Category Archives: Über Filme

justament.de, 20.10.2025: Vier Frauen in der Einöde

Recht cineastisch, Teil 47: “In die Sonne schauen” von Mascha Schilinski

Thomas Claer

Wird in Sachsen-Anhalt tatsächlich Plattdeutsch gesprochen?! Ja, aber nur in der Altmark, dem nördlichsten Zipfel des aktuell zweitärmsten deutschen Bundeslandes, eingeklemmt zwischen Niedersachsen, Mecklenburg und der nordbrandenburgischen Prignitz, wo überall auch heute noch Varianten der niederdeutschen Mundart gepflegt werden, zumindest von ein paar älteren Bewohnern auf dem Lande. Vor 120 Jahren setzt die Handlung ein, sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann, im preisgekrönten poetisch-historischen Experimentaldrama “In die Sonne schauen” der 1984 in West-Berlin geborenen Filmemacherin Mascha Schilinski. Und zunächst sprechen alle auf dem altmärkischen Bauernhof, der über vier Generationen hinweg den Hintergrund des Geschehens darstellt, noch Platt, freundlicherweise fürs Publikum mit hochdeutschen Untertiteln versehen. Das ändert sich erst in der Nachkriegszeit, als mehr und mehr der Berlinische Tonfall auch in die entlegenen Gebiete nördlich der Spreemetropole einzieht. Um 1905 hieß es auf dem Bauernhof aber noch: “Treck di an, hab ick jesacht.”

“In die Sonne schauen” ist überwältigend in seinen Bildern, den eingefangenen und erzeugten Stimmungen, durch seine stets düster und bedrohlich wirkende Hintergrundmusik, erzählt dabei aber keine Geschichte im konventionellen Sinne. Die einzelnen Episoden sind nur recht lose miteinander verbunden. Vieles wird lediglich angedeutet, bleibt im Dunkeln. Auf Wikipedia lässt sich nachlesen, was einem beim Anschauen im Kino alles entgangen ist. Auch die verwandtschaftliche Beziehung der vier weiblichen Protagonistinnen in jeweils einer der vier gezeigten Epochen (Kaiserreich, 2. Weltkrieg, Achtzigerjahre-DDR und kurz vor der Gegenwart) zueinander erschließt sich keineswegs auf Anhieb. Der Film springt im bewährten 37-Grad-Stil fortwährend zwischen den Zeitabschnitten hin und her. Als roter Faden über die Jahrzehnte hinweg dient die Darstellung des hier insbesondere weiblichen sexuellen Begehrens, wobei auch immer wieder inzestiöse Verstrickungen anklingen, was aber in solch einer dünn besiedelten Region, zumal bei der damals noch stark eingeschränkten Mobilität, gut nachvollziehbar erscheint.

Die längste Zeit, das macht dieser Film deutlich, haben die Menschen ganz überwiegend unter elementaren Zwängen gelebt, die ihnen kaum persönliche Freiheiten ließen. Erst in der Gegenwart, als neuromantische Ankömmlinge aus Berlin den alten Hof für sich entdecken, ist die schwerwiegendste Frage für junge Mädchen, ob es Vanille- oder Erdbeereis sein soll. Doch dann zieht plötzlich auch hier wieder existentieller Ernst ein, denn Krankheit und Tod haben bis heute noch alle technischen und kulturellen Fortschritte überdauert. Kurzum, wer bereit ist, sich auf einen Kunstfilm mit betörend suggestiven Bildern einzulassen und nicht auf einer herkömmlichen “Erzählung” insistiert, wird “In die Sonne schauen” goutieren.

In die Sonne schauen
Deutschland 2025
Regie: Mascha Schilinski
Drehbuch: Mascha Schilinski, Louise Peter
Länge: 149 Minuten
Darsteller: Hanna Heckt, Lea Drinda, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler

justament.de, 28.4.2025: Klare Sache, und damit hip

Vor 50 Jahren erschien Eberhard Fechners Kempowski-Verfimung “Tadellöser & Wolff”

Thomas Claer

Was vergangen ist, das ist vorbei, und niemand kann es wieder zurückholen. Außer es wird so lebendig und begeisternd erzählt wie in den Romanen von Walter Kempowski (1929-2007) über seine Familiengeschichte in Rostock. Und erst recht lebt all das Vergangene wieder auf und ist sogar unsterblich geworden in der nicht minder genialen Verfilmung dieser Kempowski-Romane durch Eberhard Fechner, die vor 50 Jahren, am 1. und 3. Mai 1975, als Zweiteiler im ZDF-Abendprogramm erstmals ausgestrahlt wurde.

