Udo Di Fabios Buch zur unvollendeten politischen Wende
Thomas Claer
Gerade rechtzeitig zur heißen Phase des Bundestagswahlkampfes erschienen Udo Di Fabios Gedanken zur geistig-moralischen Erneuerung Deutschlands, gemeint offensichtlich nicht nur als Analyse und kritische Bestandsaufnahme, sondern auch explizit als politische Kampfschrift. Darin gibt der brillante Verfassungsrichter, doppelt promovierte Rechts- und Sozialwissenschaftler und – wie dem Justament-Kolumnisten berichtet wurde – allseits beliebte Universitätsprofessor der Unions-Spitzenkandidatin wortgewaltige Unterstützung in dem Bestreben, eine neue deutsche Gründerzeit einzuleiten. Die zentrale These ziert bereits den Schutzumschlag: Der Westen (und insbesondere Deutschland) gerate in Gefahr, weil eine falsche Idee der Freiheit die Alltagsvernunft zerstöre. Richtig hingegen, so breitet der Autor im Inneren des Buches aus, wäre eine konservative Korrektur vieler übertriebener Auswüchse des Liberalismus, um die freiheitliche Substanz unserer gesellschaft erhalten zu können, anders gesagt: um die Freiheit vor ihren selbstzerstörerischen Kräften zu schützen. Ähnliches wurde schon in der Kohl-Ära von renommierten konservativen Vordenkern wie Günter Rohrmoser vorgebracht. Seither haben sich manche Krisensymptome noch verschärft. Vieles, was Di Fabio beklagt, ist bedenkenswert, seine Einsprüche oft plausibel: Wenn etwa “gute Sitten” schwänden, wachse “die regulative Macht moralisierender Bürokratien”. Nur schwache Gesellschaften, befindet der Autor, regulierten ihre Konflikte in so hohem Maße über ihre Institutionen. Dort hingegen, wo jeder wisse, “was sich gehört”, brauche es keinen omnipräsenten Staat, der individuelle Freiheiten beschneide. Andererseits gehöre aber ein völlig aus dem Ruder gelaufener Individualismus zurückgefahren zugunsten eines stärkeren Gemeinschaftssinnes.
Die Crux liegt in dem, was schon Horkheimer und Adorno als “Dialektik der Aufklärung” diagnostizierten. Mitunter wird aus Wohltat Plage, gerade auch bei den Resultaten von Emanzipationsbewegungen. Was aber wäre die Alternative zur atomisierten Gesellschaft, die einem Michel Houellebecq den Stoff für seine traurig-destruktiven Romane liefert? Bei Di Fabio ist die Sache klar: Ehe und Familie statt Singledasein, viele Kinder statt Selbstverwirklichung, Religion statt Identitätskrisen, Anerkennung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern statt verbiestertem Feminismus. Und all das sollte als Leitbild dem Einzelnen den rechten Weg weisen – so wie, der Autor hat keine Scheu, es auszusprechen, damals in den Fünfzigern, als alle die Ärmel hochkrempelten und die Welt noch in Ordnung war. Global betrachtet liegt Di Fabio damit voll im Trend: Die Religion verdrängt den Atheismus allerorten, in weltweit konsumierten Rap-Videos dienen sich unterwürfige Mädchen den machohaften Obermackern an und auch in Deutschland haben die Tugenden der Großelterngeneration längst wieder Hochkonjunktur. Glaubt man der These des SZ-Feuilletonisten Willi Winkler, dass wir kulturell längst wieder in den Fünfzigern leben, dann werden hier offene Türen eingerannt. Und in seiner fundamentalen Auseinandersetzung mit den Achtundsechzigern kämpft der Autor wohl auch nur noch gegen Windmühlen.
Seine stärksten Momente hat das Buch im kritischen Hinterfragen allgemein für selbstverständlich gehaltener Grundsätze wie des Universalismus der Menschenrechte. Dort ist Di Fabio ganz der skeptische Luhmann-Schüler mit dem kalten analytischen Blick, der ihm allerdings in den propagandistischen Passagen mitunter abhanden kommt.
Udo Di Fabio
Die Kultur der Freiheit
C. H. Beck verlag München 2005
295 Seiten, € 19,90
ISBN: 3-406-53745-6