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justament.de, 23.6.2025: Goethe als Chinese und Homunculus als KI

Manfred Osten und Helwig Schmidt-Glintzer diskutieren bei Matthes & Seitz in Berlin

Thomas Claer

Schon frühzeitig hat Manfred Osten, promovierter Jurist, Ex-Diplomat und versierter Goethe- und Asienkenner, auf die bestürzende Aktualität Goethes im Lichte der gesellschaftlichen und insbesondere auch technischen Entwicklungen unserer Gegenwart hingewiesen. Als mittlerweile 87-Jähriger hat Osten nun ein Alter erreicht, in dem er die Realisierung dessen, was Johann Wolfgang von Goethe auf künftige Generationen zukommen sah (dargelegt vor allem im vorsorglich “versiegelten” Faust II), zu großen Teilen noch gewissermaßen in Echtzeit miterleben kann.

Vor knapp zwei Dutzend Interessenten in den Berliner Verlagsräumen von Matthes & Seitz ging es in der von Andreas Rötzer moderierten Diskussion zwischen Osten und dem Sinologen Helwig Schmidt-Glintzer aber zuvörderst darum, wie Europa sich im Sinne Goethes am Vorbild Chinas im Wege einer stärkeren Bildungsorientierung und “Vertikalspannung” für jeden Einzelnen ausrichten sollte. 1827 hatte Goethe, selbst Konfuzius-Leser seit frühester Jugend, in seinem China-Bekenntnis eine grundlegende Erneuerung durch eine Art Ex-Oriente-Therapie gefordert – und zwar durch “strenge Mäßigung” im Sinne eines konsequent leistungs- und bildungsfokussierten Lebens. Die große 45-bändige chinesische Gesamtausgabe der Werke Goethes, die nun geplant ist, ehrt Goethe heute indirekt als den Vordenker der von Deng Xiao Ping eingeleiteten Bildungsrevolution im Geiste dieser Vertikalspannung. Mit dem Ergebnis, dass China in den zurückliegenden 40 Jahren erfolgreich den Weg beschritten hat, auf den Europa nun in Form einer “neuen Aufklärung” antworten sollte, so die Diskutanten, um seiner eigenen “Verzwergung” zu entkommen.

Besonders betonte Osten die Rolle des frühkindlichen Erlernens der chinesischen Schriftzeichen für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Die umfassende Vernetzung der Synapsen bei Formung des bildhaften Denken – das sei so nur durch intensives Lernen schon im frühesten Kindesalter möglich. Dementsprechend würde heute in China kaum ein Kind, das nicht bereits mehrere tausend Schriftzeichen beherrsche, auch nur die Aufnahmeprüfung für den Kindergarten bestehen. In europäischen Ländern hingegen blieben solche Möglichkeiten zur Nutzung humaner Ressourcen für die gegenwärtige und künftige Wissensgesellschaft leider weitgehend ungenutzt, da sich die Zeitfenster der besonders prägungsaktiven Phasen in der frühen Kindheit eben auch wieder schlössen. Die europäischen Aufklärer, so Osten, hätten im übrigen die besondere Bedeutung von Fleiß und Lerneifer schon deutlich vor Augen gehabt. So habe Immanuel Kant in seinem Aufsatz “Was ist Aufklärung?” als maßgeblichen Hinderungsgrund für eine aufgeklärte Weltsicht neben Feigheit vor allem auch Faulheit ausgemacht. Und bereits hundert Jahre zuvor habe Gottfried Wilhelm Leibniz, der im engen Austausch mit Jesuiten in China stand, die Einrichtung einer Meritokratie nach chinesischem Vorbild anstelle des seinerzeit in Europa bestehenden Erbadels gefordert.

Helwig Schmidt-Glintzer, der gerade wieder aus China zurückgekehrt war, wo er eine Tagung zum Thema “AI and Humanities” besucht hatte, wies ferner auf die im Westen vollkommen unterschätzte Konkurrenz zwischen den einzelnen chinesischen Universitäten sowie die enorme und gezielte Förderung nicht nur der MINT-Fächer in China hin. Darüber hinaus stellte er den Einfluss des Buddhismus heraus, dessen “mittlerer Weg” sich laut Osten erheblich mit den Lehren des Konfuzius überschneide, was bereits Goethe sehr bewusst gewesen sei.

