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justament.de, 17.2.2025: Der grollende Osten (2)

“Lütten Klein” von Steffen Mau ist eins der wichtigsten Bücher über die Transformation in der Ex-DDR

Thomas Claer

Wer das jüngst an dieser Stelle hinreichend gewürdigte “Ungleich vereint” gelesen hat, ist selbstverständlich auch neugierig auf Steffen Maus bereits 2019 erschienenes Vorgängerbuch “Lütten Klein”. Dieses ebenfalls vieldiskutierte Werk nimmt den großen Umbruch im Osten am Beispiel des titelgebenden Rostocker Plattenbauviertels unter die Lupe, in welchem der Verfasser zu DDR-Zeiten aufgewachsen ist. Und “Lütten Klein” ist noch weitaus detaillierter und tiefschürfender als sein Nachfolger, vor allem aber – obwohl schon vor sechs Jahren geschrieben – gerade wieder bestürzend aktuell. Seinerzeit war noch nicht abzusehen, dass die weitgehend rechtsextreme AfD in mehreren östlichen Bundesländern zur stärksten oder beinahe stärksten politischen Kraft werden würde und diese Länder – auch durch die Erfolge des rechtslinkspopulistischen BSW – an den Rand der Unregierbarkeit gebracht werden könnten. Wer aber die Analysen von Steffen Mau studiert hat, den können diese verhängnisvollen politischen Entwicklungen keineswegs überraschen…

Aus westlicher Sicht sind die Bewohner des Ostens vor allem undankbar. Unzählige Millionen aus sauer verdienten westlichen Steuergeldern wurden in den Osten gepumpt, um dort vernünftige Strukturen aufzubauen und die nicht wettbewerbsfähigen Neubürger zu alimentieren. So weich wie in den neuen Bundesländern in die nun gesamtdeutschen Sozialsysteme ist wohl niemand im früheren Ostblock gefallen. Doch statt dafür auch nur einmal danke zu sagen, maulen und nörgeln diese Ossis in einem fort, beschweren sich über die Arroganz der “Besserwessis” und wählen nun sogar extremistische Parteien.

Aus östlicher Sicht betrachtet ergibt sich jedoch ein vollkommen anderes Bild. Eine ganze Generation wurde aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen, von heute auf morgen in die Arbeitslosigkeit entlassen und zu Bürgern zweiter Klasse im wiedervereinigten Land degradiert. Alles, was diese Menschen in ihrem bisherigen Leben gelernt und geleistet hatten, war nun nicht mehr gefragt. Nur ein kleiner Teil der Ostdeutschen, der mobil und flexibel war, konnte sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren. Viele aber wurden nun nicht mehr gebraucht und in zumeist unsinnigen Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen geparkt und ruhiggestellt, schließlich in den Vorruhestand abgeschoben. Für die Betreffenden, in deren Lebensmittelpunkt bis dahin ihre Berufstätigkeit gestanden hatte, war damit eine Welt zusammengebrochen und ihr Leben zerstört.

Natürlich musste damals angesichts der völlig überraschenden deutschen Wiedervereinigung alles ganz schnell gehen. Wichtige Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft wurden daher nach der Wende im Osten fast ausschließlich mit Westimporten neu besetzt. Dies war zweifellos viel effektiver, als erst noch umständlich Einheimische für die jeweiligen Jobs auszubilden. Im Eifer des Gefechts hatte allerdings niemand daran gedacht, was es mit den Menschen einer Region macht, wenn dort plötzlich nur noch Zugewanderte den Ton angeben, wenn beinahe sämliche Führungspositionen von Zugezogenen bekleidet und die Alteingesessenen auf die Straße gesetzt werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Osten vor der Wende eine reine Angestellten-Gesellschaft gewesen ist. Freies Unternehmertum gab es nur vereinzelt im Kleinstsegment. Fast niemand verfügte über größere Ersparnisse oder gar über Immobilien-Eigentum. (Und falls doch, dann waren es zumeist Häuser in ländlichen und zunehmend entvölkerten Regionen, die sich nach der Wende als unverkäuflich erwiesen.) Sehr drastisch schildert Steffen Mau, welcher Orkan der Zerstörung bestehender Strukturen in den Transformationsjahren über Ostdeutschland hinweggefegt ist. Die neu eingezogene Freiheit und Marktwirtschaft traf auf eine Population, die nicht im Geringsten darauf vorbereitet war und damit größtenteils überhaupt nicht umgehen konnte.

In Lütten Klein, dem einstigen Vorzeige-Wohngebiet der Ostsee-Metropole, dessen Bewohner zu DDR-Zeiten noch stolz darauf waren, eine der damals heiß begehrten Neubauwohnungen ergattert zu haben, war der Absturz sogar noch drastischer, denn nun hieß es plötzlich: “Man wohnt nicht mehr in der Platte”. Wer etwas auf sich hielt, suchte schnell das Weite, und übrig blieben dort bald nur noch die Abgehängten und Genügsamen.