Ein Stück Geschichtsschreibung, vor allem auch Alltagsgeschichtsschreibung, ist auf diese Weise geglückt. Als Unterrichtsmaterial für heutige Schulkinder über die NS-Zeit würde man es sich zwar wünschen, doch ist das wohl unrealistisch angesichts der unverblümten, nach heutigen Maßstäben hochgradig unkorrekten Ausdrucksweise beinahe aller Film-Protagonisten. Ähnlich wie der zuletzt vieldikutierte Wolfgang-Koeppen-Roman “Das Treibhaus” wären wohl auch die meisten Kempowski-Bücher oder -Verfilmungen der heutigen multikulturellen und achtsamen Schülerschaft nicht mehr zuzumuten, was ganz sicher verständlich und dennoch sehr schade ist. Denn hier wird unmittelbar und aus der damaligen Situation heraus das Leben in der braunen Diktatur geschildert: mit Militarismus, Chauvinismus, Nationalismus, autoritärer und gewaltsamer Kinder-Erziehung. Und mittendrin eine bürgerliche Familie, die sich voller Lebensfreude durch ihre Routinen bewegt, sich mit den politischen Verhältnissen arrangiert, punktuell auf Distanz geht und gleichzeitig in einer Gegenwelt aus schnodderigen Sprüchen und (bei den Nazis verpönter) Jazz-Musik aus dem Gramophon lebt.

Vor allem Vater Kempowski (großartig gespielt von Karl Lieffen), Schiffsreeder mit langer familiärer Vorgeschichte, nervös und cholerisch, ist gleichwohl nie um einen lustigen Schnack, wie man in Rostock sagt, verlegen. “Wo Tränen fließen, kann nichts gelingen”, ist seine Maxime. “Wer schaffen will, muss fröhlich sein.” Er unterteilt die auftretenden Ereignisse in “Miesnitzdörfer & Jensen” und in “Gutmannsdörfer”. Sein höchstes Lob lautet “Tadellöser & Wolff” – in Anspielung auf seine favorisierte Zigarrenmarke “Loeser & Wolff”. Seinen Sohn Robert (grandios verkörpert von Martin Semmelrogge), den älteren Bruder von Erzähler Walter, würde man heute sicherlich als einen Hipster bezeichnen. Stilbewusst und entzückt von Jazzmusik und Kinofilmen gehört er zu einer jugendlichen Clique, die regelmäßig auf dem Schulhof trällert, hottet und swingt, was die Nazi-Lehrer sehr erbost (“Wie die Tiere!”). Die jungen Leute gehen segeln auf der Warnow und ziehen mitsamt Kurbel-Gramophon und Schellack-Platten zum Ostsee-Strand in Warnemünde. Nicht zuletzt dieser bürgerlich-jugendlichen Gegenkultur zum NS, in die auch der heranwachsende Erzähler Walter (mit zunehmend längeren Haaren!) mehr und mehr hineingezogen wird, setzt dieser Film ein Denkmal.

Doch auch Mutter Kempowski (sehr überzeugend dargestellt von Edda Seippel), Hamburger Kaufmannstochter aus einem hugenottischen Adelsgeschlecht, schimpft mitunter auf dieses “Nazi-Pack”. Niemals ist ein “Heil Hitler!” über ihre Lippen gekommen; politisch hält sie es allerdings nostalgisch mit dem Kaiser. Mit einer ganz eigenen Mischung aus Naivität und Durchtriebenheit (“Wie isses nu bloß möglich?”, “Es ist doch zu und zu schön.”) gelingt es ihr sogar, den von der Gestapo inhaftierten dänischen Schwiegersohn Sven Sörensen wieder frei zu bekommen. Dieser wiederum hält Familie Kempowski nachdrücklich den Spiegel vor, indem er sie mit seiner wenig positiven Meinung über die Deutschen und insbesondere die Nazis konfrontiert.

Darüber hinaus erzählt der Film (und mehr noch der Roman und seine tief in die Vergangenheit zurückgreifenden Nachfolger “Aus großer Zeit” und “Schöne Aussicht”) auch ein Stück Wirtschaftsgeschichte. Großvater Kempowski hatte die Seereeder-Firma einst aus Königsberg kommend in Rostock aufgebaut. Nach rasantem Wachstum war das Unternehmen während der Weltwirtschaftskrise in arge Bedrängnis geraten. Die Großeltern mussten, um wirtschaftlich überleben zu können, zwei ihrer drei Rostocker Einfamilienhäuser und schließlich noch mehrere ihrer Schiffe verkaufen. Doch dann, unter der Nazi-Herrschaft, lief es zunächst wieder deutlich besser – bis sich beim Tod des Großvaters durch dessen unerwartete Überschuldung neue Probleme einstellten…

1979 drehte Eberhard Fechner dann noch die ebenfalls ausgezeichnete dreiteilige Fortsetzung “Ein Kapitel für sich”, diesmal allerdings leider ohne Martin Semmelrogge als Robert Kempowski, weil der aufmüpfige Jungschauspieler zuvor bei den Dreharbeiten zu “Tadellöser & Wolff” offenbar häufiger frech geworden sein soll. Auch deshalb bleibt der Zweiteiler “Tadellöser & Wolff” eine unerreichte Sternstunde des Deutschen Fernsehens. Oder um es mit Vater Kempowski zu sagen: Klare Sache, und damit hopp.

