Meine Jahre in der Kommunalpolitik. Ein Erlebnisbericht
Thomas Claer
Es begann in den Neunzigern, am Anfang meiner Studienzeit, wo man ja oft noch nicht so recht weiß, was und wie und wohin. Deutschland wurde von Helmut Kohl regiert. Es galt – das mag manchem heute bekannt vorkommen -, die Welt vor der Umweltkatastrophe zu retten.
Jahrelang hatte ich mich über die von mir favorisierte Partei “Bündnis 90 / Die Grünen” aufgeregt, über ihren Dilettantismus, ihren Fundamentalismus, ihre Unfähigkeit zur Realpolitik. (Das klingt heute unvorstellbar, ich weiß. Aber so war das damals!) Kurz – ich war bereit zum Bruch mit meiner Lieblingspartei und offen für eine seriöse ökologische Kleinpartei, die die Bundeswehr nicht abschaffen und keine Drogen legalisieren wollte und keinen “basisdemokratischen” Schnickschnack wie das “Rotationsprinzip” brauchte. Ich war offen für die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), zu jener Zeit das Sammelbecken jener Umweltbewegten, denen die Grünen zu links und zu ungeordnet waren. Mich schreckte auch nicht mehr das hartnäckig konservative Image dieser Gruppierung. Und so meldete ich mich als Interessent bei der Parteizentrale und wurde schon drei Tage später vom Ortsverband Bielefeld zur Mitgliederversammlung eingeladen.
Parteiversammlung
Da saß ich dann neben vier Männern, die sich sehr über mein Kommen freuten, denn nun waren sie schon fünf. Einer von ihnen, ein unheimlich netter Arzt mittleren Alters, war der Ortsverbandsvorsitzende und zugleich der Wortführer. Zu achtzig Prozent redete er allein. (In vielen Vereinen und Organisationen gibt es solche Leute: Alle sind froh, dass einer den Job macht, und ertragen geduldig seine Ego-Trips.) Die anderen drei waren Studenten: Ein Soziologiestudent, der früher bei den Grünen war, ein Physikstudent, früher SPD, und ein Dritter, dem man nicht viel entlocken konnte (der war vom BND, behaupteten meine Freunde später). Der Vorsitzende war früher ein langjähriger FDP-Sympathisant, aber ihn störte deren Wirtschaftsliberalismus. Erstes Thema waren die anstehenden Kommunalwahlen. “Willst Du nicht kandidieren?”, fragten sie mich frei heraus. Meine Nicht-Mitgliedschaft sei kein Problem, sagten sie. Der Vorsitzende hatte nämlich keine Lust mehr anzutreten, für zwei der drei Bielefelder Wahlkreise waren der Soziologe und der Physiker gesetzt, der dritte war noch frei. “Keine Sorge, du wirst schon nicht gewählt”, meinten sie noch augenzwinkernd. Vor vier Jahren gewann die Partei gerade mal 0,5 Prozent. Mir ging das aber alles viel zu schnell, ich lehnte ab.
Vor dem nächsten Treffen las ich die Parteizeitung “Ökologie Politik”, die mir nun regelmäßig zugeschickt wurde. Vom bahnbrechenden Konzept einer “ökologischen Steuerreform” aus der Feder eines Wirtschaftsprofessors war da die Rede, das die ÖDP in ihr Programm aufgenommen hatte. Wesentliche Teile der Grünen redeten da noch vom Ökosozialismus. Mir gefiel die ODP immer besser. Beim nächsten Ortsgruppentreff erschien aber überraschend ein weiterer Interessent. Ein junger “Arzt im Praktikum”, der früher mal bei der CDU war und nun sein Herz für die Ökologie entdeckt hatte. Ganz direkt fragte er, ob er nicht als ÖDP-Kandidat zur Kommunalwahl antreten könne. Freimütig gab er als Hobby Motorsport an und stellte logistische Hilfe im Wahlkampf in Aussicht, da er ein Auto habe (einen roten Porsche, wie sich später herausstellen sollte). Mit ökologischen Bauchschmerzen nominierte ihn die Versammlung mangels Alternative.
