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justament.de, 15.9.2025: Die Argumente der “Putin-Versteher”

Anmerkungen zur Debatte über den Ukraine-Krieg

Thomas Claer

Plakat auf einer Demonstration in Berlin (Foto: TC)

Es ist immer gut, sich selbst und die eigenen Ansichten kritisch zu hinterfragen, sich auf Gegenargumente zu den eigenen einzulassen, sie zu prüfen und es auch grundsätzlich für möglich zu halten, dass der Andere Recht haben könnte. Denn schließlich gehört es ja zu den großen Vorzügen einer pluralistischen Gesellschaft, dass man über beinahe alles unterschiedlicher Meinung sein darf, ohne befürchten zu müssen, dass man dann auf rätselhafte Weise spontan aus dem Fenster stürzt oder plötzlich, wenn auch nicht ganz unerwartet, von tödlichen Magenkrämpfen heimgesucht wird. Oder dass man auch nur wegen unpatriotischer Umtriebe seinen Job verliert.

Aber haben diejenigen, die sich hierzulande seit mehr als drei Jahren vehement für einen Friedensschluss in der Ukraine durch mehr Dialog mit Russland einsetzen, die das Bestehen einer Mitschuld der westlichen Länder am Kriegsausbruch wegen der fortgesetzten NATO-Osterweiterung behaupten und nun eine Ausweitung des Krieges auf das übrigen Europa verhindern wollen, die Trump zumindest in der Ukraine-Frage für einen guten US-Präsidenten und die Kiewer Maidan-Proteste 2013/14 für vom Westen beeinflusst halten, wirklich gute Argumente?

Zieht man die wichtigsten Aussagen der aktuellen Streitschrift “Krieg oder Frieden? Deutschland vor der Entscheidung” von Klaus von Dohnanyi und Erich Vad, die man beide als intellektuelle Speerspitze des “Putin-Verstehertums” bezeichnen könnte, heran (siehe nebenstehende Rezension von Matthias Wiemers), dann muss man sogleich zugeben: Sie haben einen Punkt. Vielleicht haben sie sogar mehrere.

Ja, man sollte, wenn man kriegerische Auseinandersetzungen beenden will, immer versuchen, mit der anderen Seite im Gespräch zu bleiben. Natürlich ist es auch immer hilfreich, sich in den Gegner hineinzuversetzen und die Beweggründe für sein Handeln nachzuvollziehen. Und tatsächlich hat es in der internationalen Politik wohl schon immer so etwas wie Einflusssphären von Großmächten gegeben, die man tunlichst respektieren sollte. Aber dass eine auf solche Prämissen gestützte Herangehensweise aktuell – nach allem, was bereits versucht worden ist – ein Ende der Kämpfe im Ukraine-Krieg bewirken könnte, das erscheint dann leider doch fernab der realen Gegebenheiten.

Als direkter Realitätstest für die Thesen der “Putinversteher” hat sich insbesondere das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten vor vier Wochen in Alaska erwiesen, bei dem sich vor allem eines gezeigt hat: Putin hat nicht das geringste Interesse an einem Friedensschluss, außer man schenkt ihm noch mehr Land dazu, das er noch gar nicht erobert hat, lässt seine Armee hinter den großen ukrainischen Verteidigungswall im Donbas vorrücken (von wo aus sie dann eine erstklassige Ausgangsposition für künftige weitere Eroberungen hätte) und verzichtet dazu auf Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch die Stationierung internationaler Truppen (und auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine natürlich sowieso). Das wäre im Ergebnis so, als würde die Ukraine sogleich kapitulieren und zu einem Vasallenstaat Russlands werden. Die russische Armee kommt derzeit an der Front zwar nur sehr langsam und mit immensen Verlusten, aber dafür kontunuierlich voran. Also macht Putin weiter, denn seine Waffenproduktion läuft dauerhaft auf Hochtouren, und auf die Opferzahlen unter seinen Soldaten braucht er keine Rücksicht zu nehmen, denn sollten ihm irgendwann die Soldaten aus den ländlichen russischen Regionen ausgehen, dann holt er sich halt noch mehr neue aus Nordkorea.