Tadellöser & Wolff
BRD 1975
192 Minuten; FSK: 12
Regie: Eberhard Fechner
Drehbuch: Eberhard Fechner
Darsteller: Edda Seippel (Margarethe Kempowski), Karl Lieffen (Karl Kempowski), Martin Semmelrogge (Robert Kempowski), Michael Poliza (Walter Kempowski) u.v.a.

justament.de, 7.10.2024: EoC – jetzt auch im Kino

Recht cineastisch, Teil 46: “Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin” von Charly Hübner

Thomas Claer

Das fehlte natürlich noch im Œuvre der großartigen Band Element of Crime: ein Film über ihre Historie und Gegenwart mit ganz viel Musik, zahlreichen Interviews und jeder Menge Einspielungen aus den Archiven. Nun hat sich Charly Hübner an ein solches Werk gewagt – und man kann sagen, dass es ihm in vollem Umfang gelungen ist. Klar, es ist kein objektives Zeugnis daraus geworden, vielmehr ein Film von einem großen Fan dieser Band für unzählige andere große Fans, zu denen selbstredend auch der Rezensent gehört, keine Frage.

Einwenden ließe sich allenfalls, dass die Bandgeschichte seit 1985 zuvor bereits im ausgezeichneten Podcast “Narzissen und Kakteen” hinlänglich erzählt worden ist und einem daher manches, wovon nun berichtet wird, schon ziemlich bekannt vorkommt. Doch erstens hört man als wahrer Elementianer solcherlei auch gerne zweimal, und zweitens sorgen die bewegten Bilder dazu, insbesondere jene aus den frühen Jahren ausgegrabenen, noch für Erlebnisse ganz anderer Art. Kurzum, dieser Film ist ein Geschenk für jeden Interessenten. Und womöglich kommen durch ihn ja sogar noch neue hinzu.

Ergänzend zum Film ist übrigens auch dessen Soundtrack erschienen, der sich aus den Höhepunkten von fünf Berliner Konzerten in verschiedenen Locations der Stadt im Sommer 2023 zusammensetzt, die im Film gleichsam als roter Faden dienen, wodurch ganz nebenbei auch noch sehr viel Stadtgeschichte der letzten Jahrzehnte miterzählt wird. Demnächst werden wir uns dem besagten Soundtrack noch einmal gesondert in unserer Rubrik “Scheiben vor Gericht” widmen. Wer aber “Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin” im Kino sehen möchte, der sollte sich beeilen, denn der Film wird voraussichtlich nur noch für kurze Zeit gezeigt werden.

Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin
Deutschland 2024
94 Minuten; FSK: 0
Regie: Charly Hübner
Drehbuch: Charly Hübner
Darsteller: Element of Crime u.v.a.

justament.de, 1.4.2024: Banalität des Monströsen

Recht cineastisch, Teil 45: “The Zone of Interest” von Jonathan Glazer

Thomas Claer

Rudolf Höß ist ein Mann im besten Alter, ein rühriger Familienvater und dazu beruflich sehr engagiert. Von früh bis spät arbeitet er fleißig an seinem Projekt und wird dafür von allen Seiten mit Anerkennung und Lob überschüttet. Er habe wirklich Herausragendes geleistet, heißt es überall. Seine Frau und seine Schwiegermutter unterstützen ihn dabei nach Kräften, halten ihm zu Hause den Rücken frei. Eine ganz normale deutsche Familienidylle also. Der einzige Haken daran ist, was Rudolf Höß beruflich so gemacht hat: Drei Jahre lang, von 1940 bis 1943, war er Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, hat den Aufbau dieses Vernichtungslagers geleitet und sich auch schwierigen logistischen Detaillproblemen gewidmet wie der Beschaffung passender hochmoderner Verbrennungsöfen zur Beseitigung des vergasten Menschenmaterials.

Dass ein Film das zumindest bis heute mönströseste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, den Holocaust, auf solche Weise erzählt, nämlich aus Tätersicht und mit Fokus auf das alltägliche Klein-Klein, das hat es bisher noch nicht gegeben. In diese Lücke ist nun “Zone of Interest” des britischen Regisseurs Jonathan Glazer gestoßen, der mit dieser Glanzleistung zurecht sowohl beim Filmfest in Cannes als auch bei der Oscarverleihung in Los Angeles für Furore gesorgt hat. Eine sehr gute Entscheidung war es zweifellos, die Hauptrollen mit deutschen Schauspielern, Sandra Hüller und Christian Friedel, zu besetzen. Denn diese verkörpern ihre Charaktere sehr überzeugend und… wenn es angesichts dieser Thematik nicht so obszön klänge, könnte man fast sagen: authentisch.

