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justament.de, 2.12.2024: Bilanz einer Kanzlerin

Bilanz einer Kanzlerin

Anmerkungen zur Merkel-ist-schuld-Debatte

Thomas Claer

Merkel ist an allem schuld, was hierzulande nicht gut läuft, und das ist eine Menge. So liest und hört man es vielfach, seit unsere Ex-Kanzlerin mit viel Tamtam ihre Autobiographie vorgelegt und unser Land damit mal wieder in eine hitzige Debatte gestürzt hat. Denn hätte man in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft (2005-2021) nicht vieles besser machen können? Doch, ganz bestimmt sogar. Und erst recht mit dem Wissen von heute darüber, wie sich die Dinge seit ihrem Abgang dann weiter entwickelt haben.

Es sei doch sonnenklar gewesen, dass wir uns nie in eine solche energiepolitische Abhängigkeit von Putin-Russland hätten begeben dürfen, heißt es. Dem Kreml-Despoten sei doch auch schon damals nicht zu trauen gewesen. Wie habe man denn das nicht wissen können?! Immerhin die Grünen wussten es und haben es immer gesagt. Unsere Nachbarländer und die USA haben es ebenfalls gewusst und es uns immer wieder unter die Nase gerieben. Allein, die vier Merkel-Kabinette wollten davon nichts wissen. Realpolitik hieß damals: Energie von dort beziehen, wo sie am günstigsten zu haben war. So wollten es auch die Wirtschaft und alle Lobbyisten. Und dagegen war nun mal nicht anzukommen.

Aber hätte man damals nicht noch viel schneller und entschlossener die regenerativen Energien ausbauen sollen? Hätten wir heute doppelt oder dreimal soviel Wind- und Solarenergie, dann bräuchten wir all das teure und umweltfeindliche Flüssiggas nicht einzuführen, mit dem wir nach dem Wegfall der russischen Gas-Importe nun unseren Energiehunger stillen. So hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: dem Klimawandel etwas entgegengesetzt und uns unabhängig von Energie-Importen aus problematischen Herkunftsländern gemacht. Die Grünen wussten das alles schon damals. Aber auf sie hat ja keiner gehört, zumindest nicht genug.

Wäre es dann aber nicht auch schlauer gewesen, weiter auf Atomenergie zu setzen, statt mutwillig auf eine bereits vorhandene Energiequelle zu verzichten, die uns unabhängiger von zweifelhaften Energie-Importen gemacht hätte? Schließlich baut doch alle Welt die Atomenergie aus, und nur Deutschland unter Merkel hat im Alleingang den Ausstieg aus dieser Technologie vollzogen. Doch ist hier neben dem noch jahrtausendelang vor sich hin strahlenden hochgiftigen Atommüll und dem enorm CO2-emissionsbelastetendem Uranabbau (vorwiegend in Russland!) auch zu bedenken, dass laufende Atomkraftwerke natürlich erstklassige Angriffsziele in etwaigen kriegerischen Auseinandersetzungen sind – und das mitten in Europa. Nein, Merkels Atomausstieg war gewiss nicht verkehrt.

Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn man schon ab 2005 eine kommunale Wärmeplanung durchgeführt, die Energieversorgung schrittweise flächendeckend und verpflichtend auf Fernwärme (aus perspektivisch nur noch sauberen Energiequellen) und lokalen Wärmepumpen umgestellt hätte, so wie es uns die skandinavischen Länder schon in den Neunziger- und Nullerjahren vorgemacht haben? Na ganz bestimmt, denn dann würden wir heute energetisch weitaus robuster dastehen. Doch außer den Grünen, auf die ja keiner gehört hat, hatte das niemand auf dem Plan.

Vermutlich wäre es auch besser gewesen, wenn man bereits damals in viel größerem Stil die Elektromobilität gefördert und mit viel Staatsgeld wie die Chinesen den Bau von Elektro-Autos forciert hätte. Dann wäre der deutschen Automobilindustrie heute nicht wie aus heiterem Himmel ihr Geschäftsmodell weggebrochen. Aber das wollte damals nun wirklich niemand – außer den Grünen.