Trump hat hingegen, was ihn in den besagten Kreisen auch hier populär macht, ein großes Interesse an einem Friedensschluss in der Ukraine. Allerdings vor allem deshalb, weil er erstens gerne den Friedensnobelpreis verliehen haben möchte und zweitens mit Russland wirtschaftlich wieder ins Geschäft kommen will. Letzteres wäre zwar auch im Sinne Russlands, ist aber für Putin längst nicht so wichtig wie seine Eroberungen. Das Schicksal der Ukraine dagegen ist Trump anscheinend herzlich egal. Er versucht nur bei dieser Gelegenheit, noch erpresserische Rohstoffdeals mit dem geschundenen Land für die USA herauszuschlagen. An der Verhängung verschärfter US-Sanktionen gegen Russland, die Trump vor kurzem Putin noch angedroht hatte (sogar unter Setzung eines Ultimatums, das Putin ungerührt verstreichen ließ), hat er nun offenbar das Interesse verloren.

Unter dem Strich steht der vom internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecher Putin, der bis dahin seit Kriegsausbruch von allen westlichen Politikern nur als Paria behandelt worden war, nach seinem Treffen mit Trump nun wieder glänzend rehabilitiert da, obwohl er dafür keinerlei Gegenleistung erbringen musste. Und schlimmer noch: Der angebliche “große Dealmaker” hat offenbar einen so schwachen Eindruck auf Putin gemacht, dass dieser sich seitdem sogar traut, die Ukraine noch stärker als jemals zuvor zu bombardieren, und neuerdings sogar Drohnen in größerer Zahl auf ein NATO-Land abfeuert. Offensichtlich versucht Russland damit auszutesten, inwieweit die USA überhaupt noch zu ihren Bündnisverpflichtungen in der NATO stehen.

Insofern kann man es eigentlich schon als Erfolg werten, dass der Worst Case, eine Übereinkunft zwischen Trump und Putin über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg, also eine Art Münchener Abkommen 2.0, durch die intensiven Bemühungen (und Schmeicheleien) der Europäer fürs Erste noch einmal abgewendet werden konnte. Denn würde Putin, wenn man ihm das gibt, was er haben möchte, wirklich aufhören, wie es seine hiesigen Deuter annehmen? Seine kürzlich getätigte Aussage “Wo immer der Fuß eines russischen Soldaten steht, das gehört uns”, lässt eher nicht darauf schließen. Auch die jüngst im russischen Staatsfernsehen im Hintergrund einer Besprechung von Offizieren gezeigte Landkarte, auf der Gebiete bis weit über die Stadt Odessa hinaus bis zur moldawischen Grenze als Teile Russlands eingefärbt waren, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei. Es sei ferner daran erinnert, dass Putin in seinem “Ultimatum” an die westlichern Länder im Herbst 2021 den Rückzug der NATO aus ganz Osteuropa einschließlich Polens gefordert hatte. (Und Klaus von Dohnanyi erklärte dazu ca. im Frühjahr 2022 in einer Talkshow, die westlichen Länder hätten darüber mit Putin verhandeln sollen, um so die bevorstehende russische Vollinvasion in der Ukraine vielleicht noch verhindern zu können.)

Putins historische Bezugspunkte neben Zar Peter dem Großen und Zarin Katharina der Großen, die im 17. und 18. Jahrhundert umfangreiche Territorien für Russland erobert haben, hat er übrigens mal (im Februar 2024) in einem Interview mit dem Fox-News-Moderator Tucker Carlson verraten. Da meinte er, dass die Schuld am Ausbruch des 2. Weltkriegs eigentlich Polen trage, denn das Land hätte ja auf die ihm 1939 von Hitler und Stalin gestellten Forderungen eingehen und so den Krieg vermeiden können. So wie 2022 die Ukraine und Europa. Empfiehlt sich ein solcher Akteur wirklich für aussichtsreiche Friedensverhandlungen?

Aber ist Putin, wie seine Versteher und Deuter meinen, denn nicht eigentlich im Recht, wenn er auf der Respektierung der russischen Einflussspäre besteht? Haben nicht letztlich die westlichen Länder selbst Russlands Einmarsch in die Ukraine provoziert, indem die NATO sich in den Jahrzehnten zuvor immer weiter nach Osten ausgedehnt und schließlich sogar die Ukraine ihren Nato-Beitritt als Staatsziel in ihre Verfassung geschrieben hat? Wenn in Mexiko, so das Beispiel von Dohnanyi und Vad, eine neue Regierung an die Macht käme, die gerne Mitglied der Eurasischen Union Putins werden und russische Militärstützpunkte und Raketenstellungen am Rio Grande errichten möchte, würden dann die USA nicht ihrerseits in Mexiko einmarschieren?

