Tag Archives: Hans Magnus Enzensberger

justament.de, 28.11.2022: Der letzte Großintellektuelle?

Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger (1929-2022)

Thomas Claer

Seine literarische Lieblingsfigur, so hat Hans Magnus Enzensberger einmal gesagt, sei immer der „Fliegende Robert“ aus dem „Struwwelpeter“ gewesen, der sich trotz aller Warnungen und Ermahnungen so gerne hinaus ins stürmische Ungewisse begeben hat und genussvoll in ihm treiben ließ: „Wo der Wind ihn hingetragen? Nein, das weiß kein Mensch zu sagen.“ Mit ganz ähnlicher Leichtigkeit hat sich dieser gelernte Lyriker, der schon in relativ jungen Jahren zum intellektuellen Superstar avancierte, durch die Winde des Zeitgeistes bewegt, sich mal hierhin, mal dorthin treiben lassen, immer seiner Maxime verpflichtet: „Du sollst nicht langweilen!“. Auch wenn sich seine Standpunkte und Haltungen des Öfteren verändert haben, an Originalität und an der spielerischen Lust zur polemischen Zuspitzung hat es ihm nie gemangelt, ebenso wenig an selbstbewusstem Stolz bei der Verwaltung seines Ruhms. Es gab eine Zeit, in den Jahren nach der Wiedervereinigung, da erreichte der SPIEGEL seine höchsten Verkaufszahlen stets dann, wenn er mit einem Enzensberger-Essay zu aktuellen Zeitgeistfragen erschien. Und Enzensberger ließ sich seine Popularität auch gehörig versilbern, feilschte bei jedem neuen Text mit den SPIEGEL-Verantwortlichen um ein noch fürstlicheres Honorar. (Das weiß ich aus sicherer Quelle, die allerdings ihrerseits nicht mehr am Leben ist.)

Sein Lieblingsgenre neben der Versdichtung war der freie Essay, der „Nomade im Regal“, der schon deshalb seine bevorzugte Form war, weil er sich darin – von keinerlei Regelwerk gestört – nach Herzenslust und Laune austoben konnte. Während sein Schriftstellerkollege Thomas Bernhard einmal verzweifelt beklagte, niemals habe er in seinen Schriften das ausdrücken können, was er wirklich sagen wollte, fand der stets fröhlich-heitere Enzensberger, es sei doch prima, wenn man am Anfang eines Textes noch nicht wisse, wohin er sich letztlich entwickeln werde. Schließlich sei es langweilig, wenn das Ergebnis schon von vornherein feststünde, dann sei es doch kein „Essai“, also Versuch, mehr, und es mache ihm sogar riesigen Spaß, sich immer wieder von sich selbst überraschen zu lassen.

Über die Schriftstellerei hinaus war Enzensberger, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sehr erfolgreich als Schwarzmarkthändler tätig gewesen sein soll, auch eine Art Projektmacher. Mehre Zeitschriften brachte er heraus, allen voran das berühmte „Kursbuch“, aber auch die „Andere Bibliothek“, die vergessene und verschollene literarische Schätze vergangener Epochen in Prachtausgaben neu erscheinen ließ und ihnen mit dem Nachdruck des eigenen Renommees zu Aufmerksamkeit verhalf. Kurzum, Enzensberger ist eine Institution in unserer geistigen Landschaft gewesen. Aber war er wirklich der letzte Großintellektuelle aus der Weltkriegsgeneration, der nun 93-jährig ins Gras gebissen und damit auch einen Schlussstrich unter die Ära der Nachkriegszeit gezogen hat? Nein, nicht ganz, denn der Allerletzte war er nicht. Noch leben schließlich Großphilosoph Jürgen Habermas (93) und Großschriftsteller Martin Walser (95), wobei letzterer Umstand die schöne Pointe mit sich bringt, dass ausgerechnet Walser mit seinen Trinkgewohnheiten (von denen zu berichten Marcel Reich-Ranicki einmal die Indiskretion hatte) nunmehr alle Autorenkollegen seiner Generation überlebt hat…

Aber zurück zu Enzensberger. Von ihm bleiben werden nicht zuletzt einige wunderbare Zitate wie dieses: „Heiterkeit ist eine moralische Frage. Mürrische Leute, die andere mit ihren Problemen behelligen, die halte ich für rücksichtslos.“ Oder dieses: „Wer ist überhaupt dieser Herr Konrad Duden? Irgendein Sesselfurzer!“ Man sollte noch betonen, dass mit Hans Magnus Enzensberger auch einer der witzigsten Intellektuellen deutscher Sprache von der Bühne gegangen ist.