Unterschriften sammeln
Die nächste Hürde waren die zweihundert (oder waren es dreihundert?) Unterstützungsunterschriften, damit die Partei überhaupt antreten durfte. Das war meine erste große Bewährungsprobe, denn vierzig davon sollte ich besorgen, jeweils mit Namen und Adresse des “Unterstützers”. War das ein Kraftakt! Meine Studienfreunde, die sich außerordentlich über mein Engagement für diese “Splittergruppe” lustig machten, konnte ich gerade noch breitschlagen, aber dann musste ich durch die Uni ziehen und Leute ansprechen. Es war frustrierend! So etliche ließen sich lang und breit von mir über den Sinn der Unterstützungsunterschriften und die Programmatik der ihnen unbekannten Partei informieren, um sich dann am Ende die Sache lieber doch noch einmal überlegen zu wollen. Als Student hatte man noch viel Zeit – na ja, eigentlich nicht, man musste ja ständig lernen. Aber so hatte ich eine Ausrede, denn es diente ja dem Umweltschutz. Nachdem ich meinen Kumpel Andreas in der Unihalle getroffen hatte und er nach zehn Minuten bereit war, sich mit Adresse in die Unterstützerliste einzutragen, kam ein Bekannter von ihm vorbei und meinte zu ihm: “Du unterschreibst aber auch wirklich jeden Scheiß!”
Selbst auf einer Party im Wohnheimkeller holte ich zu fortgeschrittener Stunde noch die Liste mit den Unterschriften raus. Eine Kommilitonin sagte mir, nachdem ich sie soweit hatte, sie könne mir auch noch den Namen und die Adresse ihres Ex-Freunds geben. Sie betonte dabei das Wort “Ex-Freund” auf sonderbare Weise und sah mich durchdringend an. “Aber nein, wenn er nicht hier ist und unterschreiben kann, dann nützt mir das doch nichts!”, gab ich zurück und zog weiter. Damals war ich noch Single, aber ich dachte wirklich an nichts anderes als an diese verfluchte Liste. Als ich auf dem nächsten Partei-Treffen stolz und erschöpft die vierzig Unterschriften präsentierte, erntete ich viel Lob. Die anderen hatten noch nicht so viele beisammen. Aber letztlich reichte es doch irgendwie.
Plakate aufhängen
Als nächstes galt es, die Plakate aufzuhängen, die von der Parteizentrale geschickt worden waren. Sehr gute Plakate waren das (siehe Abbildung), originell, aussagekräftig und ohne Kandidaten-Köpfe. Der Arzt mit dem Porsche bot sich gleich an, die halbe Stadt zu behängen, und ich sollte ihm dabei helfen. Alle waren froh und dankbar, denn in früheren Wahlkämpfen musste das Aufhängen der Plakate auf den schweren Holztafeln ohne Auto wohl eine ziemliche Plackerei gewesen sein. Der Porsche-Arzt war so geschickt beim Befestigen und Verdrahten der Holztafeln an den Laternenmasten, dass ich ihm eigentlich nur Gesellschaft zu leisten brauchte. Allerdings nahm kein Mensch von unseren Plakaten auch nur die geringste Notiz. Bis plötzlich ein Mann mit lauten “Hehe”- Rufen auf den Stapel ÖDP-Plakate auf der Rückbank des Porsches zeigte. So schien es mir jedenfalls. Ein ökologischer Bruder im Geiste? Nein, weit gefehlt. Nach einigen Augenblicken wurde mir klar, dass es ihm in Wahrheit um den roten Porsche ging. Etliche Minuten lang fachsimpelte er mit dem Porsche-Arzt über allerhand technische Details des Pracht-Schlittens.