Der Unterschied ist zunächst einmal, dass ein solches Szenario in Mexiko mutmaßlich niemals eintreten würde, weil erstens die Eurasische Union (wie auch das Militärbündnis OVKS) – anders als EU und NATO im Falle Osteuropas und der Ukraine – sich in keinerlei geographischer Nähe zu Mittelamerika befinden; sich in Mexiko zweitens niemand – anders als in Osteuropa und in der Ukraine in Bezug auf Russland – vor territorialen Ansprüchen, geschweige denn Angriffen der USA fürchtet (zumindest bisher noch nicht, müsste man im Hinblick auf den jetzigen US-Präsidenten vielleicht hinzufügen), vor denen die Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis Schutz versprechen würde; und drittens Eurasische Union oder OVKS auch nicht als seit 76 jahren erprobtes reines Verteidigungsbündnis wie die NATO bekannt sind, die abgesehen vom völlig anders gelagerten Einsatz im Kosovo-Krieg 1999 noch niemals einen Angriffskrieg auf ein anderes Land und dies schon gar nicht zur Durchsetzung territorialer Ansprüche unternommen hat, sondern im Gegenteil genau dazu dient, andere von solchen Schritten abschrecken.

Noch dazu haben die westlichen Länder, als sich die Länder Osteuropas aus freien Stücken für eine NATO-Mitgliedschaft entschieden haben, Russland damit keineswegs überfahren, sondern in ständigem Dialog mit Russland umfangreiche Bemühungen unternommen, den russischen Bedenken Rechnung zu tragen, weshalb ja auch der von der Ukraine gewünschte NATO-Beitritt (nicht zuletzt auf Drängen Deutschlands) auf unbestimmte Zeit zurückgestellt wurde. Es war Russland, das schon 2014 in der Ukraine mit der gewaltsamen Verschiebung von Grenzen in Europa begonnen hat. Und es waren mit Frankreich und Deutschland zwei westliche Länder, die sich selbst dann noch weiter um einen Ausgleich mit Russland bemüht haben (vgl. Minsker Abkommen).

Hinzu kommt noch, dass die eigentliche (und tatsächlich einzige) Bedrohung Russlands – oder vielmehr die des Russischen Regimes – durch westliche Länder im westlichen Lebensstil liegt, der durch individuelle Freiheiten, wirtschaftliche Prosperität und kollektiven Wohlstand gekennzeichnet ist (insbesondere im Vergleich zu den Zuständen in Russland) und – so die große Befürchtung im Kreml – von Menschen auch in Russland als erstrebenswert angesehen werden könnte, vor allem wenn er sich im Nachbarland ausbreiten würde. Die weltweite mediale Vernetzung war bereits zur Zeit der Kiewer Maidan-Proteste (2013/14) so fortgeschritten, dass eine gezielte Beeinflussung der Menschen in der Ukraine pro Westorientierung durch westliche Geheimdienste mit Sicherheit überflüssig gewesen wäre und wohl vermutlich auch eher eine propagandistische Erfindung des Kreml sein dürfte. So wie bekanntlich die Produktion von lügnerischer Propaganda und Desinformation in staatlichem Auftrag – nach innen wie nach außen gerichtet – in Russland mittlerweile ein Niveau erreicht hat, dass man hier schon beinahe vom drittwichtigsten Wirtschaftszweig  des Landes sprechen kann (nach dem Rohstoffsektor und der Waffenproduktion).

