justament.de, 21.10.2024: Mr. Hamburger Szene
Scheiben Spezial: Zum 30. Todestag von Wilken F. Dincklage
Thomas Claer
Die “Hamburger Szene” war in den Siebzigern so etwas Ähnliches wie später die “Neue Deutsche Welle” in den Achtzigern oder die “Hamburger Schule” in den Neunzigern: ein neues großes Musik-Ding, das für alle Beteiligten zum Label wurde; als Schlagwort erfunden jeweils von Musikjournalisten. Um 1973 herum hatte sich rund um die Hamburger Kneipe “Onkel Pö” ein “Jazz- und Spaßmusikerklüngel” (Wikipedia) gebildet, der vorwiegend Dixiland-Jazz mit Elementen der Rock- und Popmusik kombinierte; sehr schön textlich zusammengfasst in Udo Lindenbergs Titelstück seiner gleichnamigen LP “Alles klar auf der Andrea Doria”. Und eine zentrale Gestalt in dieser seit ca. 1975 so genannten “Hamburger Szene” war der umtriebige Wilken F. Dincklage (1942-1994), genannt der dicke Willem, der als Musiker, Radiomoderator, Musikproduzent, Schauspieler und Unternehmer nahezu überall irgendwie mitmischte. Noch dazu wurde er zum Herbergsvater der Szene, indem er 1972, gemeinsam mit dem Toningenieur Conny Plank, eine prächtige alte Villa in Hamburg-Winterhude mietete (das ehemalige Privathaus des Kanadischen Botschafters), dort den Kraut-Musikverlag gründete und eine große Zahl junger Künstler bei sich einquartierte.
Beinahe alles, was damals Rang und Namen in Hamburgs Musikszene hatte oder noch kriegen sollte, wohnte zumindest vorübergehend in Willems berühmter WG in der so genannten “Villa Kunterbunt”: Udo Lindenberg, Otto, Marius Müller-Westernhagen, Gottfried Böttger, Lonzo Westphal, Steffi Stephan, Peter Petrel und weitere seiner Kollegen aus der Rentnerband. Zeitweise hatte die WG 14 Bewohner. Als Nina Hagen zum Jahreswechsel 1976/77 in den Westen kam, fand sie ebenfalls Unterschlupf in Willems WG, blieb dort aber nicht lange. Und während ihr galanter Mitbewohner Otto Waalkes ihr Hamburg zeigte, schrieb ihr WG-Genosse Marius Müller-Westernhagen später über sie den leicht gehässigen Song “Guten Tag, ich bin Gerti aus der DDR”.
Aber zurück zu Willem, der in seiner Jugend eine Ausbildung zum Teeverkoster absolviert hatte und als Kaufmann u.a. als Ostblock-Experte eines Industriekonzerns tätig war. (Angeblich konnte er sich in acht Sprachen fließend unterhalten.) Neben seinem Job als Musikverleger pendelte Willem seit 1972 zwischen Hamburg und Saarbrücken, wo er als kundiger Musikjournalist im Hörfunkprogrramm des Saarländischen Rundfunks die Sendung “Pop Corner” moderierte und dort vornehmlich über die Hamburger Musikszene berichtete. Bald darauf ging Willem, der selbst Banjo und Gitarre spielte, auch eigene musikalische Wege und veröffentlichte mehre Singles und später auch Langspielplatten. Zu einer der Hymnen der “Hamburger Szene” avancierte 1975 sein unter dem Pseudonym “Daddy’s Group” erschienener Song “Lass die Morgensonne (endlich untergehn)”. Später allerdings geriet er mit Liedern wie “Tarzan ist wieder da” (1977) immer mehr auf die Blödel-Schiene. In den Achtzigern wurde Willem dann zum gefeierten Radio-Moderator beim NDR (“Hits mit Willem”, “Norddeutsche Top Fofftein”, “Musikraten und Singen”) und wirkte in mehreren Filmen als Schauspieler mit, so in der legendären Szene in der Rockerkneipe “Chrome de la Chrome” im ersten Otto-Film (1985). Nach Mauerfall und Wiedervereinigung moderierte Willem für Antenne Mecklenburg-Vorpommern und engagierte sich in der Stadt Wismar.
