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www.justament.de, 8.2.2016: Es lebe der Ska!

Scheiben vor Gericht spezial: Vor 40 Jahren gründete sich die Band Madness

Thomas Claer

Madness_-_One_Step_Beyond...Wohl jeder kennt „Our House“, den berühmten Song der englischen Band Madness aus den frühen Achtzigern, aber keineswegs allgemein bekannt ist, dass diese Band schon vor ihrer ganz großen Popularität eine Vorgeschichte als heißer Londoner Szene-Act hatte. Angefangen haben die späteren Brit-Pop-Giganten nämlich als lupenreine Ska-Formation, zunächst 1976 unter dem Namen The Invaders; seit April 1979 nannte sich die Band dann Madness.

Die Ska-Musik, die heute wohl nur noch Insidern ein Begriff ist, stammt ursprünglich aus Jamaika und gilt als temporeichere Vorläuferin der eher gemächlichen Reggae-Musik. Mit dieser gemeinsam hat sie den charakteristischen Offbeat, worunter in der Musik Töne zwischen den Zählzeiten eines Metrums verstanden werden. Diese raffinierte Akzentuierung wirkt auf das menschliche Gemüt dergestalt, dass ein starkes Bedürfnis nach rhythmischer Bewegung entsteht. Und weil ja der Ska, insbesondere in der Musik der frühen Madness, deutlich schneller ist als der Reggae, hat sich als seine Begleiterscheinung ein wilder und ganz und gar ungewöhnlicher Tanzstil etabliert, bei dem hektisch mit den Armen gerudert und der restliche Körper auf ganz eigenartige Weise verdreht wird: das Skanking. Besonders bizarr mutet es an, wenn eine Menschengruppe diesen Tanz synchronisiert hintereinander stehend aufführt. (Noch heute wird auf Ska-Konzerten so getanzt, wie ich vor ein paar Jahren beim Auftritt einer Ska-Gruppe in Berlin selbst erlebt habe.) In der Kurzbeschreibung heißt das so wie die unübertroffene Debüt-Platte der Band Madness: ONE STEP BEYOND!

Ihre Musikvideos aus jener frühen Phase sind so unglaublich gut, dass vor der weiteren Textlektüre wenigstens die hier vorgeschlagenen unbedingt in Augenschein genommen werden sollten:

https://www.youtube.com/watch?v=N-uyWAe0NhQ
https://www.youtube.com/watch?v=XJOLwy7un3U
https://www.youtube.com/watch?v=PSTHMxBttlU
https://www.youtube.com/watch?v=Pw-8AGRcyvk
https://www.youtube.com/watch?v=N1p8BNPn-Wg
https://www.youtube.com/watch?v=KwIe_sjKeAY

Eine ganz eigene Note bekommt der frühe Madness-Sound durch den ausschweifenden Einsatz des Saxophons. Überhaupt verleihen die vielen Bläser dieser Musik einen besonderen Charme. Allerdings hat so ziemlich alles, was dann nach der ihrerseits schon recht poppigen dritten Platte „Absolutely“ mit ihrem Mega-Hit „Our House“ (1982) kam, kaum noch etwas mit dem fulminanten Frühwerk dieser Band zu tun. Und das liegt wohl nicht nur an der Kommerzialisierung ihres Sounds allein.

Es klingt verrückt, und das war es auch. Ausgerechnet diese ursprünglich aus Jamaika stammende Musik hat seinerzeit Fans aus dem rechtsradikalen Spektrum angezogen. Aber natürlich nicht nur solche. Zwei sehr unterschiedliche subkulturelle Lager standen sich damals in London um 1980 auf Ska-Konzerten, insbesondere auch auf jenen von Madness, gegenüber: auf der einen Seite die eher bürgerlichen Mods in ihren maßgeschneiderten Anzügen und mit Pork Pie-Hüten. (Das war natürlich ein provozierender Kontrapunkt gegen die damals dominante Schlurfi-Kultur der Hippies.) Den Mods nahestehend waren die Suedeheads, eine ebenfalls eher bürgerliche Variante der frühen Skinheads ohne politische Ausrichtung. Und auf der anderen Seite die damals noch junge Bewegung der Skinheads, die aus den ursprünglich von jamaikanischen Einwanderern gegründeten Rudeboys hervorgegangen war und später von rassistischen Londoner Arbeiterklasse-Jugendlichen okkupiert wurde. Wobei diese jungen Rassisten dann nicht nur den optischen Stil der jamaikanischen Jugendlichen – Arbeitsstiefel, Hosenträger, Kurzhaarfrisuren – kopierten, sondern auch deren Musik, den Ska, für sich vereinnahmten. Es soll zu jener Zeit bei Madness-Konzerten auch häufig zu Schlägereien zwischen Mods/Suedeheads und rechtsradikalen Skinheads gekommen sein. Als beim Madness-Auftritt einmal eine Vorgruppe mit dunkelhäutigem Sänger spielte, wurde dieser von Skinheads aus dem Publikum rassistisch beleidigt, woraufhin sich mehrere Bandmitglieder von Madness mit Teilen des Publikums prügelten. Vermutlich war die Band irgendwann auch dieser „Skinhead-Kontroverse“ überdrüssig und öffnete sich immer umfassender in Richtung Allerweltspop…