Was folgt nun aus all dem? Der erfolgversprechendste Weg, den Ukraine-Krieg zu beenden und dessen Ausweitung auf das übrige Europa zu verhindern, dürfte es wohl sein, die Ukraine in einem solchen Maße hochzurüsten, dass Russland gegen sie militärisch nicht mehr weiter vorankommt. Erst dann wird Putin zu einem Waffenstillstand bereit sein, weil es erst dann für ihn keinen Sinn mehr hat, noch weiter seine Ressourcen zu verpulvern. Ob Europa es aus eigener Kraft und ohne die Hilfe der USA schaffen kann, wird sich zeigen. Solange es geschlossen und einig agiert, kann es dem Aggressor weiter die Stirn bieten. Und genau das liegt auch im deutschen nationalen Interesse. Wer in Erwägung zieht, die Ukraine stattdessen ihrem Schicksal zu überlassen, möge auch bedenken, welche neuen Flüchtlingsströme in die Europäische Union dies zur Folge hätte. Wie es früher immer hieß: Was gut ist für Europa, ist auch gut für Deutschland.

P.S.: Nachdem ich diesen Text verfasst habe, kommt die Meldung, dass Donald Trump nun doch härtere Sanktionen gegen Russland verhängen würde, aber nur unter der Bedingung, dass sich ausnahmslos alle NATO-Länder – also z.B. auch die Türkei – dazu bereit erklären, kein russisches Öl mehr zu kaufen und hohe Strafzölle auf Importe aus China zu erheben. Man darf skeptisch sein, ob das jemals gelingen wird… Weiterhin erklärte Trump u.a. noch, dass dieser “todliche, aber lächerliche Krieg” ja schließlich “Bidens und Selenskyis Krieg” sei, so wie er auch früher schon geäußert hatte, die Ukraine hätte diesen Krieg nie beginnen dürfen. Man fragt sich, ob er als nächstes sagen wird, der 2. Weltkrieg sei ja Churchills und Roosevelts Krieg gewesen und Polen hätte ihn nie beginnen dürfen. In Trumps Welt der “alternativen Fakten” ist alles möglich.

justament.de, 2.12.2024: Bilanz einer Kanzlerin

Bilanz einer Kanzlerin

Anmerkungen zur Merkel-ist-schuld-Debatte

Thomas Claer

Merkel ist an allem schuld, was hierzulande nicht gut läuft, und das ist eine Menge. So liest und hört man es vielfach, seit unsere Ex-Kanzlerin mit viel Tamtam ihre Autobiographie vorgelegt und unser Land damit mal wieder in eine hitzige Debatte gestürzt hat. Denn hätte man in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft (2005-2021) nicht vieles besser machen können? Doch, ganz bestimmt sogar. Und erst recht mit dem Wissen von heute darüber, wie sich die Dinge seit ihrem Abgang dann weiter entwickelt haben.

Es sei doch sonnenklar gewesen, dass wir uns nie in eine solche energiepolitische Abhängigkeit von Putin-Russland hätten begeben dürfen, heißt es. Dem Kreml-Despoten sei doch auch schon damals nicht zu trauen gewesen. Wie habe man denn das nicht wissen können?! Immerhin die Grünen wussten es und haben es immer gesagt. Unsere Nachbarländer und die USA haben es ebenfalls gewusst und es uns immer wieder unter die Nase gerieben. Allein, die vier Merkel-Kabinette wollten davon nichts wissen. Realpolitik hieß damals: Energie von dort beziehen, wo sie am günstigsten zu haben war. So wollten es auch die Wirtschaft und alle Lobbyisten. Und dagegen war nun mal nicht anzukommen.

Aber hätte man damals nicht noch viel schneller und entschlossener die regenerativen Energien ausbauen sollen? Hätten wir heute doppelt oder dreimal soviel Wind- und Solarenergie, dann bräuchten wir all das teure und umweltfeindliche Flüssiggas nicht einzuführen, mit dem wir nach dem Wegfall der russischen Gas-Importe nun unseren Energiehunger stillen. So hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: dem Klimawandel etwas entgegengesetzt und uns unabhängig von Energie-Importen aus problematischen Herkunftsländern gemacht. Die Grünen wussten das alles schon damals. Aber auf sie hat ja keiner gehört, zumindest nicht genug.