Ob dieser durchweg leise, scheinbar unspektakuläre, aber immer anspielungsreiche Film sich wirklich so gut für ein Massenpublikum eignet, wie es die Zuschauerzahlen suggerieren, mag man bezweifeln. Dennoch bleibt es sein großes Verdienst, einem eigentlich nun wirklich auserzählten Stoff noch einmal eine andere Sichtweise auf ihn hinzugefügt und dabei das Andenken an die Opfer dieser Gräueltaten neu belebt zu haben. Und das zu einer Zeit, in der so manches Entsetzliche, das man längst überwunden geglaubt hatte, wieder sein fürchterliches Haupt erhebt…

The Zone of Interest
Großbritannien / Polen / USA 2023
106 Minuten; FSK: 12
Regie: Jonathan Glazer
Drehbuch: Jonathan Glazer
Darsteller: Christian Friedel, Sandra Hüller, Johann Karthaus u.v.a.

justament.de, 18.3.2024: Feminismus und wildes Gehopse

Recht cineastisch, Teil 44: „Poor Things“ von Giorgos Lanthimos

Thomas Claer

Eine Art Märchen für Erwachsene hat Regisseur Giorgos Lanthimos hier komponiert. Eigentlich passt die Geschichte ja hinten und vorne nicht zusammen, immer wieder finden sich haarsträubende logische Unstimmigkeiten. Aber das ist gar nicht weiter schlimm, denn auf rein psychologischer Ebene funktioniert das Ganze schließlich glänzend… Irgendwann im 19. Jahrhundert, irgendwo in England experimentiert der optisch verdächtig an Dr. Frankensteins Monster erinnernde Protohumangenetiker Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) in seinem Herrenhaus wild mit Menschenmaterial herum. Gerade hat er dem Leichnam einer unlängst ertrunkenen jungen Dame das Gehirn eines Neugeborenen eingepflanzt und so einen neuen Menschen erschaffen, den er persönlich unter seine Obhut nimmt (so wie besagter Dr. Frankenstein es einst mit seinem Geschöpf getan hat). Im Ergebnis entsteht so ein recht obskures Hybridwesen, das aber vermutlich gewisse Männerphantasien bedient, nämlich ein Kind mit dem Körper einer reizvollen erwachsenen Frau, das schon bald sein sexuelles Erwachen erlebt. (Man stelle sich nur einmal die umgekehrte Konstellation vor, das wäre dann sogleich ein Fall für die Staatsanwaltschaft!) Doch diese etwas anrüchige und schmuddelige Ausgangslage tritt dann mit der Zeit in den Hintergrund, während sich zum einen eine große Liebesgeschichte abspielt und zum anderen ein ultra-feministisches Coming of Age entfaltet. Dr. Godwin Baxters Assistent Mark Ruffalo (Duncan Wedderburn) ist dem kapriziösen Laborprodukt Bella Baxter (Emma Stone) in einer so rührend bedingungslosen Hingabe zugetan, dass er dadurch am Ende… Aber das soll an dieser Stelle noch nicht verraten werden, denn dieses furiose Fimspektakel sollte sich jede und jeder unbedingt selbst auf der Leinwand zu Gemüte führen.

Poor Things (GB 2023)
Regie: Giorgos Lanthimos
Drehbuch: Tony McNamara
Darsteller: Emma Stone (Bella Baxter / Victoria Blessington), Mark Ruffalo (Duncan Wedderburn), Willem Dafoe (Dr. Godwin Baxter), Ramy Youssef (Max McCandles)

justament.de, 5.2.2024: Brett vorm Kopf

Recht cineastisch Spezial: Warum “Die Feuerzangenbowle” kein Nazi-Film ist. Eine Entgegnung auf Sonja Zekri

Thomas Claer

Wohl kaum einen Film habe ich in meinem Leben so oft gesehen wie “Die Feuerzangenbowle”. Ende Januar 1944, also vor genau 80 Jahren, erstmals aufgeführt in Berlin, nach Ende der Nazi-Zeit aber zunächst verschämt in den Archiven verschwunden, wurde der legendäre Pennäler-Ulkstreifen dann Anfang der Sechzigerjahre in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen wiederentdeckt – und hat seitdem unzählige Wiederholungen auf diversen Fernsehkanälen und in Kinosälen erlebt. Seinen zahlreichen Fans gilt er generationsübergreifend als wahrer Klassiker der Schulfilm-Klamotte. Es ist ja auch wirklich zu komisch, wie sich die ernsthaften und verbiesterten Pauker fortwährend der ausgelassenen Streiche ihrer Zöglinge erwehren müssen.

