Altmeister Erhard Eppler wirft sich für den Staat in die Bresche
Thomas Claer
Es liegt schon etwas Ironisches darin, dass ausgerechnet ein Vordenker der deutschen Sozialdemokratie so leidenschaftlich für den Erhalt des Staates plädiert, wie es Erhard Eppler (Jahrgang 1926) in dieser Veröffentlichung tut. Erinnern wir uns: Nach Marx ist der Staat ein Unterdrückungsinstrument der jeweils herrschenden Klasse. Im Endkommunismus sollte er dann eines Tages nicht mehr nötig sein (“Er stirbt ab.”). Lange konnten sich solches selbst erklärte Parteigänger der kommunistischen Bewegung nicht recht vorstellen: Für Brecht hieß den Staat abschaffen wollen so viel wie “das Scheißen abschaffen wollen”. In jüngster Zeit ist hier aber offensichtlich etwas in Bewegung geraten.
Zum einen gibt es inzwischen – wie in Somalia, Liberia oder Sierra Leone – die kollabierten Staaten, in denen es, nach Jahrhunderten relativer Stabilität praktisch keinerlei funktionierende Staatsorganisation mehr gibt. Diesem Extrem nähert sich eine beträchtliche Zahl anderer Staaten bedrohlich an, in denen weite Gebiete von selbsternannten Warlords kontrolliert werden und die Staatsgewalt nur noch wenig zu melden hat. Als Staatsverfall in diesem Sinne lassen sich auch die von organisierter Kriminalität und Bandenkämpfen bestimmten Strukturen am Rande von Megastädten wie Rio oder Sao Paulo interpretieren. Zum anderen verstärkt sich in den reicheren Ländern zunehmend die Tendenz zur Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Die Staatskassen sind leer, die Effektivität der öffentlichen Träger gering. Da werden womöglich früher oder später auch Polizei und Armee in die freie Wirtschaft entlassen und nur noch denen ihre Dienste anbieten, die sie dafür gesondert bezahlen. Wer alle Szenarien zusammen denkt, wird erschrecken: Effizienter als der status quo wäre es gewiss, den aufgeblähten Staatsapparat mit seiner Beamtenschar einfach abzuschaffen, die Sicherheit auf private Sheriffs zu übertragen und die Millionen Alimentierten für sich selber sorgen zu lassen.
Gefahren dieser Art sieht Erhard Eppler am Horizont aufziehen und ruft seinen Lesern, hier eher mit Hobbes als mit Marx argumentierend, die grundsätzlich soziale Funktion des Staates als Beschützer der Schwachen in Erinnerung. Auch die Lieblingsutopie der westdeutschen Nachkriegsintellektuellen, den Bundesstaat Europa, beurteilt Eppler eher skeptisch. Zumindest für die nächsten hundert Jahre kann er zum Nationalstaat in seiner jetzigen Gestalt keine wünschenswerte Alternative erkennen. Einen weiteren Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hält er bis auf weiteres für ausgeschlossen.
Was aber ist zu tun, um die Einrichtung Staat mitsamt ihren Segnungen auch künftig am Leben zu erhalten? Dem reichen Norden empfiehlt Eppler eine Stärkung seiner staatlichen Institutionen, mahnt insbesondere eine bessere Bezahlung und Ausrüstung der Polizei an und geißelt die sozialen Sprengstoff in sich bergenden exorbitanten Managergehälter. Den Staatsverfall in den ärmeren Gebieten rät Eppler durch gezielte UN-Interventionen zu stoppen, hält aber den darüber jeweils entscheidenden UN-Sicherheitsrat für allzu befangen in Großmachtinteressen. Daher plädiert er für die Einrichtung eines rein beratenden Gremiums aus “elder statesmen” und erfahrenen Juristen, das entsprechende Empfehlungen ausarbeiten und publizieren würde. Man sollte in einen solchen Ältestenrat, falls er tatsächlich einmal zustande kommt, unbedingt den früheren Vorsitzenden der SPD-Grundwertekommission, Erhard Eppler, berufen.
Erhard Eppler
Auslaufmodell Staat?
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005
230 Seiten
EUR 9,00
ISBN: 3-518-12462-5