Wäre es dann aber nicht auch schlauer gewesen, weiter auf Atomenergie zu setzen, statt mutwillig auf eine bereits vorhandene Energiequelle zu verzichten, die uns unabhängiger von zweifelhaften Energie-Importen gemacht hätte? Schließlich baut doch alle Welt die Atomenergie aus, und nur Deutschland unter Merkel hat im Alleingang den Ausstieg aus dieser Technologie vollzogen. Doch ist hier neben dem noch jahrtausendelang vor sich hin strahlenden hochgiftigen Atommüll und dem enorm CO2-emissionsbelastetendem Uranabbau (vorwiegend in Russland!) auch zu bedenken, dass laufende Atomkraftwerke natürlich erstklassige Angriffsziele in etwaigen kriegerischen Auseinandersetzungen sind – und das mitten in Europa. Nein, Merkels Atomausstieg war gewiss nicht verkehrt.

Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn man schon ab 2005 eine kommunale Wärmeplanung durchgeführt, die Energieversorgung schrittweise flächendeckend und verpflichtend auf Fernwärme (aus perspektivisch nur noch sauberen Energiequellen) und lokalen Wärmepumpen umgestellt hätte, so wie es uns die skandinavischen Länder schon in den Neunziger- und Nullerjahren vorgemacht haben? Na ganz bestimmt, denn dann würden wir heute energetisch weitaus robuster dastehen. Doch außer den Grünen, auf die ja keiner gehört hat, hatte das niemand auf dem Plan.

Vermutlich wäre es auch besser gewesen, wenn man bereits damals in viel größerem Stil die Elektromobilität gefördert und mit viel Staatsgeld wie die Chinesen den Bau von Elektro-Autos forciert hätte. Dann wäre der deutschen Automobilindustrie heute nicht wie aus heiterem Himmel ihr Geschäftsmodell weggebrochen. Aber das wollte damals nun wirklich niemand – außer den Grünen.

Doch zurück zur Zeitenwende seit 2022. Hätte man denn die Gefährlichkeit von Putin-Russland nicht schon viel früher erkennen können und rechtzeitig die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr massiv ausbauen müssen? Ja, das wäre gut gewesen. Aber das wollte damals fast niemand sehen: nicht die Regierungsparteien und schon überhaupt nicht die damals in Teilen noch pazifistischen Grünen. Nur ein ansonsten durchweg erratischer und lügnerischer US-Präsident, mit dem wir ab kommenden Januar erneut für vier weitere Jahre das zweifelhafte Vergnügen haben werden (sofern er nicht sogar noch länger im Amt bleibt, indem er die amerikanische Verafssung außer Kraft setzt), hat in diesem Punkt vollkommen recht behalten.

Aber wäre es denn nicht besser gewesen, die Ukraine schon 2008 in die NATO aufzunehmen, als Russland noch längst nicht so hochgerüstet war wie heute, so wie es der damalige US-Präsident Bush jun. damals im Sinn hatte? Dieser Plan ist seinerzeit nicht zuletzt an Kanzlerin Merkel gescheitert, die erfolgreich für mehr Rücksichtnahme auf die Interessen Russlands geworben hatte. Damit hätte man 14 Jahre später wahrscheinlich den Ukraine-Krieg vermeiden können, denn ein NATO-Land anzugreifen, das hätte Putin sich vermutlich nicht getraut. Doch die westlichen Länder hätten sich Russland auf diese Weise schon ein paar Jahre eher zum erbitterten Feind gemacht, und über die russische Reaktion auf einen ukrainischen NATO-Beitritt zu jener Zeit lässt sich nur spekulieren…

Wäre es ferner nicht auch besser gewesen, wenn die Merkel-Regierungen die zwischenzeitlich extreme Niedrigzins-Phase dazu genutzt hätten, mit langfristigen kostenlosen Krediten in großem Stil unsere darbende Infrastruktur zu sanieren? Schulen und öffentliche Gebäude, Brücken, Straßen, Schienen und die Deutsche Bahn endlich wieder auf Vordermann zu bringen? Doch, das wäre gut gewesen. Aber dafür fehlte Merkels Kabinetten und insbesondere auch dem seinerzeit zuständigen Finanzminister Schäuble leider der Weitblick. Schwarze Null und schwäbische Hausfrau waren ihnen wichtiger. Auch von einem zügigen Ausbau der Digitalisierung ist in den Merkel-Jahren zwar oft die Rede gewesen, aber sonderlich schnell vorangekommen ist man hierbei nicht gerade.