Vor 30 Jahren, am 18. Oktober 1994, starb Wilken F. Dincklage im Alter von erst 52 Jahren an einer Lungenembolie. Bei seinem Tod soll er mehr als 250 kg gewogen haben. Das Herz der Hamburger Szene hatte aufgehört zu schlagen.
Justament April 2010: Se(e)lig sind die Griechen
Recht cineastisch, Teil 5: Fatih Akins Hamburg-Film “Soul Kitchen”
Thomas Claer
So funktioniert also die Gentrifizierung in Hamburg: Eine alte frühere Fabrikhalle im Arbeiterbezirk Wilhelmsburg. Dort, im Armenhaus Hamburgs, liegen die Einkommen lediglich auf dem Durchschnitts-Niveau von Berlin. Der deutsch-griechische Underdog Zinos Kazantsakis (Adam Bousdoukos) betreibt hier ein Restaurant für den Unterschichten-Geschmack, das “Soul Kitchen”. Seine Stammgäste, Hartz IV-Empfänger und abgebrannte Hafen-Existenzen, goutieren die Würstchen- und Schnitzel-Hausmannskost und das schmuddelige Ambiente. Der neue Koch Shayn (Birol Ünel, der finstere Liebhaber von Sibel Kekilli aus Fatih Akins erstem Film “Gegen die Wand”) vertreibt mit seiner Gourmet-Küche nach kurzer Zeit sämtliche alten Kunden. In seiner Verzweiflung lässt Restaurantbetreiber Zinos die Band seines Kellners in den nun leeren Räumen proben. Plötzlich stömt hippes Szenepublikum in die Halle, um die Musik zu hören, und die Leute verlangen nach den Gourmet-Gerichten auf dem Wandanschlag. Der eigentlich schon beurlaubte Koch Shayn wird reaktiviert. Die Halle entwickelt sich blitzschnell zum beliebten Szenetreff. Zinos Geschäfte laufen blendend. Da taucht sein alter Schulfreund von der Gesamtschule, der Immobilien-Unternehmer Thomas Neumann, auf und will das Grundstück kaufen, um auf dem Gelände später Luxuswohnungen zu errichten…
Schwungvoll und witzig geht es zu in der Hamburg-Komödie des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin, der sich hier erstmals auch als ein Meister des komischen Fachs erweist. Als hätte er das aktuelle Griechenland-Bashing geahnt, sind die positiven Helden des Films ausgerechnet Griechen. (Ein vorbildlicher Dienst des Regisseurs an der Völkerfreundschaft – vergessen ist die berüchtigte Kebab-Gyros-Rivalität.) Auch als Grieche, nämlich als eigentlich inhaftierter Bruder des Lokalbetreibers, der nur im Wege des Freigangs erscheint, tritt Moritz Bleibtreu auf – und spielt wieder einmal phantastisch. Famos ist insbesondere die Liebesgeschichte zwischen ihm und der Kellnerin Lucia (nebenher noch Malerin). Sie findet es zu seiner großen Erleichterung “voll romantisch”, dass er im Knast sitzt. Nun, wir sind eben im Kino. Manchmal gibt es aber doch eine Spur zu viel Klamauk (z.B. in der Szene mit dem Aphrodisiakum im Essen). Empfehlenswert ist der Streifen aber ohne Frage.
Soul Kitchen
Deutschland 2009
100 Minuten, FSK 6
Regie: Fatih Akin
Drehbuch: Fatih Akin, Adam Bousdoukos
Darsteller: Adam Bousdoukos, Moritz Bleibtreu, Birol Ünel, Anna Bederke, Pheline Roggan, Dorka Gryllus, Lucas Gregorowicz
