Hans Magnus Enzensberger entdeckt Gemeinsamkeiten zwischen Amokläufern und Terroristen
Thomas Claer
Auf den ersten Blick scheinen der Amok laufende Familienvater, der ein Blutbad anrichtende Schüler und der islamistische Selbstmordattentäter nicht viel gemeinsam zu haben. Zu unterschiedlich sind die Motive ihrer Schreckenstaten, zu verschieden auch ihre Vorgehensweise. Und doch entdeckt der Essayist hier einige frappierende Gemeinsamkeiten, die nicht nur dem Zufall geschuldet sein können: Bis auf wenige Ausnahmen (etwa die tschetschenischen “schwarzen Witwen”) sind sämtliche Täter männlichen Geschlechts und es handelt sich bei allen um radikale Verlierer – teilweise auch in den Augen ihrer Umgebung, immer aber in ihrer Selbsteinschätzung. Stets ist zumindest unterschwellig das Gefühl präsent, in der modernen Gesellschaft nicht oder nicht mehr mithalten zu können. Der Fortschritt produziert in großer Zahl Verlierer, das ist der Preis der Modernität.
Der Essayist, der so pointiert urteilt, heißt Hans Magnus Enzensberger und wurde an dieser Stelle bereits gewürdigt (Justament 4/2003). Mit seinen “Schreckens Männern” nimmt sich der Großintellektuelle in gewohnt souveräner Manier und mit der Chuzpe des originellen Dilettanten einmal mehr einer brisanten Problematik an. Größten Wert legt er darauf, unbedingt und immer auf der Höhe der Zeit zu sein. Schon in früheren Jahren hatte Enzensberger nur wenig übrig für “Intellektuelle, die vom Tuten und Blasen keine Ahnung haben”, und wagte sich ein ums andere Mal auch auf ungewohntes Terrain. Nicht immer mit Erfolg. So darf er sich bei den Aktionären des Eichborn-Verlags, den er 2000 an die Börse brachte, schon längst nicht mehr blicken lassen, denn seit vier Jahren dümpelt der Kurs des nunmehrigen “Penny-Stocks” bei gerade einmal einem Zehntel des Ausgabewertes vor sich hin. Enzensberger ficht das nicht an, denn schließlich habe er niemandem zu Investments geraten – anders als etwa ein bekannter TV-Serien-Anwalt und -Kommissar bei einem anderen Papier.
Was dem gelernten Lyriker indes von seinen Verächtern noch übler genommen wird, ist das “Islam-Bashing”, was er im aktuellen Essay betreibt. Doch erfolgt dies wohlbegründet. Eine Jahrhunderte lange Rückständigkeit in jeglicher Hinsicht, eine fatale Macho-Kultur, Analphabetismus, religiösen Fundamentalismus und Xenophobie sieht Enzensberger als Hauptursachen für den bestürzenden Niedergang des einst so mächtigen arabischen Raums. In den vergangenen tausend Jahren sind in allen arabischen Ländern zusammen gerade so viele Bücher aus anderen Sprachen übersetzt worden wie in Spanien allein im Jahr 2005. Dies alles, so Enzensberger, trägt dazu bei, dass sich die gesamte arabische Welt mit ihrer politischen Speerspitze, der islamischen Bewegung, zunehmend als Kollektiv von radikalen Verlierern begreift. Mit der gleichen Verzweiflung über das eigene Versagen, der gleichen Suche nach Sündenböcken, dem gleichen Realitätsverlust, dem gleichen Rachebedürfnis, dem gleichen Männlichkeitswahn, dem gleichen kompensatorischen Überlegenheitsgefühl, wie man sie ansonsten von Amokläufern kennt, trete hier ein Kollektiv der Gedemütigten auf. Dabei steht aber weniger die individuelle ökonomische Lage im Vordergrund (die ist bei den auch überdurchschnittlich gebildeten Al Quaida-Anhängern nämlich zumeist recht passabel), sondern der permanente Kulturschock durch die Konfrontation mit der liberalen und hedonistischen westlichen Zivilisation. Erneut legt Enzensberger einen klugen, bedenkenswerten Text vor, der direkt an die seinerzeit ebenso fabelhaften wie erhellenden “Aussichten auf den Bürgerkrieg” (1993) anknüpft.
Hans Magnus Enzensberger
Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer
Suhrkamp Verlag 2006
54 Seiten, 5,00 €
ISBN 3-518-06820-2