Besonders interessant wurde es noch einmal am Ende, als aus dem Publikum Fragen u.a. zu Goethes Antizipationen heutiger technologischer Entwicklungen in seinen Werken gestellt wurden, einem Spezialgebiet von Manfred Osten. Nicht nur das Internet, so Osten, habe Goethe im Faust II präzise beschrieben:

„Verworren läuft der Welt Lauf wie ein Traum;
Ein neues Netz wird täglich angeknüpft,
Ein Maschenwerk wird flüchtig überworfen,
Der Knoten hält, der Faden läuft davon.“

Auch von KI und Robotik habe Goethe schon eine hinreichende Vorstellung gehabt, wie die Figur des Homunculus beweise:

„Ich seh’ in zierlicher Gestalt
Ein artig Männlein sich gebärden.
Was wollen wir, was will die Welt nun mehr?
Denn das Geheimnis liegt am Tage.
Gebt diesem Laute nur Gehör,
Er Wird zur Stimme, Wird zur Sprache.“

Laut Osten habe Goethe insbesondere im Faust II gezeigt, dass die Menschheit im Begriff sei, etwas zu erschaffen, was sie letztendlich nicht mehr unter Kontrolle halten könne.

So bleibt nur zu hoffen, dass Manfred Osten nach seinen diversen Publikationen tatsächlich noch ein weiteres Buch über “Goethe als Chinesen” herausbringen wird. Und dann in einigen Jahren, inschallah, womöglich sogar noch eins über “Goethe und die KI” auf dem dann aktuellen Stand der weiteren technologischen Entwicklung. “Was fruchtbar ist, allein ist wahr.”

Justament März 2012: Spitze Feder rostet nicht

Christian Y. Schmidts gesammelte China-Kolumnen „Im Jahr des Tigerochsen“

Thomas Claer

Cover SchmidtWas waren das doch für goldene Zeiten für die Satire in Deutschland, damals in den Neunzigern, als Christian Y. Schmidt noch Redakteur bei der „Titanic“ war und an so lustigen Polit-Comics wie „Genschman“ oder den „Roten Strolchen“ mitwirkte. Wenn der damalige Bundesaußenminister im Batman-Kostüm gegen seinerzeit noch real bedrohliche Schufte wie „Frisur“ (alias Karadzic), den schlechtfrisiertesten Diktator aller Zeiten, kämpfte oder ein zögerlicher und ziegenbärtiger SPD-Kanzlerkandidat seinen Wahlkampf gegen den Oberförster Kohl unter dem Motto „Versucht, Ziege zu wählen“ inszenierte, da blieb kein Auge trocken. Doch ist das längst schon tiefste Vergangenheit. Anderthalb Jahrzehnte und zwei Bundeskanzler (respektive –innen) später ist Christian Y. Schmidt noch immer mit spitzer Feder unterwegs, doch versorgt er nunmehr die Leser der taz alle zwei Wochen mit einer Kolumne aus Peking, wo er mit seiner chinesischen Frau seit über sechs Jahren lebt. Weil aber so mancher Interessent nur mit Mühe die täglichen Papierberge der FAZ oder SZ zu bewältigen vermag und sich so zumindest nicht immer auch noch die taz zu Gemüte führen kann, gibt es Schmidts China-Kolumnen nun zum zweiten Mal auch als Buch aus dem rührigen Berliner Verbrecher-Verlag, auf dessen gepflegtes Programm an dieser Stelle einmal ausdrücklich hingewiesen werden soll.
Christian Y. Schmidt berichtet also auch im „Jahr des Tigerochsen“, d.h. in den chinesischen Jahren des Tigers (2009) und des Ochsen oder Büffels (2010), über allerhand Bemerkenswertes aus dem Reich der Mitte, das dem oberflächlichen westlichen Blick sonst nur zu leicht entgeht. Hervorzuheben ist sein unideologischer und vorurteilsfreier Blick auf die vielen kleinen Dinge des chinesischen Alltags, die den westlichen Lesern nicht selten sonderbar erscheinen dürften. So fand man in China bis vor kurzem keine küssenden Paare im öffentlichen Raum, abgesehen von einigen Touristen, die dann dementsprechend angestarrt wurden. Dass ihm ein Teil seiner Kritiker eine zu unkritische und beschönigende Sichtweise der chinesischen Verhältnisse vorwirft, ein anderer Teil hingegen vermutet, er betreibe antichinesische Gräuelpropaganda, zeigt, dass Schmidt  wohl letztlich vieles richtig gemacht hat in seinen Texten. Natürlich ist jemand, der in einer einheimischen Familie lebt, der somit alles direkt aus erster Hand erfährt und dessen kulturalistische Missverständnisse sich im Zweifel auch einfacher aufklären lassen, klar im Vorteil gegenüber allen anderen in Fernost lebenden Ausländern, seien sie Korrespondenten, sonstige Autoren oder Wirtschaftsleute. Vor allem aber kann er dem ach so aufgeklärten europäischen Blick nach Fernost, der in Wahrheit gar nicht viel von seinem Gegenstand versteht und immer nur belehren will, mal etwas empirisch-fundierte Alltagskenntnis entgegensetzen, zumal das Interesse an der spätestens in zwei Jahrzehnten größten Volkswirtschaft der Erde, die den meisten westlichen Menschen heute noch so fremd ist, ganz ohne Zweifel stetig weiter wachsen wird. Die Schmidt-Kolumnen leisten für uns insofern gute Aufklärungsarbeit und liefern darüber hinaus, vor allem mit ihren zumeist treffsicheren Schluss-Pointen, auch gelungene Unterhaltung.

