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justament.de, 2.9.2022: Von roten Fahnen bis zum blau-gelben Plakat

Recht historisch: Justament-Autor Thomas Claer über sein Leben als Demonstrant

Wer bereits seit einem halben Jahrhundert auf der Welt ist, hat oftmals auch schon viel demonstriert, für oder gegen dieses oder jenes, wenn auch längst nicht immer nur freiwillig. Insbesondere wer zur Zeit der deutschen Teilung im Osten aufgewachsen ist, hat ganz sicher an mehr Demonstrationen teilgenommen, als ihm lieb sein kann. Es herrschte dort nämlich Demonstrationspflicht, zumindest für Schüler am 1. Mai und am 7. Oktober (wenn ich mich richtig erinnere), also am „Kampftag der Arbeiterklasse“ und am „Tag der Republik“, dem Gründungstag der DDR. Für Erwachsene war es seinerzeit hingegen deutlich einfacher, sich vor diesen unliebsamen propagandistischen Ritualen zu drücken. So haben meine Eltern, soweit mir bekannt ist, nur ein einziges Mal seit meiner Geburt an einer Maidemonstration teilgenommen, und das war gemeinsam mit mir noch vor meiner Einschulung, um mir mal ein unterhaltsames Spektakel vorzuführen, was in unserer kleinen Provinzstadt schließlich Seltenheitswert hatte. Doch hat es mir, glaube ich, schon damals nicht besonders gefallen…

In den darauffolgenden Jahren habe ich dann eine sich immer weiter verstärkende Abneigung gegen diese Jubelparaden mit den roten und schwarzrotgoldenen Fahnenmeeren ausgebildet, die stets von unvorstellbar langweiligen hölzernen Propagandareden irgendwelcher Parteifunktionäre begleitet wurden. Und es kam ja noch schlimmer: Je älter man wurde, desto mehr aktive Mitwirkung wurde von einem gefordert. Es muss wohl in der neunten Klasse gewesen sein, als erstmals jeder von uns am 1. Mai selbst eine Fahne auf der Demonstration tragen musste. Immerhin hatten wir aber die Wahl zwischen einerseits rot und andererseits schwarz-rot-gold mit Hammer-Zirkel-Ehrenkranz. Damals lief bereits der Ausreiseantrag meiner Familie, und entsprechend kritisch stand ich „unserem“ Staat mittlerweile gegenüber. Also legte ich großen Wert darauf, die rote Fahne tragen zu dürfen, die mir als das bei weitem geringere Übel erschien. Denn schließlich hatte die Arbeiterbewegung, so sah ich es damals schon, eine durchaus ehrenwerte Demonstrations-Tradition, die nichts für ihre spätere real-sozialistische Uminszenierung zur bloßen Propagandafeier konnte.

Insofern erlebte ich es als große Befreiung, als Anfang Mai 1989, also vor genau 33 Jahren, endlich von den „zuständigen Organen“ unsere Ausreise in den Westen genehmigt wurde und ich, nunmehr siebzehnjährig, fortan niemals mehr demonstrieren gehen musste, sondern es von nun an ausdrücklich durfte, wie oder wann und wofür oder wogegen ich es wollte. Bitter war nur, dass ich durch unsere Übersiedlung die wenige Monate später einsetzende Wende im Osten mit ihren nun endlich auch dort freiwilligen Demonstrationen verpasste, die ich sehr gerne direkt vor Ort und nicht nur vor dem Fernseher miterlebt hätte…