Doch hat es schon seit Jahrzehnten immer wieder herbe Kritik an der scheinbar so harmlosen Schüler-Komödie wegen ihrer etwaigen Nazi-Kontaminiertheit gegeben. Jüngst hat nun die geschätzte und verehrte Sonja Zekri im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (vom 27.1.2024) zum abermals großen Schlag gegen den anrüchigen Filmspaß ausgeholt. Vor allem beklagt sie, womit sie zweifellos einen Punkt hat, die monströse Geschmacklosigkeit, die bereits darin liege, zeitgleich mit Kriegsverbrechen und Holocaust überhaupt einen solchen Film in die Welt gesetzt zu haben. Dieser enthalte zudem eine Menge Nazi-Ideologeme, angefangen vom vorgestrigen Frauenbild (positiv gezeichnete Unschuld vom Lande versus arrogante Großstadt-Dame aus Berlin) bis hin zum – unstrittig – NS-Propaganda verbreitenden Geschichtslehrer Dr. Brett. Noch dazu ist dieser Dr. Brett, der von der Erziehung der Jugend analog zu nicht schief wachsen dürfenden Bäumen schwadroniert, die einzige Filmfigur, für die es in der Romanvorlage von Heinrich Spörl aus dem Jahr 1933 keine Entsprechung gibt. Das heißt, er wurde offenbar allein zu propagandistischen Zwecken noch nachträglich in die Handlung eingefügt. Und schließlich, so erfährt man auch noch aus Sonja Zekris Text, sei Hauptdarsteller Heinz Rühmann nach den Dreharbeiten sogar eigens mit den Filmrollen auf die Wolfsschanze gefahren, um vom Führer höchstselbst die Freigabe des Films zur öffentlichen Aufführung zu erwirken, die ihm wegen befürchteter Untergrabung von Autoritäten zunächst verweigert worden war. Woraufhin sich Hermann Göring dann den Film mit Heinz Rühmann angesehen und anschließend Hitler darauf angesprochen habe. Und der Führer habe ihn gefragt: “Ist dieser Film komisch?” Und Göring habe das bejaht. Worauf Hitler erklärt habe: “Dann ist er fürs deutsche Volk freizugeben.”

Ist also “Die Feuerzangenbowle” somit eindeutig als Nazi-Film überführt, den man sich keinesfalls mehr anschauen sollte, zumal von jeder öffentlichen Aufführung auch noch die Inhaberin der Filmrechte profitiert, welche (bezeichnenderweise) AfD-Mitglied ist?

Um es gleich deutlich zu sagen: Man kann das alles durchaus so sehen, aber zwingend ist es keineswegs. Fest steht allein, dass sich daraus, dass der Film im Dritten Reich entstanden ist, gewisse Konsequenzen für ihn ergeben. Einen Anti-Kriegsfilm oder einen Anti-NS-Film zu drehen, wäre zu jener Zeit in Deutschland nicht möglich gewesen. Es sei daran erinnert, dass der Komponist der Filmmusik der “Feuerzangenbowle” noch vor der Erstaufführung wegen des Erzählens politischer Witze hingerichtet wurde. (Auch das steht in Sonja Zekris Artikel.) Wie stark der Film nun allerdings mit Nazi-Ideologie durchsetzt ist oder ob er sich nicht vielmehr als auffällig unpolitisch oder sogar dezent subversiv ausnimmt, darüber lässt sich trefflich streiten. Die meisten seiner Inhalte spiegeln wohl eher den allgemeinen Geist jener Jahre wider als einen spezifischen Nazi-Ungeist. Eindeutig nationalsozialistisch tritt allein der besagte Geschichtslehrer Dr. Brett auf. Doch wird er im Film wirklich positiv gezeichnet? Zeugt nicht bereits sein Name vom Gegenteil? Ist nicht die naheliegendste Assoziation, die sich hier einstellt, das sprichwörtliche Brett vorm Kopf, das in Anlehnung an ein hölzernes Sedativum für Ochsen die Verbohrtheit, Inflexibilität oder Begriffsstutzigkeit von jemandem bezeichnet. Wenn dieser Lehrer in die Klasse kommt, herrscht – anders als bei seinen Kollegen – augenblicklich Ruhe und Disziplin. Das werden viele damals gut gefunden haben. Aber machen ihn seine autoritären Erziehungsmethoden wirklich zu einem Sympathieträger bei seinen Schülern und dem Publikum? Ist er nicht sogar eher eine absichtsvoll ambivalent gehaltene Figur, die sowohl die damaligen ideologischen Vorgaben bedient als auch zugleich dem Betrachter Raum dazu lässt, auf Distanz zu gehen?

Ist es angesichts seines Entstehungsumfelds nicht vielmehr bemerkenswert, dass ein über weite Strecken so frecher und aufmüpfiger, fortwährend Autoritäten verspottender Film seinerzeit überhaupt zugelassen wurde? Und ist nicht der vordergründig unpolitische Schlussmonolog, in dem Hans Pfeiffer (mit drei f) ausführt, dass nur unsere Träume und Erinnerungen wahr seien, was Sonja Zekri als Augenverschließen vor den Nazi-Verbrechen deutet, das bereits auf die anschließenden Verdrängungen der Nachkriegszeit verweise, vielleicht sogar im Gegenteil ein verstecktes Statement gegen ein durchideologisiertes System? Ist es für Kulturprodukte aus totalitären, gleichgeschalteten Gesellschaften nicht oftmals sogar ein Qualitätsmerkmal, wenn sie “unpolitisch” sind, denn welche politische Haltung könnte sich in ihnen denn schon klar und deutlich ausdrücken außer doktrinärer Parolenhaftigkeit entsprechend den ideologischen Vorgaben? Anders gesagt: Das einzig mögliche Mittel des Aufbegehrens ist hier, wenn überhaupt, die Subversion, etwa durch versteckte Andeutungen oder Mehrdeutigkeiten. Und nun möge jede und jeder selbst darüber urteilen, ob sich in diesem Film mehr Staatspropaganda oder mehr Hinweise auf Subversion finden lassen. Kurzum, “Die Feuerzangenbowle” ist ein Film aus Nazi-Deutschland, aber deshalb noch lange kein Nazi-Film.

justament.de, 4.9.2023: Eduard Zimmermann, du hast mein Leben zerstört!