Doch zurück zur Zeitenwende seit 2022. Hätte man denn die Gefährlichkeit von Putin-Russland nicht schon viel früher erkennen können und rechtzeitig die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr massiv ausbauen müssen? Ja, das wäre gut gewesen. Aber das wollte damals fast niemand sehen: nicht die Regierungsparteien und schon überhaupt nicht die damals in Teilen noch pazifistischen Grünen. Nur ein ansonsten durchweg erratischer und lügnerischer US-Präsident, mit dem wir ab kommenden Januar erneut für vier weitere Jahre das zweifelhafte Vergnügen haben werden (sofern er nicht sogar noch länger im Amt bleibt, indem er die amerikanische Verafssung außer Kraft setzt), hat in diesem Punkt vollkommen recht behalten.

Aber wäre es denn nicht besser gewesen, die Ukraine schon 2008 in die NATO aufzunehmen, als Russland noch längst nicht so hochgerüstet war wie heute, so wie es der damalige US-Präsident Bush jun. damals im Sinn hatte? Dieser Plan ist seinerzeit nicht zuletzt an Kanzlerin Merkel gescheitert, die erfolgreich für mehr Rücksichtnahme auf die Interessen Russlands geworben hatte. Damit hätte man 14 Jahre später wahrscheinlich den Ukraine-Krieg vermeiden können, denn ein NATO-Land anzugreifen, das hätte Putin sich vermutlich nicht getraut. Doch die westlichen Länder hätten sich Russland auf diese Weise schon ein paar Jahre eher zum erbitterten Feind gemacht, und über die russische Reaktion auf einen ukrainischen NATO-Beitritt zu jener Zeit lässt sich nur spekulieren…

Wäre es ferner nicht auch besser gewesen, wenn die Merkel-Regierungen die zwischenzeitlich extreme Niedrigzins-Phase dazu genutzt hätten, mit langfristigen kostenlosen Krediten in großem Stil unsere darbende Infrastruktur zu sanieren? Schulen und öffentliche Gebäude, Brücken, Straßen, Schienen und die Deutsche Bahn endlich wieder auf Vordermann zu bringen? Doch, das wäre gut gewesen. Aber dafür fehlte Merkels Kabinetten und insbesondere auch dem seinerzeit zuständigen Finanzminister Schäuble leider der Weitblick. Schwarze Null und schwäbische Hausfrau waren ihnen wichtiger. Auch von einem zügigen Ausbau der Digitalisierung ist in den Merkel-Jahren zwar oft die Rede gewesen, aber sonderlich schnell vorangekommen ist man hierbei nicht gerade.

Aber last, but not least, was Merkel am häufigsten und am lautesten vorgehalten wird: Hätte sie 2015 nicht den hunderttausenden syrischen Flüchtlingen den Eintritt in unser Land verwehren sollen? Wäre “Grenzen dicht machen” nicht besser gewesen, als durch fröhliche Selfies mit den Ankömmlingen noch weiteren Nachschub von ihnen anzulocken? Hätte man durch mehr Strenge an den Außengrenzen nicht eine Reihe von späteren Amokläufen und Terror-Anschlägen durchgeknallter Islamisten verhindern können? Kann sein. Aber man hätte auch durch eine massive Jugend- und Sozialarbeitsoffensive, wie es sie heute sehr erfolgreich in Dänemark gibt, gewaltige Erfolge erzielen können, indem man die islamismusgefährdeten jungen Menschen von der Straße holt und in gemeinnützigen Projekten beschäftigt, die besser bezahlt werden als die Drogenkuriere der Organisierten und Clan-Kriminalität. Und so hätte man – auch hier wieder – zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Kriminalität und Islamismus bekämpft und zugleich langfristig die Folgen des demografischen Wandels abgemildert.

Doch hat Merkel durch ihre zu wenig strenge Migrationspolitik nicht den in höchstem Grade demokratiegefährdenden Aufstieg der rechtsextremistischen AfD mit herbeigeführt? Und als Spätfolge auch den des rechtslinkspopulistischen BSW? Teilweise wohl schon. Doch hätte es bei einer rechtzeitigen strengen Reglementierung der unsäglichen Sozialen Netzwerke, die mit freundlicher Unterstützung der omnipräsenten Putin-Trolle fortwährend ihre Lügen verbreiten, vielleicht gar nicht soweit kommen müssen. Wobei man hierzu allerdings wohl zunächst auf europäischer Ebene hätte ansetzen müssen, wie jüngst von unserem Wirtschaftsminister gefordert.