Christian Y. Schmidt
Im Jahr des Tigerochsen
VerbrecherVerlag Berlin 2011
187 Seiten, EUR 13,00
ISBN 978-3-940426-68-0

www.justament.de, 14.6.2011: Verloren im Kulturschock

Recht cineastisch, Teil 9: Die deutsch-chinesische Co-Produktion „I Phone You“

Thomas Claer

drum-herum-tc-i_phone_you2Hurra, mal wieder ein Berlin-Film mit Drehbuch von Altmeister Wolfgang Kohlhaase! Und nach „Sommer vorm Balkon“ (2005) erst der zweite nach der Wende. Allerdings ist der inzwischen 80-jährige Wolfgang Kohlhaase da diesmal eher so reingerutscht: Die junge Chinesin Dan Tang, Regie-Absolventin der Filmhochschule Potsdam, hat ihn, so wird es erzählt, mit einem Eis dazu überredet, ihr Drehbuch zunächst nur zu lesen, und später sogar, es weiter zu bearbeiten. Und dann kamen die Produzenten, die einen neuen Kohlhaase-Film fürs Kino wollten… Aber egal. Herausgekommen ist ein Film, der sich trotz einiger handwerklicher Schwächen gut einfügt in den Kohlhaasschen Erzählkosmos, in dem zumeist Porträts einfacher Menschen in ihrem Alltag gezeichnet und dabei Geschichten erzählt werden, die einem ans Herz gehen.

Zu DDR-Zeiten lieferten die Drehbücher des in Berlin-Adlershof aufgewachsenen Kohlhaase eine Art Chronik des ungeliebten Staates von unten. Unvergesslich ist vor allem „Solo Sunny“ (1980), die einfühlsame Darstellung einer Sängerin im alternativ-proletarischen Milieu eines Hinterhauses in Prenzlauer Berg. Es gilt bis heute als ein Wunder, dass ein so radikaler Film mit so negativem Inhalt überhaupt in der DDR erscheinen durfte. Aber da der ebenso renommierte wie zuverlässig staatsnahe Konrad Wolf Regie geführt hatte, ließen die Zensoren das durchgehen. (Ein früherer Film mit Kohlhaase-Drehbuch, „Berlin um die Ecke“, war 1965 sogar verboten worden und konnte erst nach der Wende, 1990, durch Bearbeitung des Rohmaterials fertig gestellt werden.)

Und nun also „I phone you“, ein Film, wie es schon sein wortspielerischer Name verrät, ganz auf der Höhe der Zeit, der aber längst nicht so harmlos ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn wichtige Leute aus Wirtschaft oder Politik beruflich andere Städte bereisen, dann haben sie dort mitunter Liebschaften. So auch der schwerreiche chinesische Wirtschaftsboss Yu, der eigentlich in Berlin ansässig ist (Geschäftsfeld: Unterseeboote) und anlässlich seines Aufenthalts in der quicklebendigen 30-Millionen-Stadt Chongqing mit der jungen, schönen und sehr selbstbewussten Animateurin Ling anbandelt. Nach einer Liebesnacht im Hotel schenkt er ihr ein iPhone, damit er sie auch von Berlin aus immer erreichen kann. Er bezirzt sie mit immer neuen Liebesschwüren per Telefonat, SMS, Mail und Videobotschaft. Doch kann man mit einem iPhone noch viel mehr anstellen, zum Beispiel virtuell in weit entfernte Städte reisen. Das tut Ling, findet Gefallen an Berlin, lässt sich von ihrem zähneknirschenden, in der Gastronomie tätigen Vater bezuschussen und fliegt kurz entschlossen nach Berlin, um ihrem Liebsten einen Besuch abzustatten. Doch dieser reagiert entsetzt, darf doch seine mit ihm in Berlin lebende Ehefrau nichts von Ling erfahren. So lässt sich Yu nach Lings Ankunft hartnäckig verleugnen und schickt seinen Bodyguard Marco (Florian Lukas) vor, der Ling schnellstmöglich ins Flugzeug zurück komplimentieren soll. Doch Ling, die sich überdies der Annäherungsversuche Marcos erwehren muss, lässt sich so schnell nicht abwimmeln und sucht Yu auf eigene Faust. Das ist in der fremden Umgebung aber ein abenteuerliches Unterfangen, und Ling macht unter anderem Bekanntschaften mit einem türkischen Taxifahrer, einem abgebrannten Studenten (der ihr seine letzten zehn Euro für das Taxi spendiert), der vietnamesischen Zigarettenmaffia, dem Ordnungsamt und der Ausländerbehörde. Das hat viel Witz, ist aber gelegentlich auch dicht am Klischee.

