www.justament.de, 28.7.2014: Die schrecklichen Studies der Jetztzeit
Sehr witzig: Die Generationenkomödie „Wir sind die Neuen“ – Recht cineastisch, Teil 18
Thomas Claer
Wenn man neu in ein Mietshaus einzieht und dort ausgerechnet eine Studenten-WG über einem wohnt, denkt man vielleicht an ständiges Halli Galli und ausufernde Lärmbelästigung. Eine solche Erwartung haben in Ralf Westhoffs neuer Filmkomödie „Wir sind die Neuen“ jedenfalls Anne (Gisela Schneeberger), Eddi (Heiner Lauterbach) und Johannes (Michael Wittenborn), drei nicht mehr oder nur noch sporadisch berufstätige Münchener, die sich mit Anfang 60 nach 35 Jahren noch einmal zu einer Neuauflage ihrer eigenen früheren Studenten-WG zusammengefunden haben. (Letzteres ist natürlich nicht ganz freiwillig geschehen: Die Biologin Anne muss raus aus ihrer Wohnung und kann sich im teuren München keine Wohnung nur für sich allein mehr leisten. Doch auch der idealistisch-altlinke Anwalt Johannes, der vornehmlich klamme Bürgerbewegungen und sozial Schwache vertritt, und der ewige Schwerenöter Eddi sind finanziell nicht auf Rosen gebettet und lassen sich bereitwillig auf Annes verrückte Idee mit der Senioren-WG ein.) Als die drei also ihre Möbel nach oben tragen, sagt Anne noch mit Blick auf die jungen Leute: „Hoffentlich kiffen die nicht die ganze Zeit, das hab ich ja nun wirklich hinter mir.“ Doch weit gefehlt: Die jungen Leute sind so völlig anders, als es sich die drei Alt-68er vorgestellt haben. In der Studie-WG herrscht Ordnung, absolute Ruhe und disziplinierter Lerneifer. Schon beim Antrittsbesuch der neuen Mieter stellen die Studenten klar: „Um gar nicht erst falsche Erwartungen zu wecken: Wir können euch nicht helfen. Dafür haben wir keine Kapazitäten mehr.“ Katharina (Claudia Eisinger) und Thorsten (Patrick Güldenberg) stehen vor ihrem ersten juristischen Staatsexamen, Barbara (Karoline Schuch) schreibt gerade ihre Magisterarbeit in Kunstwissenschaft. „Wenn ihr damals etwas flotter studiert hättet, dann hätten wir heute nicht solche Probleme mit der Regelstudienzeit“, ergänzt Barbara noch. Während sich die Senioren sodann mit lauter Rockmusik und geräuschvollen Diskussionen in ihrem neuen Zuhause einrichten, kommen von den Studenten ständige Beschwerden wegen Ruhestörung und wird so manche unverschämte Bemerkung auf die neuen Nachbarn losgelassen. Mit der Zeit verhärten sich die Fronten immer weiter. Erst als die jungen Leute in diverse Nöte geraten und die rüstigen Nachbarn ihnen hilfsbereit unter die Arme greifen, kommt es zur überraschenden Annäherung.
Der Film erinnert etwas an „Männer“ von Doris Dörrie (1985), der auch auf heitere und bissige Weise das Leben in einer WG thematisiert, ebenfalls mit (dem damals noch ziemlich jungen) Heiner Lauterbach in einer der Hauptrollen. Doch ist „Wir sind die Neuen“, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, sogar noch eine Spur witziger. Der Film kommt völlig ohne Längen oder auch nur kleinere Hänger aus. Die Handlung ist von vorne bis hinten genau durchdacht. Ganz entscheidend lebt diese Komödie aber von ihren brillanten Dialogen. Kostprobe: Die drei Senioren befinden sich anfangs auf Wohnungssuche und nehmen an der Gruppenbesichtigung einer hübschen Altbauwohnung teil. Eine junge Frau fragt Eddi (Heiner Lauterbach): „Sind Sie der Vermieter?“ Darauf Eddi: „Nein, sehe ich aus wie ein Vermieter?“ Die junge Frau: „Ich dachte nur wegen des Alters und weil sie so … angezogen sind. Als Vermieter hat man es ja nicht so nötig…“ Der nachlässig gekleidete Eddi lächelnd: „Ich bin ein Konkurrent von Ihnen.“ Die Frau, ihn genau musternd: „Nein, das sind Sie nicht.“ Nur durch persönliche Beziehungen (eine frühere Geliebte von Eddi sitzt in einer Wohnungsverwaltung) kommen die Drei überhaupt an eine Wohnung in München.