Das Ergebnis aus all diesen jahrelangen Frustrationen lässt sich mittlerweile an den ostdeutschen Wahlergebnissen ablesen. Die Menschen im Osten sind bockig, missmutig, ressentimentgetrieben gegen alles Westliche. Sie behandeln migranische Neuankömmlinge so schlecht, wie sie selbst sich mehr als drei Jahrzehnte lang von den Westdeutschen behandelt fühlten. Sie flüchten sich aus der Wirklichkeit des Fachkräftemangels in Fantasiewelten nationaler Autarkie. Doch geht die Schere überall im Osten weiter auseinander zwischen den vielen Kleinstädten und ländlichen Gebieten auf der einen Seite, die abgehängt und in fremdenfeindlicher Selbstabschottung immer tiefer in den Abwärtsstrudel geraten, und den wenigen längst wieder aufstrebenden Großstädten auf der anderen Seite, die dank Ansiedlung von Migranten wieder wachsen und mit neu entstandenen Jobs und noch vergleichsweise günstigem Wohnraum mittlerweile so mancher West-Stadt den Rang ablaufen.

Sehr lebendig und untermalt mit vielen O-Tönen aus zu Recherchezwecken selbst geführten Interviews mit den Bewohnern schildert Steffen Mau den Werdegang “seines” Viertels in Vor- und Nachwendezeit. Trotz einiger soziologischer Fachtermini ist das Buch flüssig geschrieben und liest sich durchweg unterhaltsam. Hinzu kommt eine Vielzahl an einschlägigen Zahlen und Diagrammen, die das Werk zu einer wahren Fundgrube machen. Nur eins liefert der Autor in diesem Buch leider nicht (und in seinem besagten späteren Buch “Ungleich vereint” dann auch nur ansatzweise): Rezepte für Auswege aus der beschriebenen Malaise. Und den Leser beschleicht die düstere Ahnung, dass der ostdeutschen “Generation Wiedervereinigung” wohl nicht mehr zu helfen ist. Stattdessen muss es jetzt darauf ankommen, die von den Erzählungen ihrer Eltern kontaminierten ostdeutschen Nachwendegenerationen “abzuholen” und “mitzunehmen”, was nach Erkenntnissen der soziologischen Forschung am besten durch Studienaufenthalte der jungen Ostler in Westdeutschland gelingt, aber auch durch den Kontakt mit aus dem Westen zugezogenen Studierenden an ostdeutschen Universitäten. Je mehr Austausch zwischen den jungen Generationen in Ost und West, desto besser. Und je mehr weitere trübsinnige Abschottung der östlichen Frustrations-Kollektive, desto schlimmer.

Steffen Mau
Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Suhrkamp Verlag 2019
285 Seiten; 22,00 Euro
ISBN: 978-3-518-47092-3

justament.de, 27.1.2025: Der grollende Osten (1)

Steffen Mau liefert mit “Ungleich vereint” die präziseste Analyse des “Problemfelds Ost”

Thomas Claer

Da gibt es eine Gegend, die zu den wohlhabendsten Regionen Europas zählt, doch ihre Bewohner sind voller Groll, denn ihren weiter westlich lebenden Landsleuten geht es noch ein Stück weit besser als ihnen, und das nicht immer einfache Zusammenwachsen mit jenen hat bei ihnen schwere Traumata zurückgelassen, die sie offenbar auch schon an die nächste Generation witergegeben haben. Mehrere vieldiskutierte Bücher über die schwierige deutsche Einheit und den zumindest in seiner Selbstwahrnehmung noch immer problembeladenen Osten sind in den letzten Jahren erschienen. Selbstverständlich wurden sie alle – ohne Ausnahme! – von aus Ostdeutschland stammenden Autorinnen und Autoren verfasst. Denn warum sollten Westdeutsche sich mit Problemfeldern auseinandersetzen, die in ihren Augen überhaupt nicht existieren, die sie zumindest nicht als solche zu erkennen vermögen?

Die besagten Bücher wenden sich entweder gegen die Arroganz des Westens gegenüber dem Osten (Dirk Oschmann) oder gegen die Ignoranz des Ostens gegenüber der Demokratie (Ilko-Sascha Kowalczuk), oder sie erzählen die Geschichte der untergegangenen DDR noch einmal ganz anders und stark beschönigend (Katja Hoyer). Und dann ist da auch noch der aus Rostock stammende Berliner Soziologie-Professor Steffen Mau (geb. 1968), der in seinem schmalen Bändchen namens “Ungleich vereint” unaufgeregt und ausgewogen, pointiert, aber nie polemisch all das analysiert und auf den Punkt bringt, was sich in gut drei Jahrzehnten (plus DDR-Vorgeschichte) in den noch immer so genannten Neuen Bundesländern so zusammengebraut hat.