Justament Sept. 2003: Jammern verdirbt den Stil!

Gesammelte Essays von Hans Magnus Enzensberger

Thomas Claer

Enzensberger CoverDer Erfinder des Essays, jener bis heute nur undeutlich bestimmbaren literarischen Gattung, die von allem und nichts handeln kann und in den Bibliotheken mangels präziser Kategorisierbarkeit ein Nomadendasein fristet, war ein Jurist. Vor allem legte Michel de Montaigne (1533-1592) Wert auf die vorurteilsfreie Herangehensweise an die Gegenstände seiner “Versuche”. Wenn er einen Essay zu schreiben beginne, notierte er, kenne er dessen Ergebnis noch nicht und lasse sich letztlich selbst von den Resultaten seiner Gedankenführung überraschen. Ähnliches nimmt der Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929 und seit Jahrzehnten zu den herausragenden deutschen Intellektuellen zählend, für sich in Anspruch. Zum 40jährigen Jubiläum des Suhrkamp-Verlages ist nun eine Sammlung von 17 seiner gelungensten Essays aus den vergangenen 27 Jahren erschienen. Das Themenspektrum reicht von Überlegungen zum Analphabetentum (1985) über eine köstliche Beschreibung des real existierenden Sozialismus (1982) bis zum “digitalen Evangelium” (2000), einer fulminanten Analyse unserer gesellschaftlichen Realitäten mit beängstigenden Ausblicken.
Darin kommt Enzensberger etwa zu dem Schluss, dass die neue Gesellschaft aus vier Klassen bestehe: Aus den erfolgreichen und flexiblen”Chamäleons” in den führenden Positionen, den nahezu ebenso erfolgreichen, aber gänzlich unflexiblen “Igeln” in der Bürokratie, den sonstigen erbittert um ihren Arbeitsplatz kämpfenden “Bibern” und schließlich aus einer stetig wachsenden Unterklasse, für die es kein Totemtier gebe, da die Natur keine überflüssigen Arten kenne. Letztere Klasse stelle global bereits die Mehrheit und tauge nicht einmal mehr dazu, ausgebeutet zu werden.
Der Autor, der stets betont, dass die Zuverlässigkeit nicht zu seinen Tugenden zähle, durchläuft mitunter bemerkenswerte ideologische Metamorphosen zwischen anarchischem Weltverbesserungsgeist (“Plädoyer für den Hauslehrer”, 1982), elitärer Massenverachtung (“Das Nullmedium”, gemeint ist das Fernsehen, 1988) und bedrückend stammtischkompatiblem Lamento (wie beim Geißeln von Asylbewerberzahlen in “Über die Gutmütigkeit”, 1998). Doch erfährt der Leser auch Erhellendes über den Luxus, den “ewigen Widersacher der Gleichheit” (“Dialog über den Luxus”, 2001): Heute sei die Abgrenzung von der Mehrheit mit Geld allein nicht mehr zu erreichen und könne beispielsweise im Privileg liegen, über die eigene Lebenszeit so zu verfügen, wie es einem passt.
Im übrigen lässt Enzensberger Trauergesänge über die schwindende gesellschaftliche Relevanz der Kultur nicht gelten. Abgesehen davon, dass Jammern den Stil verderbe, gehe die Kultur ihrer Rolle als sozialer Code der Herrschenden verlustig und sei bald nur noch auf ihre eigenen Kräfte angewiesen – für Enzensberger durchaus keine betrübliche Aussicht.

Hans Magnus Enzensberger
Nomaden im Regal. Essays
Edition Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
198 Seiten, € 8,00
ISBN 3-518-12443-9