Laut Wikipedia hat ein Kritiker dem Film Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil er sich nicht tiefgehender mit dem Generationenkonflikt auseinandersetze. Mir scheint eher, dass sich der Film der Problematik sehr wohl bewusst ist, sich aber klugerweise auf deren diskrete Andeutung beschränkt. Abschließend noch ein herausragend komischer Spruch von Eddi: Als er die prall gefüllte Plastiktüte mit den leeren Weinflaschen seiner feierfreudigen Alten-WG zum Glascontainer bringt, trifft er auf die Studentin Barbara mit zwei Weinflaschen in der Hand und fragt sie: „Die sind wohl noch vom letzten Silvester, oder?“
Wir sind die Neuen
Deutschland 2014
Regie: Ralf Westhoff
Drehbuch: Ralf Westhoff
91 Minuten, FSK: 0
Darsteller: Gisela Schneeberger, Heiner Lauterbach, Michael Wittenborn, Claudia Eisinger u.v.a.
www.justament.de, 26.9.2011: Rehabilitierung der Mimosen
Recht cineastisch, Teil 10: Die anonymen Romantiker
Thomas Claer
Schwer zu sagen, ob „Die anonymen Romantiker“ wirklich ein guter Film ist, aber auf alle Fälle ist er ein sehr wichtiger Film, rührt er doch an einem Tabu in unserer modernen Gesellschaft. Es geht, anders als es der etwas irreführende deutsche Titel suggeriert, nicht unbedingt um Romantik (die erst zum Ende hin und eher unfreiwillig entsteht), sondern um zwei von schätzungsweise 10 bis 15 Prozent aller Menschen, die im Film als „hochsensibel“ bezeichnet werden. Die überaus begabte, aber kontaktscheue Schokoladen-Herstellerin Angélique tritt ihre neue Stelle in einer kleinen Schokoladenmanufaktur an und trifft dort bereits im Bewerbungsgespräch auf den ebenfalls hochsensiblen, sich aber hinter einer Maske aus Übellaunigkeit und Strenge verbergenden Chef Jean-René. Angélique, Ende 30, hat u.a. das Problem, dass sie, sobald sich die Aufmerksamkeit mehrerer Menschen auf sie richtet, errötet oder in Ohnmacht fällt. Jean-René, Mitte 40, hingegen bekommt u.a. Panik und Schweißausbrüche, sobald er sich in Gegenwart einer Frau befindet oder andere Menschen berühren muss. Doch beide arbeiten an ihren Leiden, Angélique in einer Selbsthilfegruppe und Jean-René auf der Couch eines Therapeuten, der ihm zur Bewältigung seiner Phobien immer neue Aufgaben stellt. Beim ersten Rendez-vous der beiden im Restaurant (eine Aufgabe für Jean-René von seinem Therapeuten), liest Angélique Konversationsfragen von Kärtchen ab, während Jean-René alle paar Minuten seine nassgeschwitzten Hemden wechselt. In den vielen kleinen Missverständnissen der Hauptfiguren sowohl untereinander als auch im Kontakt zu ihrer Umgebung entfaltet sich die mitunter beträchtliche Komik des Films, die in ihren stärksten Momenten an die besten Loriot-Sketche erinnert. Leider wird aber auch gelegentlich, im Verlaufe der Handlung noch zunehmend, die Schwelle zur Albernheit überschritten. Am Ende schlagen die Protagonisten ihren Ängsten jedoch ein Schnippchen, kommen mit der Schokoladenmanufaktur ganz groß raus und finden schließlich auch privat zueinander.
Was sagt uns nun dieser Film? Hochsensible, extrem schüchterne und an Sozialphobien leidende Menschen (die Übergänge sind fließend) passen auch bei bester fachlicher Kompetenz nur sehr bedingt ins heutige Erwerbsleben, das vielerlei Torturen für sie bereithält. Nur selten würden sie ein Bewerbungsgespräch, nie ein Assessmentcenter überstehen. Ihr immenses, oft und vor allem auch kreatives Potential kann die Gesellschaft nur in den seltensten Fällen nutzen. Es bleibt die Frage, wie sich moderne Volkswirtschaften nur ein solches Marktversagen, eine so gewaltige Verschwendung an Ressourcen leisten können.
Die anonymen Romantiker (Les émotifs anonymes)
Frankreich/ Belgien 2010
Regie: Jean-Pierre Améris
Drehbuch: Benedek Fliegauf
78 Minuten, FSK: 0
Darsteller: Isabelle Carré, Benoît Poelvoorde, Lorella Cravotta u.v.a.