Stattdessen sammelte ich aber nun Erfahrungen als Demonstrant im Westen. Noch im Mai (oder Juni?) 1989 erlebte ich meine Premiere auf einer Kundgebung vor dem Bremer Rathaus, wo der Revolutions-Präsident Nicaraguas, der damals vor allem im linken Lager hochgeschätzte Commandante Daniel Ortega, eine kurze Ansprache hielt. Ich hatte die Ankündigung in der Zeitung gelesen und war natürlich gleich hingegangen. Und ich traute dann meinen Augen und Ohren kaum, denn dort standen lauter cool gekleidete junge Leute mit roten Fahnen, die lauthals „Hoch die internationale Solidarität!“ riefen, also in etwa das, was, abgesehen von den coolen abgerissenen Klamotten der Demonstranten, auch auf den Zwangs-Demonstrationen im Osten zu sehen und zu hören war. Nur, dass diese Leute hier offenbar vollkommen freiwillig und sogar mit heißem Herzen dabei waren. Für mich war das in höchstem Maße irritierend und faszinierend zugleich. Ich war sogar kurz davor, die Parolen mitzurufen, hatte schon den Mund geöffnet, aber ich brachte es dann doch nicht fertig. Irgendwie war mir wohl auch der damals als großer Freiheitskämpfer angesehene Daniel Ortega nicht ganz geheuer, so wie er da in militärischer Uniform auf der Bühne stand und auf mich seltsam autoritär wirkte. Aus heutiger Sicht muss man sich eigentlich dafür schämen, ihm jemals zugejubelt zu haben, denn dieser Mann hat sich bekanntlich längst zum Diktator gewandelt, der zuletzt als einer der Ersten Präsident Putin seine Unterstützung bei der „Spezialoperation“ in der Ukraine erklärte. Aber die Welt und die Zeiten ändern sich nun einmal, und auch Putin ist einst im Bundestag beklatscht worden; Erdogan war einmal ein Reform-Präsident, der die Demokratisierung der Türkei vorantrieb und Gerhard Schröder ein Reform-Kanzler, der durch seinen mutigen Umbau des Sozialstaates in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Seitdem bin ich aber nur noch relativ selten auf Demonstrationen gewesen, was wohl auch daran liegt, dass ich so leicht friere und mich unter freiem Himmel lieber schnell bewege als lange stillzustehen oder im Trippelschritt zu marschieren. 1991 war ich natürlich bei den riesigen Schüler-Demos gegen den Golfkrieg der USA dabei, worauf ich aber schon bald danach nicht mehr besonders stolz gewesen bin, denn schließlich war dies eine begrenzte Militäraktion mit UN-Mandat, um einen Aggressor zu stoppen, der in sein kleines Nachbarland eingefallen war… Einen gewissen Stolz empfinde ich hingegen darauf, dass ich mit gerade einmal zwanzig oder dreißig Mitstreitern in Bremen gegen das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens demonstriert habe. Irgendwann in den Neunzigern war ich mit Studienfreunden in Bielefeld auf einer Demo gegen Rechtsextremismus, was natürlich immer gut und richtig ist. Noch dazu war ich deutlich auf dem Foto von dieser Demonstration in der Lokalzeitung „Neue Westfälische“ (auf der ersten Seite!) zu erkennen.

Nach vermutlich mehr als zwanzigjähriger Demonstrations-Unterbrechung fand ich dann vor drei Jahren endlich einmal wieder Zeit und Kraft, um mal bei „Fridays for Future“ hier in Berlin vorbeizuschauen. Und für die Anti-Kriegs-Demo vor kurzem auf dem Alexanderplatz habe ich sogar extra ein blau-gelbes Ukraine-Plakat gebastelt. Kurzum, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Aber zu einem verantwortungsvollen Umgang damit sollte auch immer die Abwägung gehören, wofür sich der Gang auf die Straße wirklich lohnt.

justament.de, 5.10.2020: Getrennt verbunden, vereint entfremdet

Das zwischenmenschliche Paradox der deutschen Wiedervereinigung

Thomas Claer

Manchmal funktionieren Fernbeziehungen ja deutlich besser als Nahbeziehungen. Durch ungünstige Umstände ist man voneinander getrennt, wartet aufeinander, denkt immer aneinander und freut sich auf die seltenen Gelegenheiten, sich zu treffen. Gleichzeitig ist man nicht ständig im Alltag mit den Macken des anderen konfrontiert… Für die Deutschen in Ost und West hatte die vierzigjährige Trennung, die der nun dreißigjährigen Zeit des Wiedervereintseins vorausging, insofern nicht nur schlechte Seiten. Denn so streng wie etwa im heute noch geteilten Korea – mit jahrzehntelanger Kontaktsperre zwischen Nord und Süd – ist es hierzulande ja nie gewesen.

