justament.de, 22.4.2024: Mr. Menschenwürde
Immanuel Kant zum 300. Geburtstag
Thomas Claer
Wohl kein anderer Philosoph verkörpert so unmittelbar den Geist unseres Grundgesetzes. Was in Art. 1 als Grundlage unserer Rechtsordnung postuliert wird, ihre Bindung an die unantastbare Menschenwürde, geht direkt auf den großen Aufklärer Immanuel Kant (1724-1804) zurück. Das Individuum ist demnach gleichsam heilig und darf niemals zum bloßen Mittel zur Erreichung übergeordneter Zwecke degradiert werden. Anders gesagt: Ein Staat soll in erster Linie für seine Bürger dasein und nicht umgekehrt. Dies ist eine fundamentale Richtungsentscheidung, die unser Gemeinwesen elementar von Autokratien unterscheidet, in denen ein Menschenleben keinlerlei Bedeutung hat.
Wie kann es dann aber sein, dass ausgerechnet der russische Gewaltherrscher Wladimir Putin einmal bekräftigt hat, dass er den Königsberger Philosophen schätze? Jener Putin, der seine Untertanen in geistiger Unmündigkeit und wirtschaftlicher Armut hält. Der alle, die nicht nach seiner Pfeife tanzen, ermorden oder ins Lager sperren lässt. Der in seiner nun schon mehr als zwei Jahre währenden “Spezialoperation” hunderttausendfach junge Menschen in den Tod geschickt hat, nur um seinem “Imperium” (dem bereits größten Flächenstaat der Erde) noch ein paar weitere Quadratkilometer Land einzuverleiben und dabei sein Nachbarvolk auszulöschen (das es ja angeblich gar nicht gibt). Man kann es sich wohl nur so erklären, dass Kant für Putin sehr nützlich ist, um dem Westen immer wieder dessen eigene Widersprüchlichkeit vor Augen zu führen. Indem er z.B. Flüchtlinge aus Elendsgebieten in großer Zahl anlockt und versucht, sie in die Europäische Union zu schleusen, damit diese dort zur Überlastung der Aufnahmesysteme beitragen und innere Zwietracht säen sollen, um so letztlich russlandfreundlichen Populistenparteien Zulauf zu verschaffen. Gleichzeitig will er dadurch den Westen zur Inhumanität gegenüber den Flüchtlingen zwingen, zum Verrat an den eigenen Prinzipien, zur Doppelmoral. Der Kantische Universalismus ist nämlich dann nicht mehr aufrecht zu erhalten, wenn – zugespitzt formuliert – die ganze Welt ihn gleichzeitig am selben Ort einfordert. Natürlich geht Putins teuflischer Plan nur solange auf, wie in seinem Land (und bei seinem Freund Lukaschenko) weiterhin so viel Mangel herrscht, dass niemand von den Flüchtenden auf die Idee käme, sich dort ansiedeln zu wollen…
Zurück zu Kant. Nicht nur für unsere Verfassung hat er Pate gestanden, sondern auch für große Teile des Völkerrechts und nicht zuletzt für die Charta der Vereinten Nationen. Die internationale Friedensordnung hat er in seinen Schriften ebenso antizipiert wie die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit, die Unterscheidung von Recht und Moral. Solange zumindest das Kant-Denkmal in Kaliningrad noch steht, gibt es nach wie vor Hoffnung, dass das Licht der Aufklärung eines Tages auch wieder in Russland aufscheinen wird.
Justament Juni 2006: Entzauberung einer Unantastbaren
Weit ausholend hinterfragt Franz Josef Wetz die Menschenwürde
Thomas Claer
In der Wirklichkeit ist die Würde eines Menschen, wie jeder weiß, alles andere als “unantastbar”. Kaum jemand wird von sich behaupten können, nicht schon einmal einer – zumindest subjektiv – als würdelos oder unwürdig empfundenen Behandlung ausgesetzt gewesen zu sein. Ironischerweise dürfte dies ganz besonders für einen Großteil der angehenden deutschen Juristen gelten, welcher Jahre seines Lebens in der nicht gänzlich unbegründeten Angst verbringt, am Ende einer langjährigen Ausbildung gleichsam mit leeren Händen und vor der Welt als Versager dazustehen. Und da bislang auch niemandem eine wirklich überzeugende und universelle Objektivierung der Menschenwürde gelungen ist, wurde und wird sie munter als “bloße Phrase”, “schöne Floskel”, und “leere Worthülse”, als “Präambellyrik und “Fassadenornamentik” diffamiert oder gar belächelt. Dieser Problematik hat der Ethikprofessor Franz Josef Wetz nun ein umfassendes Buch gewidmet, das – auf einer früheren Veröffentlichung des Verfassers basierend – neben den ausführlich dargestellten ideengeschichtlichen Hintergründen, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der strafrechtlichen Frage der Würde des Verbrechers auch die aktuellen Diskurse zu den Auswirkungen der Globalisierung auf das Konzept der Menschenwürde behandelt. Das fast 400 Seiten starke Werk ist klar strukturiert und – erkennbar auch an den interessierten Laien gerichtet – durchweg gut lesbar geraten. Das Personenregister liest sich wie ein Who’s who der abendländischen Geistesgeschichte, wobei die “üblichen Verdächtigen”, Kant, Hegel und Nietzsche, in der Anzahl ihrer Erwähnungen noch von einem übertroffen werden, dessen Personeneigenschaft der versierte Jurist wohl in Zweifel ziehen wird: von GOTT, dem Schöpfer der Welt. Das geschieht nicht zufällig, denn widerspruchsfrei lässt sich die Menschenwürde als eine Würde, die allen Menschen kraft ihres Menschseins zukommt, wie der Verfasser feststellt, nur religiös begründen. Ihre vernunfttheoretischen Ableitungen hingegen entlarvt er als bloße begriffliche Säkularisierungen ursprünglich religiöser Deutungsmuster. Der Autor erweist sich letztlich als Realist, indem er dem Menschen keine Würde “an sich” zuspricht. Doch könnten die Menschen dann Würde erlangen, wenn sie sich gegenseitig als Menschen achteten und anerkennten.
Franz Josef Wetz
Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts
Klett Cotta Verlag, 2005
396 Seiten
€ 22,00
ISBN: 3-608-94122-3