Aber wie bin ich überhaupt auf Madness gekommen? Es war in den frühen Neunzigern. In meinem Oberstufen-Schuljahrgang in Bremen gab es einen, der schon etwas älter war, weil er zwei Klassen wiederholen musste. Er hatte den Spitznamen Dicke Bahns, was wohl eine Verballhornung seines bürgerlichen Namens Dirk B. gewesen sein muss. Dicke Bahns war bekannt für seinen exzentrischen wie exzellenten Musikgeschmack. Er hörte nur das ganz schräge Zeug: Phillip Boa, die Pogues, die Pixies natürlich sowieso. Einmal beobachtete ich auf dem Schulhof, wie ihm jemand eine Audio-Cassette in die Hand drückte und ihm sagte: „Machste da mal Phillip Boa rauf?!“ „Jo, geht klar.“ Das wollte ich auch, und ich bekam es. Dirk mixte auch für mich ein Phillip Boa-Tape. Der frühe Phillip Boa war natürlich ganz heißer Stoff, das Beste überhaupt. Und dann traute ich mich irgendwann, Dirk zu fragen: „Wie heißt eigentlich die Band, die „Our House“ singt?“ Er sah mich Ahnungslosen sehr mitleidig an und antwortete mit süffisantem Grinsen: „Madness“. Einige Zeit darauf waren wir bei Dicke Bahns zum Geburtstag eingeladen, was schon eine große Ehre war. Und da sah ich in Dirks Zimmer seine Plattensammlung, die mich vor Neid erblassen ließ. Einige Platten lagen scheinbar zufällig und wahllos angeordnet im Zimmer herum. (Heute denke ich, die hat Dirk vor unserem Besuch extra so hingelegt, um uns zu beeindrucken.) Und neben mehreren streng limitierten Editionen, zum Teil mit farbigem Vinyl, von den Pogues und den Smiths lag da auch „One  Step Beyond“ von Madness. Es versteht sich von selbst, dass ich mir diese Platte bei nächster Gelegenheit auf dem Flohmarkt besorgte – und dass ihr noch heute ein Ehrenplatz in meiner Plattensammlung zukommt!

Madness – One Step Beyond – 35th Anniversary Edition (CD+DVD)
Union Square Music (Soulfood)
ASIN: B00MH9NERS
11,69 EUR (bei Amazon)

PS: Von der anderen großen Ska-Gruppe jener Zeit neben Madness, den Specials, die zur Hälfte aus dunkelhäutigen Musikern bestanden, gibt es sogar eine „Skinhead Symphony“:

https://www.youtube.com/watch?v=kwAMvg97FMI
https://www.youtube.com/watch?v=cntvEDbagAw
https://www.youtube.com/watch?v=lgCZN1rU5co

www.justament.de, 8.7.2013: Hypnotisch und schön

„The xx“ auf ihrem zweiten Album „Coexist“

Thomas Claer

coexistWenn man tagsüber im Feuilleton die Lobeshymnen über diese oder jene neue Band gelesen und so richtig Feuer gefangen hat, möchte man sich das Ganze eigentlich abends auf YouTube auch gerne mal mit eigenen Ohren anhören. Aber leider funktioniert das Gedächtnis ab einer bestimmten Semesterzahl nicht mehr ganz so wie noch, sagen wir, mit zwanzig. Wie hieß diese kolossale Band noch gleich? Hat man wirklich heute von ihr gelesen oder war es nicht doch gestern oder vorgestern? Soll man jetzt aufstehen und den Zeitungsstapel durchsuchen? Nein, das ist einem dann meistens doch zu umständlich. Nun wird mancher Leser fragen: „Warum kauft er sich denn nicht einfach ein Smartphone oder iPad mit Kopfhörern?“ Der Einwand ist nicht unberechtigt, aber diese Lösung kommt aus in der hier gebotenen Kürze nicht erschöpfend darstellbaren Gründen dann doch nicht in Betracht. Jedenfalls noch nicht. Da ist es doch andererseits ein Riesenglück, dass eine dieser großartigen neuen Bands einen Namen trägt, den sich im Notfall wohl selbst noch weitaus fortgeschrittenere Jahrgänge, als man selbst es ist, leicht merken könnten, brächten sie nur ein Interesse für solche Musik auf. Die Rede ist natürlich von der dreiköpfigen englischen Indie-Poprock-Band „The xx“, die 2005 in London gegründet wurde. (Huch, das ist ja auch schon wieder acht Jahre her!)
Diese Musiker pflegen einen Minimalismus in jeder Hinsicht, nicht zuletzt auch in ihrer Veröffentlichungspolitik. Nur zwei CDs in acht Jahren, das findet man nicht alle Tage. Und wenn sich Newcomer in ihrem Output so beschränken, dann zeugt das schon von einem bemerkenswerten Selbstbewusstsein: Willst du gelten, dann mach dich selten! Und die Rechnung ging auf. Fand ihr schlicht „xx“  benannter Erstling aus dem Jahr 2009 noch allein auf der Insel Beachtung, brachte „Coexist“ im letzten Jahr den weltweiten kommerziellen Durchbruch. Tja, und ihre Musik? Die ist reduziert, hypnotisch und schön. Ein paar dezente Beats aus der Drum Machine, ein wenig Gitarrenspiel und ein paar Bassläufe. Und darüber erhebt sich der charakteristische Wechselgesang aus weiblicher und männlicher Stimme. Besonders Sängerin und Gitarristin Romy Madley Croft singt einfach meisterhaft. Ihr Gesangs-Kollege und Bassist Oliver Sim eigentlich auch, nur sollte der junge Mann vielleicht mal über seine Frisur nachdenken. Einen solchen Über-Song wie „Crystalised“ auf ihrem ersten Album enthält die aktuelle CD „Coexist“ zwar nicht. Das Urteil lautet dennoch: voll befriedigend (11 Punkte).

The xx
Coexist
Young Turks/X1/Beggars Group (Indigo) 2012
8,99 EUR (bei Amazon)
ASIN: B008B11R1Q