So manches war erlaubt

Beinahe immer durften die Westdeutschen zu jener Zeit den Osten besuchen. Von der Staatsmacht im Osten war das sogar politisch erwünscht, da der Westbesuch ja schließlich über den obligatorischen Zwangsumtausch an der Grenze begehrte Devisen ins Land brachte. Die Ostdeutschen durften hingegen nur ausnahmsweise mal in den Westen reisen. Vielen wurden ihre Anträge auf Westreisen von den Behörden sogar immer und ohne Begründung abgelehnt (wobei Begründungen hier ohnehin nicht vorgesehen waren), vermutlich weil sie als politisch unzuverlässig oder der Republikflucht verdächtig galten. Erst im Rentenalter durften alle Ossis in den Westen, wie sie wollten. Denn kam ein Rentner nicht wieder zurück, konnte die DDR sich ja dessen Rentenzahlungen sparen.

Was aber allen in Ost und West damals ausdrücklich erlaubt war: einander Briefe zu schreiben und Pakete zu schicken. Und auch dieser vielpraktizierte Austausch kam der DDR keineswegs ungelegen. Über die Briefe in den und aus dem Westen erhielt sie wertvolle Informationen über das Meinungsbild in der Bevölkerung. (Ganze Stasi-Abteilungen waren nur damit beschäftigt, die täglich tausenden grenzüberschreitenden Briefe über Wasserdampf zu öffnen, gründlich zu lesen, abzulichten und einzuordnen. Man versteht leicht, warum es in der DDR so etwas wie Arbeitslosigkeit nie gegeben hat…) Und die berühmten Westpakete versorgten einen großen Teil der Ostbevölkerung mit begehrten westlichen Konsumartikeln. Besonders westpaketverwöhnte Ossis (wie meine Familie) mussten so niemals den scheußlich schmeckenden Ost-Kaffe trinken, nie die ebenso schlechte Ost-Schokolade essen und auch nicht auf Nylon-Strumpfhosen verzichten, denn sie waren ja immer bestens mit allem aus dem Westen versorgt.

Allerdings war es schon ein Unterschied, ob man sich all diese schönen Dinge täglich für kleines Geld an jeder Ecke kaufen konnte oder ob man sie – in unserer Familie mittels einer ausgedehnten Auspack-Zeremonie – aus einem leuchtend gelben (oder manchmal auch eintönig grauen) Westpaket fischte. Ständiger Überfluss sorgt nicht selten für Verdruss, aber vorübergehend überwundener Mangel erzeugt fast immer Freude. Für mich gehört das rituelle Auspacken der Westpakete im Familienkreis zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen…

Begegnungs- und Geschenkkultur

Überhaupt hat wohl nicht nur die eingeschränkte Begegnungs-, sondern auch die sehr spezifische Geschenkkultur das erstaunlich harmonische Miteinander zwischen Ost- und Westdeutschen zu jener Zeit geprägt. “Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft”, heißt es, aber in einer Überflussgesellschaft wie unserer heutigen (und ansatzweise auch schon der damaligen westlichen) hat das Schenken beinahe alles von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren. Wenn einer etwas haben will, dann kann er es sich schließlich in aller Regel auch selbst kaufen. Unerbetene Zuwendungen werden dann eher als Belastungen, wenn nicht sogar als Belästigungen empfunden. Wie anders war das doch zur Zeit der deutschen Teilung! Damals konnten die Menschen des einen Teilstaates jenen im anderen Teilstaat mit ihren Geschenken und Mitbringseln noch wirklich eine Freude bereiten. Und das Beste daran war: Die Freude lag auf beiden Seiten. Wer aus dem Westen kommend mit solch kleinen Dingen für solch strahlende Gesichter bei seinen Ost-Gastgebern sorgen konnte (und das längst nicht nur bei den Kindern), der nahm es, zurück im Westen, gerne auf sich, mehrmals im Jahr seine Ost-Kontakte mit verschnürten Paketen zu beglücken (die sich sogar noch von der Steuer absetzen ließen).