Sehr drastisch führt der Film allerdings vor Augen, welchen schweren Stand asiatische Frauen in Europa haben, selbst in der deutschen Multi-Kulti-Hauptstadt. Gut, denkt man, dass Ling mangels Sprachkenntnissen nur einen Bruchteil von all der Abschätzigkeit mitbekommt, die man ihr hier in breiten Bevölkerungsschichten entgegenbringt. Ob bei gierig-lüsternen Männern oder boshaft-eifersüchtigen Frauen – immer gilt die Gleichsetzung: asiatische Frau = Sexobjekt = Prostituierte. Die Berliner Proll-Kultur zeigt sich hier von ihrer überaus hässlichen Seite. Da kann es auch kaum trösten, dass europäische Touristinnen von ihren Besuchen in Fernost manchmal Ähnliches berichten. (Da gilt dann die Gleichung: blonde Frau = Sexobjekt = Schlampe.) Die Kombination aus Sexismus und Rassismus ist offenbar weltweit ein Renner.

Zu den Stärken des Films zählt die unaufdringliche Beiläufigkeit, mit der von all dem erzählt wird. Als Ling ihren Schwarm mit Hilfe des auf ihre Seite gewechselten Marco nach zwei Tagen endlich aufspürt, ist ihre Enttäuschung so groß, dass sie Yu ein Messer zwischen die Rippen stößt und später das iPhone aus dem Fenster wirft. Dabei hätte sie, so wie die Dinge standen, gar keine schlechten Karten gehabt, Yu ganz für sich zu erobern und so in die Welt des großen Geldes und der testosterongetriebenen Macht vorzudringen. Aber ein solches Taktieren, ja Pragmatismus überhaupt, sind Lings Sache nun einmal nicht. Auch Marco („Ick komm’ aus Neuruppin, aber ick bin da nich’ festgelegt.“) , der ihr auf linkische Weise immer neue Avancen macht, der sich sogar für sie prügelt, als eine alkoholisierte Männerhorde sie belästigt, blitzt schließlich bei ihr ab.

Der rote Faden in Kohlhaases Berlin-Filmen war über die Jahre die Dominanz starker Frauen-Figuren. Gleichwohl wehrt sich der Altmeister entschieden gegen den Verdacht, ein „Frauenversteher“ zu sein. Nein, im Gegenteil, sagte er unlängst im Interview mit Spiegel-Online, er könne Frauen in der Regel überhaupt nicht verstehen, weshalb er auch immer wieder tagelang über sie nachdenken könne. Nachdenklich macht aber auch die transkulturelle Dimension in „I phone you“. Mag der westliche Zuschauer anfangs noch sehr befremdet auf die platte und oberflächliche Welt der jungen Ling in Chongqiing mit ihrem idiotischen Job, ihren einfältigen Freundinnen und dem seichten Partyleben blicken, so entwickelt er schon bald so etwas wie Scham angesichts der um ein Vielfaches roheren Berliner Kneipengespräche. Der Kontrast öffnet einem gewissermaßen die Augen. Und dann Lings ungläubig-erschrockener Blick auf die Brotstullen, die man ihr im Polizeigewahrsam serviert: Soll man so etwas etwa essen? Gute Dienste zur Überbrückung der Kommunikationsbarriere zwischen Ling und Marco leistet schließlich noch das deutsch-chinesische Übersetzungs-App des iPhones, indem Ling ihre Schimpfwörter auf Chinesisch eintippt und sie Marco auf dem iPhone-Display am langen Arm auf Deutsch entgegenstreckt. Da erscheint dann zum Beispiel: „Hund vom Chef“.

Und noch ein Gutes hat die DDR-Zensur-erprobte Behutsamkeit, mit welcher der seit 1952 als freischaffender Drehbuchautor und Schriftsteller tätige Wolfgang Kohlhaase seinen immer wachen und kritischen Blick in die Film-Dialoge einfließen lässt: Der Film darf voraussichtlich bald auch in China gezeigt werden.

I Phone You
Deutschland/China 2011
Regie: Dan Tang
Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase
95 Minuten, FSK: 6
Darsteller: Jiang Yiyan, Florian Lukas, Wu Da Wei, Wang Hai Zhen, Nicole Ernst, Deng Jia Jia, Bing He, Annette Frier, Marie Gruber, Tino Mewes, Fritz Roth, Alexander Yassin