohl nur in der DDR entstehen. Verglichen mit westlichen Comics waren diese östlichen Bildgeschichten, die mich durch meine Kindheit und Jugend begleiteten, viel anspruchsvoller in fast jeder Hinsicht. Ein ausgedehnter Fortsetzungsroman aus bunten Heften führte die drei liebenswerten Kobolde Dig, Dag und Digedag in wechselnder Begleitung quer durch alle Länder und Zeiten. Sie bestritten Gladiatorenkämpfe im alten Rom, flogen durch den Weltraum auf fremde Planeten (auf denen es mitunter wie beim westlichen Klassenfeind aussah), zogen um 1284 mit dem Ritter Runkel von Rübenstein aus der deutschen Provinz in den Orient, um nach einem vergrabenen Schatz zu suchen, den ein Vorfahre des Rübensteiners dort einst auf der Flucht vor den Sarazenen angeblich vergraben hatte, verbrüderten sich mit Indianern und versklavten Schwarzen im Amerika des 19. Jahrhunderts, weilten am Hofe des osmanischen Sultans in Konstantinopel.
Die zeichnerische Umsetzung war liebevoll und meisterhaft opulent. Lange Zeit gab es statt Sprechblasen ausführliche Bildunterschriften. Mit Bildungszitaten wurde keineswegs gegeizt. Natürlich stand dahinter auch der Parteiauftrag, dem „westlichen Schund“ eine eigene überlegene sozialistische Kultur entgegenzusetzen. Herausgekommen ist eine kleine „Weltgeschichte von unten“, die alle ideologischen Vorgaben spielend unterlief. Die Digedags waren notorische Autoritätenverspotter. Und immer traf es die Richtigen: die Mächtigen, Reichen, Aufgeblasenen, gerne auch Polizei und Militär.
Zweifellos hat es der Qualität der Zeitschrift nicht geschadet, dass sie keinen „Markt bedienen“ musste. Es gab in der DDR (wo westliche Comics nicht zu kriegen waren), abgesehen vom deutlich weniger ambitionierten „Atze“, keine einschlägigen Konkurrenten um die Gunst des Publikums. Das hatte zwar etwas von einer Zwangsbeglückung. Doch anders, als man es sonst im traurig-realen Sozialismus erleben musste, zogen die Zwangsbeglückten aus dem Mosaik einen großartigen Nutzen – und das zum unschlagbaren Dauer-Tiefpreis von 60 Pfennigen pro Heft! (Da es im Sozialismus keine Inflation geben durfte, waren alle einmal festgesetzten Preise, egal für welche Güter, eingefroren für alle Ewigkeit.) Selten etwas geändert wurde aber auch an der Höhe der Auflage, die sich mit gut 600.000 Exemplaren dauerhaft als viel zu niedrig erwies. Die Folge war, dass die Mosaik-Hefte zur „Bückware“ wurden, die schwer zu bekommen war und leidenschaftlich gejagt, gesammelt und getauscht wurde. Da sich mit DDR-Geld damals kaum jemand locken ließ, man konnte sich eh nichts Besonderes dafür kaufen (viel wichtiger war es, die richtigen Leute zu kennen, die an der jeweiligen Quelle saßen), wurden besonders begehrte Hefte aus den 50er und 60er Jahren seinerzeit bevorzugt gegen Autoersatzteile, Waschmaschinen oder Farbfernseher eingetauscht. Oder sogar gegen verbotenes Erotik-Material aus dem Westen…
Für die Ostdeutschen blieben Hannes Hegens alte Mosaik-Hefte auch nach der Wende das Nonplusultra. Prominente Künstler wie Uwe Tellkamp und Neo Rauch bekannten sich zu ihrer Mosaik-Begeisterung. Für Heft 1 aus dem Jahr 1955 müssen Sammler inzwischen hohe vierstellige Euro-Beträge hinblättern. (Ich selbst betrachte meine Mosaik-Sammlung als Teil meiner Altersvorsorge.) Westdeutsche Comicfreunde konnten sich hingegen nur zögernd für die Bildgeschichten aus dem Osten erwärmen. Am 8. November ist der Mosaik-Schöpfer Hannes Hegen, der eigentlich Johannes Hegenbarth hieß, 89-jährig in Berlin gestorben.