Handzettel verteilen
Sodann waren die Hand-Zettel, die der Soziologie-Student entworfen und vervielfältigt hatte, in der Fußgängerzone zu verteilen. Da stand ich nun am Info-Stand und musste mir die hämischen Bemerkungen der SPD- und CDU-Kollegen von den Nachbarständen anhören: “Steigert ihr mal erst euren Stimmenanteil, sonst wird das nie was mit einer Koalition!” Ein niedliches Punk-Mädchen verwickelte mich in eine längere Diskussion über das angeblich reaktionäre Familienpolitik-Programm der ÖDP. Als ich ihren Vorwürfen widersprach, antwortete sie, sie wisse das ganz genau, weil es ihr einer erzählt hätte, der es ganz genau wüsste. Damals stand bei solchen Streitfällen noch Behauptung gegen Behauptung, weil noch niemand seinen Laptop oder sein I-Phone immer dabei hatte und schnell bei Wikipedia oder Google recherchierten konnte. Mir gaben die Vorwürfe des Mädchens aber dann doch zu denken. Tatsächlich war ja in der Parteizeitung auch viel von Familienpolitik die Rede gewesen. Das hatte ich aber nur überflogen, weil bei mir solche Themen unter “Gedöns” liefen. Die ÖDP forderte damals schon eine finanzielle staatliche Entschädigung für Erziehungsarbeit, also in etwa die heutige “Herdprämie” der CSU. Damals wusste ich noch nichts von Berlin-Neukölln und den wahrscheinlich fatalen Folgen solcher Konzepte.
Kandidatenvorstellung
Wenige Wochen vor dem Wahltag setzte der Ortsverband dann die offizielle Vorstellung seiner Kandidaten an: Die Öffentlichkeit war zur Parteiversammlung eingeladen, um sich ein Bild von den Kandidaten machen zu können. Das stand sogar in der Lokalzeitung. Ich meinte es nur gut, als ich zwei meiner Studienfreunde, die mich so oft wegen der ÖDP veralbert hatten, bat, doch einfach mal mitzukommen. Als ich mit ihnen eintrat, bemerkte ich, wie alle Parteifreunde zusammenzuckten. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass wirklich jemand kommen würde. Das war wohl in früheren Wahlkämpfen auch noch nicht vorgekommen. Der Porsche-Arzt präsentierte sich dennoch sehr eloquent, verstieg sich aber zu ziemlich verwegenen Forderungen wie der, künftig allen Rauchern den doppelten Krankenkassen-Beitrag abzuverlangen. Meine Freunde trieben ihn mit ihren Nachfragen, wie man das denn bitte umsetzen wolle, gehörig in die Enge, so dass der Porsche-Arzt immer drastischere Mittel zur Identifikation und Kontrolle der Raucher vorschlug. Nur gut, dachte ich, dass kein Raucher in der Runde anwesend ist. Der Physiker brachte sein Referat mehr schlecht als recht über die Bühne. Der Soziologe aber, der sich offensichtlich nicht vorbereitet hatte, las stockend die Forderungen auf seinem Handzettel vor und kam bei den Erläuterungen der Punkte immer wieder so ins Stottern, dass am Ende kaum jemand verstand, was er eigentlich wollte. Auf die spöttischen Nachfragen meiner Freunde hin rettete der Parteivorsitzende die Situation, indem er ganz allgemein die fruchtbare Diskussion zwischen Parteimitgliedern und engagierten Bürgern lobte. Auf dem Nachhauseweg konnten sich meine Freunde vor Lachen kaum einkriegen.
Bruch mit der Partei
Das Wahlergebnis war enttäuschend. Der Stimmenanteil sank trotz aller Bemühungen von 0,5 auf 0,3 Prozent. Einer meiner Freunde, der bei der Kandidatenvorstellung dabei war, verriet mir, dass er immerhin mit seiner Erststimme aus Mitleid ÖDP gewählt hatte. Tapfer besuchte ich aber von Zeit zu Zeit noch weiter als Nicht-Mitglied die Versammlungen und las die Partei-Zeitschrift, bis sich vor der Bundestagswahl 1998 Bündnis 90 / Die Grünen haargenau die ÖDP-Kernforderung einer ökologischen Steuerreform zu eigen machten und diese nach der Wahl auch umsetzten. Die ÖDP war in meinen Augen nun wirklich überflüssig. Außerdem waren inzwischen für mich auch andere Dinge wichtiger geworden als die Politik. Kurzerhand bestellte ich die Parteizeitung ab und ging nicht mehr zu den Versammlungen. Die ÖDP existiert noch heute und hat vor allem durch die Initiierung von Volksentscheiden, zuletzt in Bayern zum Nichtraucherschutz, auf sich aufmerksam gemacht. Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte sie 0,3% der Stimmen.