Aber last, but not least, was Merkel am häufigsten und am lautesten vorgehalten wird: Hätte sie 2015 nicht den hunderttausenden syrischen Flüchtlingen den Eintritt in unser Land verwehren sollen? Wäre “Grenzen dicht machen” nicht besser gewesen, als durch fröhliche Selfies mit den Ankömmlingen noch weiteren Nachschub von ihnen anzulocken? Hätte man durch mehr Strenge an den Außengrenzen nicht eine Reihe von späteren Amokläufen und Terror-Anschlägen durchgeknallter Islamisten verhindern können? Kann sein. Aber man hätte auch durch eine massive Jugend- und Sozialarbeitsoffensive, wie es sie heute sehr erfolgreich in Dänemark gibt, gewaltige Erfolge erzielen können, indem man die islamismusgefährdeten jungen Menschen von der Straße holt und in gemeinnützigen Projekten beschäftigt, die besser bezahlt werden als die Drogenkuriere der Organisierten und Clan-Kriminalität. Und so hätte man – auch hier wieder – zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Kriminalität und Islamismus bekämpft und zugleich langfristig die Folgen des demografischen Wandels abgemildert.

Doch hat Merkel durch ihre zu wenig strenge Migrationspolitik nicht den in höchstem Grade demokratiegefährdenden Aufstieg der rechtsextremistischen AfD mit herbeigeführt? Und als Spätfolge auch den des rechtslinkspopulistischen BSW? Teilweise wohl schon. Doch hätte es bei einer rechtzeitigen strengen Reglementierung der unsäglichen Sozialen Netzwerke, die mit freundlicher Unterstützung der omnipräsenten Putin-Trolle fortwährend ihre Lügen verbreiten, vielleicht gar nicht soweit kommen müssen. Wobei man hierzu allerdings wohl zunächst auf europäischer Ebene hätte ansetzen müssen, wie jüngst von unserem Wirtschaftsminister gefordert.

Aber war es denn nicht grob fahrlässig von Merkel, die deutsche Bevölkerung erst zu Integrationsbereitschaft und kultureller Offenheit aufzurufen und sie dann mit arabischen Messerstechern und sexuellen Belästigern in nicht ganz kleiner Zahl und dem weitverbreiteten Gefühl der Überforderung und der Fremdheit im eigenen Land alleinzulassen? Sicherlich wäre es angesichts der riesigen Herausforderungen angebracht gewesen, die Aufnahme der Flüchtlinge noch weitaus stärker mit massiven Anstrengungen in der Sozial- und Jungendarbeit – siehe oben – zu flankieren. Auch wären noch klarere Ansagen gegenüber den Neuankömmlingen für Grundwerte wie Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder gegen Homophobie und Antisemitismus von Anfang an wünschenswert gewesen. Doch werden wir angesichts des immer gravierender werdenden Fachkräftemanges – insbesondere in Ostdeutschland! – um die von Merkel völlig zu recht geforderte kulturelle Offenheit nirgendwo herumkommen, um auch nur einen Teil der offenen Stellen künftig noch besetzen zu können.

Unter dem Strich lässt sich somit zwar eine Menge an Versäumnissen während Merkels Kanzlerschaft feststellen – aber nur, wenn man die damaligen realen Machtkonstellationen außer Acht lässt. Ein Bundeskanzler (m/w/d) – und erst recht einer, der in Koalitionsregierungen stets eine Vielzahl oft entgegengesetzter Interessen zu moderieren hat – befindet sich immer auch in einem Wust von Sachzwängen und ist – anders als ein autokratischer Herrscher – eingebunden in streng geregelte Verfahrensabläufe. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Person an der Spitze des Staates dem Land Orientierung gibt, ihm die Richtung weist. Aber hat Merkel hier mit “Wir schaffen das!” und “Sie kennen mich” wirklich eine so schwache Figur abgegeben, wie es nun vielfach behauptet wird? Merkels Politikstil war eine Art Fahren auf Sicht, was auch daran liegt, dass sie in relativ unübersichtlichen Zeiten zu regieren hatte. Heute, seit der Zeitenwende, sehen wir die Dinge vielfach auch klarer, die damals – jedenfalls für die meisten – noch im Nebel lagen. Es war noch nicht die Zeit für große Entwürfe, eher für “piecemeal engineering” im Popperschen Sinne. Und darin war Angela Merkel nun einmal nicht die Schlechteste.