Recht cineastisch Spezial: Der vieldiskutierte Dokumentarfilm „Diese Sendung ist kein Spiel“ von Regina Schilling

Thomas Claer

Immer freitags um 20.15 Uhr war Krimi-Zeit im ZDF. Neben Derrick, dem „Alten“ und dem „Fall für zwei“ wurde aber seit 1967 auch jeden Monat eine neue Folge von „XY… ungelöst“ ausgestrahlt, dem „ersten True-Crime-Format weltweit“. So jedenfalls wird es in der sehenswerten Fernsehdokumentation „Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“ der Grimme-Preis-Trägerin Regina Schilling (Jahrgang 1962) bezeichnet, die sich in Spielfilmlänge an dieser Sendung und insbesondere ihrem langjährigen Moderator abarbeitet. Man merkt schnell, dass die Autorin und Regisseurin hier eine Art persönliches Trauma zu bewältigen versucht, denn sie hat sich offensichtlich in ihrer Kindheit und Jugend enorm vor all dem gefürchtet, was „Ganoven-Ede“ seinen Zuschauern damals so aufzutischen hatte: Die bevorzugte Opfer-Gruppe in Nachkriegs-Westdeutschland, so suggerierte es „XY…ungelöst“, waren Mädchen und junge Frauen, die immer wieder aufs Neue brutalen Lustmördern zum Opfer fielen, vor allem wenn sie alleine in „Gaststätten“ oder gar per Anhalter unterwegs waren oder „zweifelhafte Männerbekanntschaften unterhielten“. Mit einem solchen Lebenswandel, so kommentierte es Zimmermann oft in warnendem Tonfall, lebten junge Damen gefährlich, denn schließlich könnte doch hinter jedem Baum oder Strauch solch ein gemeiner Übeltäter lauern. Dabei hätte das Leben doch so schön sein können, damals, in den wilden Jahren des gesellschaftlichen Aufbruchs und der sexuellen Revolution. Es hätte grenzenlose Freiheit und feurige Abenteuer versprochen, wenn man oder vor allem frau sich nur nicht durch Zimmermann und „XY… ungelöst“ von alldem hätte abhalten lassen und stattdessen brav zu Hause geblieben wäre.

Tja, ein Stück weit muss man der Autorin schon recht geben. Zutreffend zitiert sie kriminalwissenschaftliche Untersuchungen, wonach zu allen Zeiten die größten Gefahren für sexuellen Missbrauch und sogar Tötungsdelikte keineswegs unterwegs in Lokalen oder auf der Straße, sondern vielmehr zu Hause in den eigenen vier Wänden bestanden hätten – und zwar durch nahe Angehörige der jeweiligen Opfer. Doch so etwas kam bei XY niemals vor. Was hat uns Eduard Zimmermann da nur für einen Bären aufgebunden?! Die Regisseurin übertreibt es allerdings dann doch ein wenig mit ihren Unterstellungen an Zimmermanns Adresse. In einem fort werden Sequenzen aus den damaligen Sendungen eingespielt und kritisch kommentiert, die aus heutiger Sicht in mancher Hinsicht bedenklich zu sein scheinen. Dabei spiegeln sie in erster Linie nur den damaligen Zeitgeist. Keine Frage, „XY…ungelöst“, das es auch heute noch gibt, war die längste Zeit von einer biederen konservativ-bürgerlichen Grundhaltung geprägt. Aber die Kriminalfälle, die dort nachgespielt wurden, die waren schon echt und hatten sich genauso zugetragen, weshalb man dem bereits 2009 verstorbenen Zimmermann auch keinen Strick daraus drehen sollte, dass er vor solchen Verbrechen gewarnt hat. Es liegt nur eben in der Natur einer solchen Sendung, dass bei der Auswahl dessen, was gezeigt wird, eher auf die Einschaltquote geschielt als auf eine repräsentative und wirklichkeitsgetreue Abbildung der Kriminalstatistik geachtet wird. Zumal die besagte Kriminalität aus dem häuslichen Umfeld der Opfer seinerzeit auch noch stark tabuisiert war und sich zumeist ungesühnt im Verborgenen abspielte. Dennoch ist Regina Schilling ein bemerkenswerter Film gelungen – über eine Sendung, die trotz all ihrer Schwächen ein großartiges Stück Fernsehgeschichte geschrieben hat.

„Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“
Deutschland 2023
Buch und Regie: Regina Schilling
In der ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/kultur/kultur/diese-sendung-ist-kein-spiel-die-unheimliche-welt-des-eduard-zimmermann-100.html

justament.de, 12.6.2023: Berliner Schule an der Ostsee

Recht cineastisch, Teil 43: “Roter Himmel” von Christian Petzold

Thomas Claer

Was gibt es Schöneres als ein Ferienhäuschen nahe der Ostsee! Und dort dann einen unbeschwerten Urlaub zu verbringen! Doch haben sich Leon (Thomas Schubert) und Felix (Langston Uibel), die Protagonisten in Christian Petzolds neuem Film “Roter Himmel”, mit ganz anderen Absichten an diesem idyllischen Rückzugsort auf der Halbinsel Darß, nordöstlich von Rostock, eingefunden: Leon, ein gefeierter junger Schriftsteller, kämpft verzweifelt mit seinem zweiten Roman. Sein Verleger Helmut (Matthias Brandt) rückt ihm bereits auf die Pelle. Leons Kumpel Felix, dessen Mutter die Küsten-Preziose gehört, werkelt indessen an der Bewerbungsmappe für seinen anvisierten Kunst-Studiengang an der UdK. Hier nun, ein paar Autostunden entfernt von ihrem Wohnort Berlin, wollen die beiden Freunde endlich mal zur Ruhe kommen und sich jeweils ganz auf ihre bedeutsamen Vorhaben konzentrieren. Doch alles kommt anders, als sich herausstellt, dass sie das hübsche Anwesen auch noch mit Nadja (Paula Beer), der Nichte der Freundin von Felix’ Mutter, teilen müssen, die sich wegen eines verpassten Stipendiums zum Abschluss ihrer literaturwissenschaftlichen Promotion als Eisverkäuferin im nahegelegenen Küstenort verdingt hat. Nadja agiert nämlich bei ihren nächtlichen Liebes-Aktivitäten mit dem einheimischen Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) so geräuschvoll, dass Leon und Felix im Nachbarzimmer kein Auge zutun können. Als sich die beiden Neuankömmlinge tags darauf bei ihr darüber beschweren, lädt sie sie als Wiedergutmachung zum selbstgekochten Essen ein, und schon bald kommen die vier jungen Leute sich näher…

Der Film lebt anfangs sehr von seiner heiteren Grundstimmung und entfaltet ein beträchtliches humoristisches Potential durch Thomas Schuberts grandioses Mienenspiel. Sehr überzeugend gibt er den verklemmten, dauerhaft miesepetrig-genervten Leon, der nicht zum Strand und nichts mit Nadja unternehmen möchte, in die er sich tatsächlich aber schon längst sowas von verknallt hat. Doch verdüstern sich die Rahmenbedingungen zusehends. Die in der Umgebung grassierenden Waldbrände kommen dem Ferienhaus bedrohlich nahe, und schließlich kippt der Film jäh ins Existentiell-Tragische. All das ist mustergültig durchkomponiert: Jede literarische Anspielung, von Heinrich Heine bis zu Uwe Johnson, findet ihre Entsprechung im Handlungsablauf. Zugleich ist dieser Film jedoch viel zugänglicher, als wir es von Christian Petzolds früheren, z.T. sehr verkopften Werken gewohnt waren. Kurzum, “Roter Himmel” erweist sich als ein rundum sehenswerter, vielschichtiger Sommer-Film.

Roter Himmel
Deutschland 2023
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold / Florian Koerner von Gustorf
Länge: 103 Minuten
FSK: 12
Darsteller: Thomas Schubert (Leon), Paula Beer (Nadja), Langston Uibel (Felix), Enno Trebs (Devid), Matthias Brandt (Helmut)

justament.de, 24.4.2023: Knallhärter

Recht cineastisch, Teil 42: “Sonne und Beton” von David Wnendt

Thomas Claer

Wer sich mal so richtig gruseln will, der sollte sich unbedingt “Sonne und Beton” ansehen, den neuen Film von Regisseur David Wnendt, der sich u.a. mit “Kriegerin” (2011), einer ausgezeichneten Milieustudie über die deutsche Neonazi-Szene, einen Namen gemacht hat. Nun widmet er sich kriminellen pubertierenden Heranwachsenden in Berlin-Neukölln kurz nach dem Millennium in der Literaturverfilmung “Sonne und Beton” nach dem autobiographischen Roman von Felix Lobrecht. Darin geht es ähnlich schockierend zu wie in Detlev Bucks “Knallhart” (2007) – und manchmal sogar noch etwas härter. Das war die Zeit, die frühen und mittleren Nullerjahre, als in Neuköllner Problemschulen der Sicherheitsdienst jeden Schüler zuerst nach Waffen durchsuchte, bevor ihm Einlass ins Schulgebäude gewährt wurde. Und die Klassen-Rowdys warfen dann auch gerne mal mit Schulbänken nach ihren Mitschülern oder gleich nach dem Lehrer. “Der Klügere gibt nach”, hört Lukas (Levy Rico Arcos) immer wieder von seinem Vater, doch sein älterer Bruder weiß es besser: “Der Klügere tritt nach”. Sehr eindringlich schildert der Film die verzweifelte Lage der jungen Menschen in einer von Bandengewalt, Rücksichtslosigleit und Verwahrlosung geprägten Umgebung, in der nur das Recht des Stärkeren zählt. Wer sich dort behaupten will, dem bleibt nicht viel anderes übrig, als früher oder später selbst auf die schiefe Bahn zu geraten.