Aber war es denn nicht grob fahrlässig von Merkel, die deutsche Bevölkerung erst zu Integrationsbereitschaft und kultureller Offenheit aufzurufen und sie dann mit arabischen Messerstechern und sexuellen Belästigern in nicht ganz kleiner Zahl und dem weitverbreiteten Gefühl der Überforderung und der Fremdheit im eigenen Land alleinzulassen? Sicherlich wäre es angesichts der riesigen Herausforderungen angebracht gewesen, die Aufnahme der Flüchtlinge noch weitaus stärker mit massiven Anstrengungen in der Sozial- und Jungendarbeit – siehe oben – zu flankieren. Auch wären noch klarere Ansagen gegenüber den Neuankömmlingen für Grundwerte wie Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder gegen Homophobie und Antisemitismus von Anfang an wünschenswert gewesen. Doch werden wir angesichts des immer gravierender werdenden Fachkräftemanges – insbesondere in Ostdeutschland! – um die von Merkel völlig zu recht geforderte kulturelle Offenheit nirgendwo herumkommen, um auch nur einen Teil der offenen Stellen künftig noch besetzen zu können.

Unter dem Strich lässt sich somit zwar eine Menge an Versäumnissen während Merkels Kanzlerschaft feststellen – aber nur, wenn man die damaligen realen Machtkonstellationen außer Acht lässt. Ein Bundeskanzler (m/w/d) – und erst recht einer, der in Koalitionsregierungen stets eine Vielzahl oft entgegengesetzter Interessen zu moderieren hat – befindet sich immer auch in einem Wust von Sachzwängen und ist – anders als ein autokratischer Herrscher – eingebunden in streng geregelte Verfahrensabläufe. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Person an der Spitze des Staates dem Land Orientierung gibt, ihm die Richtung weist. Aber hat Merkel hier mit “Wir schaffen das!” und “Sie kennen mich” wirklich eine so schwache Figur abgegeben, wie es nun vielfach behauptet wird? Merkels Politikstil war eine Art Fahren auf Sicht, was auch daran liegt, dass sie in relativ unübersichtlichen Zeiten zu regieren hatte. Heute, seit der Zeitenwende, sehen wir die Dinge vielfach auch klarer, die damals – jedenfalls für die meisten – noch im Nebel lagen. Es war noch nicht die Zeit für große Entwürfe, eher für “piecemeal engineering” im Popperschen Sinne. Und darin war Angela Merkel nun einmal nicht die Schlechteste.

Justament März 2006: Sieben dunkle Jahre

Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung: Eine vorläufige Bilanz

Thomas Claer

Eine Brücke baut die am 1.1.1999 in Kraft getretene Insolvenzordnung einem beträchtlichen Teil all jener Schuldner, die sich nach menschlichem Ermessen niemals mehr aus eigener Kraft von ihrer Schuldenlast befreien können, denen also gleichsam das Wasser bis zum Halse steht. Für natürliche Personen, die keine selbständige berufliche Tätigkeit ausüben oder ausgeübt haben, oder für natürliche Personen, die zwar eine selbständige berufliche Tätigkeit ausgeübt haben, deren Vermögensverhältnisse aber überschaubar sind (d.h. die weniger als 20 Gläubiger haben), sieht § 304 InsO zwingend ein vereinfachtes Verfahren vor: das Verbraucherinsolvenzverfahren. Ausgeschlossen davon sind allerdings Personen, die noch aktiv eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausüben. Die besondere Attraktivität sowohl für Gläubiger als auch für Schuldner liegt in der Möglichkeit einer Restschuldbefreiung des Schuldners nach einer – gerechnet von der Eröffnung des gerichtlichen  Insolvenzverfahrens an – sechsjährigen Wohlverhaltensphase. In dieser tritt die verschuldete Person den pfändbaren Teil ihres Einkommens an einen Treuhänder ab, der diesen nach Abzug der Verfahrenskosten gemäß der Quote des Verteilungsverzeichnisses an die Gläubiger verteilt. Arbeitslose Schuldner müssen sich aktiv und nachweisbar um eine angemessene Arbeit bemühen und jede zumutbare annehmen. Wird die Restschuldbefreiung erfolgreich durchgeführt, so wandeln sich alle Forderungen gegen den Schuldner in Naturalobligationen um, was bedeutet, dass die Gläubiger nicht mehr auf Erfüllung klagen können. Der Schuldner ist seine Schulden also faktisch los. Hat die verschuldete Person jedoch gegen eine ihrer Obliegenheiten verstoßen, so kann das Gericht auf Antrag eines Gläubigers die Restschuldbefreiung (wie auch schon während des RSB-Verfahrens) versagen.