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses kleine Büchlein sollte unbedingt jeder gelesen haben, der ein Interesse an der Ost-Thematik mitbringt, der im Osten wohnt oder mit dem Osten und seinen Bewohnern zu tun hat. Steffen Maus zentrale These lautet: Der Osten ist in vieler Hinsicht anders als der Westen – und er wird es auch weiterhin bleiben. Damit ist zugleich gesagt, dass diese kleine Studie vermutlich noch für Jahrzehnte relevant sein wird! Die Anschaffung und Lektüre dieses Buches dürfte sich also mit großer Sicherheit voll armortisieren…

Das Buch richtet sich sowohl an Ostdeutsche, die sich über ihre Besonderheiten und ihren einheitsbedingten psychischen Knax klarwerden wollen, als auch an Westdeutsche, die wissen wollen, warum ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern aus ihrer Sicht so seltsam sind. (“Ich möchte das Thema Ostdeutschland aus der dünkelhaften und selbstgewissen Ecke herausholen, in Ost wie in West.”, S.9) Es geht los mit dem unerwarteten Befund der Verfestigung bestehender Ost-West-Unterschiede, die man lange Zeit als nur vorübergehend angesehen hatte. Konkret wird sodann die “ausgebremste Demokratisierung” des Ostens unter die Lupe genommen. Wie konnte es passieren, dass die demokratischen Institutionen und Parteien auch nach über 30 Jahren im Osten noch alles andere als fest verwurzelt sind? Sehr aufschlussreich ist vor allem das Kapitel “Kein 1968”. Darin wird einerseits deutlich, wie tiefgreifend Westdeutschland von der anti-autoritären Generationenrevolte “von unten” seit den späten Sechzigern geprägt wurde und wie stark seine heutige hohe demokratische Kultur damit zusammenhängt. Genau dies fehlt aber andererseits dem Osten, denn es mangelt ihm an jeglichen Voraussetzungen für vergleichbare Generationen-Protestbewegungen. (“Die Älteren saßen nicht saturiert in ihren Wohn- und Amtsstuben, sondern standen oft genug in der Schlange des Arbeitsamts.”, S.64)

Die zweite Hälfte des Buches widmet sich dann ganz überwiegend der sich stattdessen vor unseren Augen im Osten abspielenden autoritären Revolte von rechtsaußen. Sehr treffend bemüht Steffen Mau hier den aus dem Versicherungswesen stammenden Begriff des “Allmählichkeitsschadens”. Mit der Zeit, angefangen von den “Baseballschlägerjahren” in den Neunzigern und ihren rechtsradikalen Vorläufern in der späten DDR über den Einzug von Neonazi-Kadern aus dem Westen in den Osten bis hin zum heutigen verstärkten Aufgreifen von Ost-Befindlichkeiten durch die AfD, hat sich über die Jahre eine trübe Melange aus Ost-Trotz, Ressentiment und Hetze so ausgebreitet, dass sie nun die Grundpfeiler von Demokratie und Rechtsstaatslichkeit anzugreifen droht. Immerhin, die gute Nachricht ist, dass die AfD im Westen (und damit auch auf Bundesebene) ihr Stimmenpotential mit 20 Prozent plus x sehr wahrscheinlich schon weitgehend ausgereizt hat. Im Osten allerdings könnte sie angesichts der dort vor allem im kleinstädtischen und ländlichen Raum stark verbreiteten antidemokratischen Misstrauenskultur sogar noch weiter wachsen. (Und gerade jene Orte, die infolge starken Einwohnerrückgangs besonders auf Zuwanderung angewiesen wären, drohen durch ihre fremdenfeindliche Abschottung in eine fatale Abwärtsspirale zu geraten.) Um so wichtiger ist es insofern, dass die vielzitierte Brandmauer nach rechtsaußen unbedingt weiter halten muss. Aber das ist leichter gesagt als umgesetzt, wenn wir es vielerorts im Osten bereits mit einer massiv “angebräunten Zivilgesellschaft” zu tun haben.

Na gut, der Rechtspopulismus und -extremismus ist derzeit leider weltweit enorm auf dem Vormarsch, weshalb womöglich gar nicht das dafür stark anfällige Ostdeutschland, sondern vielmehr das dafür kaum anfällige Westdeutschland die Besonderheit darstellt. Doch habe, so Mau, der Rechtsruck im Osten andere, nämlich eigene Ursachen. Dazu zählt z.B. auch der wahrhaft schockierende Umstand, dass unsere (allesamt im Westen erscheinenden) gehobenen Qualitätszeitungen von FAZ und Süddeutscher Zeitung bis zu SPIEGEL und ZEIT im Osten schlichtweg kaum gelesen werden. Nur zwei bis fünf Prozent ihrer Abonnenten leben in den Neuen Bundesländern! Stattdessen liest man im Osten offenbar lieber das Desinformations-Organ Berliner Zeitung oder informiert sich in den verhetzten Sozialen Netzwerken. Da muss man sich natürlich nicht wundern…

Als möglichen Ausweg aus der Misere empfiehlt Mau abschließend zur Ergänzung zum als elitär und abgehobenen wahrgenommenen Parlamentsbetrieb den forcierten Einsatz von Bürgerräten. Vielleicht würde es ja helfen.

Steffen Mau
Ungleich vereint
Suhrkamp Verlag, 2024
168 Seiten; 18,00 Euro
ISBN: 978-3-518-02989-3