Win-win-Situation

Nun sind Geschenke von gut Versorgten an weniger Bemittelte eigentlich ein zweischneidiges Schwert. Groß ist hier für den Schenker die Gefahr, sein Gegenüber zu beschämen, seinen Stolz zu verletzen. Der Beschenkte fühlt sich dann leicht als Versager, der auf Zuwendungen angewiesen ist, weil er es selbst zu nichts gebracht hat. Doch davon war zur Zeit der deutschen Teilung nichts zu spüren. Niemand im Osten wäre auf die Idee gekommen, sich wegen seiner im Vergleich zu den Westbesuchern relativ bescheidenen Lebensumstände beschämt zu fühlen. Es konnte ja auch keiner etwas dafür, dass es im Osten all die schönen Konsumartikel nicht zu kaufen gab. Es lag einzig und allein an den politischen Verhältnissen. Es war gewissermaßen höhere Gewalt, die dafür gesorgt hat, dass die Deutschen in Ost und West einander in jenen Jahren mit einfachen Mitteln so große Freude bereiten konnten. Heute würde man von einer klassischen Win-win-Situation sprechen.

Kulturschock nach der Wende

Doch damit war es dann schon bald nach Mauerfall und Wiedervereinigung vorbei. Nur kurz währte im Osten das Glücksgefühl, die ungeliebte diktatorische Mangelgesellschaft endlich hinter sich gelassen zu haben. Nun lebten Ost- und Westdeutsche plötzlich im selben Land und waren zu Konkurrenten in einer rauen Wettbewerbsgesellschaft geworden. Klar, wer hier die weitaus besseren Voraussetzungen hatte und wem der Klotz von vierzig Jahren Misswirtschaft und Bevormundung auf Lebenszeit am Bein hängen bleiben sollte. Millionen Ostdeutsche wurden arbeitslos, standen so zwar materiell zumeist besser als zu DDR-Zeiten, verloren aber vielfach ihre Selbstachtung. Nun gehörten sie nicht mehr zu denen, die nur durch unverschuldete politische Umstände hinter ihren westdeutschen Vettern und Kusinen wirtschaftlich zurückgeblieben waren, sondern sie mussten sich vor den oftmals als Kolonisatoren empfundenen “Besserwessis” als Versager fühlen, zu unflexibel, um sich auf dem nun gesamtdeutschen und globalen Arbeitsmarkt behaupten zu können.

Und überhaupt: Wo vor der Wende in den zwischenmenschlichen Ost-West-Beziehungen zumeist eitel Sonnenschein herrschte, sind nach Mauerfall und Wiedervereinigung nicht selten Streit und Missgunst an seine Stelle getreten. Erbstreitigkeiten, ungeklärte Besitz- und Restitutionsansprüche, es gab so vieles, was die Deutschen in Ost und West nun voneinander trennte. Manche verloren auch einfach das Interesse aneinander, besuchten sich nicht mehr wie früher, denn womit sollte man der anderen Seite jetzt noch eine Freude bereiten? Die Geschenkkultur hatte ihre mangelwirtschaftsbedingte Grundlage verloren, die Begegnungskultur ihre trennungsbedingte. So lässt einen das seit nunmehr dreißig Jahren wiedervereinigte Deutschland an ein altes Ehepaar denken, das oftmals lustlos nebeneinander her lebt, es aber dennoch ganz passabel miteinander aushält. Denn es gibt ja noch die schönen gemeinsamen Erinnerungen an die gute alte schlimme Zeit des Getrenntseins…