Mittlerweile hat sich zum Glück vieles in Neukölln zum Besseren gewendet. Dank intensiver Sozialarbeit ist die eine oder andere Problemschule sogar zur Vorzeigeschule geworden. Doch gänzlich verschwunden sind die problematischen Strukturen trotz signifikanter Gentrifizierungstendenzen in mehreren Ecken des Bezirks noch lange nicht, was jüngst auch die Ereignisse der Neuköllner Silvesternacht gezeigt haben…

Sonne und Beton
Deutschland 2023
Länge: 119 Minuten
FSK: 12
Regie: David Wnendt
Drehbuch: David Wnendt, Felix Lobrecht
Darsteller: Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Hessling, Aaron Maldonado Morales u.v.a.

justament.de, 27.2.2023: Gespenstisches Vergnügen

Recht cineastisch Spezial: Die Ausstellung “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu” in der Sammlung Scharf-Gerstenberg

Thomas Claer

Vampire haben Konjunktur – und das schon seit 1897, als der epochale Roman “Dracula” des irischen Schriftstellers Bram Stoker erschienen ist. Besonders für manche Frauen ist es offenbar eine erregende Vorstellung, von so einem finsteren Gesellen lustvoll in den Hals gebissen zu werden. Klar, dass sich bald darauf auch das damals junge Medium Film immer wieder dieses gruseligen Sujets angenommen hat. Der Prototyp des Vampir-Films allerdings kommt aus Deutschland und wurde vor einem Jahrhundert unter dem Titel “Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens” von Regisseur Franz Murnau erschaffen. Eine sehenswerte Ausstellung in der Sammlung Scharf- Gerstenberg” gegenüber dem Schloss Charlottenburg widmet sich nun (und noch bis zum 23. April) den vielfachen Bezügen dieses Films zur bildenden Kunst.

Die Vampir-Mode hat nämlich zu dieser Zeit auch in der Malerei allerhand Blüten getrieben – so wie auch viele weitere Nebenaspekte im Nosferatu-Film, die sich ebenfalls in zahlreichen bildnerischen Werken nachweisen lassen. Die auf Werke des Surrealismus spezialisierte Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg hat es sich daher nicht nehmen lassen, eine Fülle an Kunstobjekten sowie zeithistorischem Material rund um das Thema Vampirismus zusammenzutragen, um so diesem großen expressionistischen Stummfilm zu huldigen. Gekonnt spielen die Ausstellungsmacher dabei, ganz ähnlich, wie es bereits der Film getan hat, mit Licht- und Schatten-Effekten. Immer wieder zuckt man als Besucher zusammen, wenn sich plötzlich eine bedrohliche Schattengestalt vor, neben oder hinter einem aufbaut. Für Kinder und Heranwachsende dürfte dies von besonderem Reiz sein.

So, wie man es sich wünscht, lässt sich in der Ausstellung auch der Nosferatu-Film selbst noch einmal vollständig und auf großer Leinwand zu Gemüte führen. Die Handlung ist im Wesentlichen vom Dracula-Roman inspiriert, spielt aber statt in London in der fiktiven norddeutschen Kleinstadt Wisborg, hinter der unschwer das von seiner prächtigen Altstadt geprägte Wismar zu erkennen ist, wo auch der größte Teil der Dreharbeiten stattgefunden hat. (Einige Szenen wurden aber auch in Lübeck und Rostock gedreht.)

Im Zentrum der 1838 spielenden Handlung steht ein Immobilienkauf: Graf Orlok (Nosferatu) aus Siebenbürgen kauft sich ein Haus in der Ostsee-Hafenstadt, wozu es nach damaligem Recht aber offenbar nicht einmal eines Notartermins bedarf. Hingegen ist auch schon vor fast 200 Jahren ein geschäftstüchtiger Immobilienmakler im Spiel, der – was niemanden verwundern dürfte – mit dem Vampir gewissermaßen unter einer Decke steckt. Was einem aber schon reichlich seltsam vorkommen kann, ist der Umstand, dass Graf Orlok samt seinem Sarg, in dem er zu nächtigen pflegt, aus Transsilvanien ausgerechnet auf dem Seeweg bis nach Norddeutschland reist (über Schwarzes Meer, Mittelmeer, Atlantik, Nord- und Ostsee!), was schon ein sagenhafter Umweg ist. Aber das musste wohl so sein, denn andernfalls hätte es ja die phänomenalen Bilder von Nosferatu auf dem Segelschiff nie gegeben!

Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, 14059 Berlin. Sonderausstellung: “Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu”. Noch bis 23. April 2023.