Graue Theorie
Gut für die Schuldner ist all dies, weil ihnen so ein Weg aus der sprichwörtlichen Schuldenfalle gewiesen wird und ihnen das Schicksal eines lebenslangen Daseins als Prügelknabe ihrer Gläubiger erspart bleiben kann. Aber auch die Gläubiger profitieren davon, denn nur für Schuldner mit der Perspektive, sich eines Tages von ihrer Schuldenlast befreien zu können, besteht überhaupt ein Anreiz, sich zum Vorteil der Gläubiger ins Zeug zu legen. Bei einer Pfändungsfreigrenze von derzeit ca. 940 Euro monatlichen Einkommens für kinderlose Singles wird sich, das lässt sich an fünf Fingern abzählen, gewiss so mancher Schuldner “einen Lenz” machen oder sich auf Schwarzarbeit verlegen. Gelobt sei also die Verbraucherinsolvenz. Soweit die Theorie.
Tatsächlich aber geht der Adressatenkreis für Verbraucherinsolvenz und Restschuldbefreiung locker in die Millionen. “Jeder neunte Deutsche ist zahlungsunfähig”, titelte SPIEGEL ONLNE am 14.1.2006 unter Berufung auf die Wirtschaftsauskunftei Creditreform. Im vergangenen Jahr haben danach 11,3 Prozent der Bundesbürger fällige Schulden nicht mehr bedienen können, im Vorjahr seien es nur 10,6 Prozent gewesen. In andere Quellen ist von dreieinhalb Millionen insolventen Haushalten in Deutschland die Rede. Gemessen an diesen Zahlen nutzen jedoch nur recht wenige Betroffene die Möglichkeiten des wirtschaftlichen Neubeginns durch die Verbraucherinsolvenz. Kaum mehr als 100.000 von 1999 bis 2004 gestellte Anträge vermeldet das Statistische Bundesamt. Aber die Tendenz ist deutlich steigend: Mit 60.000 neuen Fällen kletterten die Verbraucherinsolvenzen 2005 auf einen neuen Rekordstand.

Justiz überlastet – Rechtsanwälte unwillig
Nun ist allerdings schon dieser Umfang an Verbraucherinsolvenzen, der vermutlich künftig noch einmal stark anwachsen wird, für die Justiz kaum noch zu bewältigen. Und die ausufernde Kompliziertheit des hier nur in groben Zügen umrissenen Verfahrens tut ihr übriges. Die Schuldnerberatungsstellen sind chronisch überlastet. Inklusive der meist mehrmonatigen – zwingend vorgeschalteten – außergerichtlichen Einigungsphase und der üblichen gerichtlichen Wartezeit müssen Schuldner derzeit in der Regel mindestens “sieben dunkle Jahre überstehen”, um sich von ihren Schulden befreien zu können. Auf rechtlichen Beistand können sie dabei kaum hoffen. Die meisten Anwälte befassen sich nicht mit der Verbraucherinsolvenz, weil die Schuldner ohnehin nicht zahlen können und ihnen die Honorierung im Falle der Beratungshilfe – gemessen am meist außerordentlichen Arbeitsaufwand – zu gering ist. Böse Zungen behaupten sogar, dass Anwälte, welche sich auf Verbraucherinsolvenzmandate einließen, bald schnurstracks in die eigene Insolvenz marschierten – und dies ohne die vorteilhafte Möglichkeit der Verbraucherinsolvenz. Schließlich kann gem. § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO der Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen Vermögensverfalls erfolgen, ein  leider zunehmend an Relevanz gewinnendes Problemfeld. Der Berliner Anwaltsverein hat bereits 2003 eine Beratungsstelle für Anwälte in finanziellen Schwierigkeiten eingerichtet.